Читать книгу Frost & Payne - Die mechanischen Kinder Die komplette erste Staffel - Luzia Pfyl - Страница 10

7.

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Frost saß nachdenklich an ihrem Schreibtisch. Die Füße hatte sie auf den Tisch gelegt, der Bleistift in ihrer Hand wippte nervös auf und ab. Der Foliant lag vor ihr auf dem Tisch. Bei Tageslicht konnte man deutlich sehen, wie alt er war. Die von Hand zusammengewobenen Seiten waren lose, auf dem Rücken schauten Fäden heraus, der Einband aus Leder war abgewetzt. Auf der Vorderseite war ein Buddha abgebildet.

Es war ein merkwürdiges Gefühl, mit dem Folianten ein Stück Familiengeschichte vor sich auf dem Tisch zu haben. Natürlich war es nicht ihre leibliche Familie, doch für Frost war Madame Yueh die Frau, die sie von der Straße geholt und in ihre Familie integriert hatte, als wäre sie ihre leibliche Tochter.

Madame Yueh würde sehr viel tun, um den Folianten wiederzubekommen. Deswegen hatte sie auch sie, Frost, darum gebeten, ihn Bingham zu stehlen. Michael hatte davon gesprochen, dass es noch eine andere Partei gab, die an dem Buch interessiert war. Aber wer? Bisher war ihr niemand in die Quere gekommen oder hatte sich bei ihr nach dem Buch erkundigt.

Und dann war da noch die Sache mit dem Türschloss. Nachdenklich betrachtete Frost ihre rechte Hand. Normalerweise konnte sie jedes mechanische Schloss aus Metall öffnen. Noch nie hatte sich eines gewehrt. Sie hatte deutlich gesehen, dass es nicht aus Holz gewesen war, sondern aus gewöhnlichem Metall. Oder?

Frost ächzte genervt auf und schwang die Beine vom Tisch. Sie musste sich beschäftigen. Alles Grübeln half ihr nicht weiter, wenn ihre Gedanken in einer Sackgasse steckten.

Kurz entschlossen ging sie in die Küche, wo sie sofort von einer Dampfwolke eingenebelt wurde. »Helen?«, rief sie und wedelte mit der Hand vor dem Gesicht. Es roch nach Kernseife und Rosenwasser.

»Ich bin hier, Miss«, kam es aus dem hinteren Teil des Raumes.

Frost umrundete den Arbeitstisch. »Ich dachte, ich helfe dir mit der Wäsche.« Es war Waschtag, und Helen war bereits den ganzen Morgen damit beschäftigt, Frosts Kleider in einem riesigen Zeuber heißen Wassers zu schrubben. »Ich muss meine Hände beschäftigen.«

»Das ist nicht nötig, Miss, ich komme schon zurecht.« Helen lächelte unbeholfen, die Arme bis zum Ellbogen im Wasser. Ihre blonden Locken klebten nass an ihrem Gesicht, ihre Wangen waren gerötet, und vom vielen Wasserdampf war ihre Kleidung klamm.

»Keine falsche Bescheidenheit. Sag mir, was ich tun soll.«

Helen richtete sich auf und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Sie schaute Frost prüfend an, dann lächelte sie wieder. »Also gut. Die Wäsche dort drüben ist fertig gewaschen, aber sie muss noch ausgewrungen und aufgehängt werden.«

Frost nickte und zog einen zweiten Holzzuber zu sich heran. Über dem Zuber hing eine Winde mit zwei Holzwalzen. Dann ging sie zum Wäscheberg und zog wahllos ein Kleidungsstück daraus hervor. Sie hatte noch nie selbst Wäsche auswringen müssen, denn bei Madame Yueh gab es für alles ein Dienstmädchen. Na, das konnte wohl nicht so schwer sein.

Eine halbe Stunde später glühte ihr Gesicht, und die Haare klebten an ihrer Stirn. »Warum, zur Hölle, hat man nicht ein Gerät entwickelt, dass das alles von selbst macht?«, murmelte sie fluchend vor sich hin. »Ständig stehen neue Erfindungen in der Zeitung, Aether-Transmitter, Aether-Kommunikatoren, neue Antriebe für Luftschiffe und was weiß ich noch, aber keiner erfindet eine Maschine, die Wäsche wäscht.«

»Die Männer machen die Erfindungen, Miss«, kam es schüchtern, aber mit fester Stimme von Helen, die soeben ein Fläschchen Rosenwasser in den Zuber leerte. »Männer wissen nicht, wie man Wäsche wäscht. Das ist Frauenarbeit.«

Frost schaute auf und hielt verwundert inne. Sie sah Helen zu, wie sie eines von Frosts Nachthemden auf dem Waschbrett schrubbte. Ihre Hände waren rot und aufgeweicht. Eine Welle aus Zuneigung überkam sie. »Danke, Helen«, sagte sie.

»Wofür, Miss?«

»Dass meine Nachthemden immer nach einem Potpourri riechen.«

Helen hörte auf zu schrubben und sah Frost irritiert an. Dann registrierte sie Frosts Grinsen und fing an zu lachen.

Nachdem endlich alle Wäsche auf den Leinen in der Küche hing – draußen im Hinterhof wären ihre Kleider innerhalb von Minuten eingefroren –, setzte sich Frost zurück an den Schreibtisch. Die harte Arbeit hatte ihre Lebensgeister geweckt.

Sie wollte gerade den Folianten aufschlagen, um ihn sich genauer anzusehen, als sie eine vertraute Gestalt über die Straße kommen sah.

»Scheiße«, brummte sie. Michael. Ein Teil von ihr freute sich zwar, ihn zu sehen, der andere, bei Weitem dominantere Teil jedoch riet ihr, das Buch zu verstecken. Was sie auch tat. Hastig wickelte sie es in ein paar Lappen und legte es gerade in eine der Schubladen des Schreibtischs, als das Glöckchen über der Tür klingelte und mit Michael ein Schwall eisiger Luft ins Büro strömte.

»Störe ich?«, fragte er, ohne Frost zu grüßen, und schaute sie fragend an. Hatte er etwa ihre hastigen Bewegungen bemerkt?

»Dir auch einen guten Tag«, gab Frost gespielt beleidigt zurück und grinste ihn dann an. »Dich so schnell wieder in meinem Büro zu sehen, hätte ich nicht gedacht. Ist es diesmal ein Freundschaftsbesuch?«

Michael nahm den Hut ab und setzte sich Frost gegenüber. Er gab sich nonchalant, doch Frost konnte die innere Anspannung, unter der er stand, deutlich sehen. Er konnte ihr kaum etwas verbergen, dafür kannten sie sich schon viel zu lange.

»Nicht direkt«, antwortete er ihr und kam ohne Vorwarnung zum Punkt. »Konntest du das Buch bereits an dich bringen?«

Frost blinzelte überrascht. In ihrer Brust brannte ein heißer Knoten, und ihre Hand berührte unbewusst die Ecke der Schublade, in der das Buch lag. Sie hatte es seit zwei Tagen in ihrem Besitz. »Nein, noch nicht. Ich habe noch anderes zu tun, weißt du?« Sie betonte den letzten Satz vorwurfsvoll. Sie hatte Michael noch nie gut anlügen können. »Warum die Eile?«

Michael zuckte mit den Schultern und gab sich unbekümmert. »Madame Yueh möchte wohl wissen, ob du immer noch so gut bist wie vor einem halben Jahr. Wann hast du geplant, es dir zu holen?«

»Bald.« Frost runzelte die Stirn. Michael schaute sie lange prüfend an, doch Frost hielt seinem Blick stand. »Ich habe meine Arbeit bisher noch immer zu Madame Yuehs Zufriedenheit ausgeführt. Warum sollte es diesmal anders sein?«

»Ich führe nur aus, was mir aufgetragen worden ist. Kein Grund, mich anzufahren.«

Frost verschränkte die Arme. »Sie bekommt das Buch, sobald ich es habe. Eine Frage, Michael: Was ist so wertvoll an diesem Folianten?«

»Ich habe dir doch gesagt, dass er seit Generationen im Besitz der Yuehs ist«, antwortete Michael ausweichend. »Für Madame Yueh ist das Buch wertvoll, Lydia. Das sollte dir als Antwort reichen.« Er setzte den Hut wieder auf. Als er in der Tür stand, drehte er sich noch einmal um und schaute Frost lange an. Etwas, das Frost nicht klar deuten konnte, hatte sich in seine Augen geschlichen. »Du weißt, wo du mich findest. Und es wäre besser, wenn du das Buch bald lieferst.«

War das ein gut gemeinter Ratschlag oder eine versteckte Drohung? Als Michael gegangen war, nahm Frost das Buch aus der Schublade und betrachtete es nachdenklich. Eine Idee breitete sich in ihrem Hinterkopf aus. Aber dafür brauchte sie professionelle Hilfe von einem Experten.

»Helen, ich gehe noch einmal aus«, rief Frost durch die Wohnung und griff nach ihrem Mantel. Das Buch lag gut geschützt in ihrer Umhängetasche. »Sollte wider Erwarten jemand meine Dienste in Anspruch nehmen wollen, sag ihnen, sie sollen morgen wiederkommen.«

Helen streckte den Kopf aus der Küche. »Und wenn es wichtig ist, Miss?«

»Dann sollen sie warten, wenn sie warten wollen. Ich bin bald zurück.« Helen nickte, und Frost schloss die Tür hinter sich.

Sie musste wissen, wie wertvoll dieses Buch wirklich war. Vielleicht war es der Schlüssel dazu, dass sie sich endgültig von Madame Yueh und der Organisation lösen konnte. Sie wusste, wie sehr ihre Ziehmutter Druckmittel verachtete, doch Frost hatte während all der Jahre in der Organisation genug gelernt, um nun etwas gegen die Patriarchin in der Hand zu halten.

Und Frost wusste genau, wer ihr dabei helfen konnte. Zum Glück war das Britische Museum nicht weit.

»Miss Frost?«

Frost hielt inne und drehte sich um. Cecilia Payne kam auf sie zu. »Mrs. Payne, wie geht es Ihnen? Ich hatte Sie nicht erkannt, bitte entschuldigen Sie.« Sie war tatsächlich so in Gedanken gewesen, dass sie an der Frau vorbeigegangen war.

Mrs. Payne lächelte kurz. »Konnten Sie schon etwas herausfinden?«

Frost hätte sich beinahe mit der Hand an die Stirn geklatscht. Verdammt, den Pinkerton hatte sie vollkommen vergessen. Den musste sie ja auch noch finden. »Noch nicht, Mrs. Payne«, erwiderte sie. »Aber seien Sie versichert, dass ich mich sofort bei Ihnen melde, sollte ich Ihren Mann finden.« Sie hoffte, dass sie zuversichtlich genug klang.

Mrs. Payne nickte wieder. »Ich will Sie nicht aufhalten, Miss Frost.«

»Oh, keineswegs.« Sie verabschiedeten sich, und Frost machte sich etwas zerknirschter als noch vor einigen Minuten wieder auf den Weg. Sie dachte an das Lichtbild des Pinkertons, das auf ihrem Schreibtisch lag. Wie sollte sie diesen Mann unter all den Männern in dieser Stadt nur finden? Aber sie hatte den Auftrag angenommen. Sie brauchte das Geld.

Eines nach dem anderen, ermahnte sie sich, als sie eine belebte Kreuzung überquerte. Erst musste sie zu Jonah, damit er sich das Buch anschaute.

Die eisige Winterluft drückte den Smog und die Asche von Hunderten von Kohleöfen und rauchenden Kaminen hinunter in die Häuserschluchten. Die Menschen umwickelten ihre Gesichter mit Schals und Tüchern, um sich vor dem Smog zu schützen. Frost tat es ihnen gleich und zog ihren Schal über Mund und Nase. Als sie um eine Ecke bog, hielt sie erschrocken inne. Vor ihr türmte sich ein mechanisches Ungeheuer aus Metall in die Höhe. Seine dicken Arme bogen sich laut quietschend, und aus zwei Abgasrohren, die sich auf seinem Rücken befanden, schoss schwarzer Rauch in die Luft. Der Boden unter Frosts Füßen bebte, als das Ungetüm sich durch die aufgerissene Straße wühlte.

Bauarbeiten, schoss es Frost durch den Kopf, als sie die gewaltige Maschine anstarrte. Die Straße, die sie eigentlich auf direktem Weg zum Museum geführt hätte, war abgesperrt. Ein Konstrukt aus wackelig aussehenden Treppen und Metallplanken schraubte sich hinter Frost in die Höhe und weit hinter der Baustelle wieder hinunter. Eine schnellere Option für Passanten, die nicht den langen Umweg nehmen wollten.

Frost stieg die Treppen hinauf und ging sicheren Schrittes über die instabilen Metallplanken. Das Geländer stellte sich als noch instabiler heraus – Frost wollte sich nicht darauf verlassen, dass dieses im Ernstfall halten würde. Unter ihr wühlte sich die gewaltige Maschine dröhnend durch das halb gefrorene Erdreich und beförderte mit ihren enormen Schaufelhänden Tonnen von Dreck und Schutt ans Tageslicht. Der dichte Rauch raubte Frost beinahe den Atem, der Lärm betäubte ihre Sinne. Die Arbeiter, die sich weit unter der erhöhten Passage befanden, waren so sehr mit Kohle und Erde bedeckt, dass man sie kaum als Menschen erkennen konnte.

Frost war froh, als sie endlich wieder sicheres Pflaster unter sich hatte, und eilte die Straße weiter. Bald darauf konnte sie in der Ferne die hoch aufragende Fassade des Museums sehen. Über der gläsernen Kuppel schwebten zwei kleine Zeppeline. Durch den Smog konnte Frost die Wappen der beiden Adelshäuser erkennen, die auf die Hüllen gemalt waren. Das Museum hatte also hohen Besuch.

Eine Straßenbahn entlud an der Station vor dem Museum eine Ladung Besucher. Frost mischte sich unter sie und betrat zwischen einem jungen Ehepaar und einer Schar Schulkinder den Säulengang. In der riesigen Eingangshalle musste sie, wie jedes Mal, kurz innehalten und zur Glaskuppel hinaufschauen. Das Licht fiel durch die Scheiben zwischen den feinen Stahlträgern.

Im Museum war es warm, und Frost löste den Schal von ihrem Gesicht. Die Schulkinder kreischten aufgeregt durcheinander, doch als der Lehrer sie laut ermahnte, stellten sie sich in zwei Reihen artig vor ihm auf. Frost musste schmunzeln. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, dass sie damals ebenso aufgeregt gewesen war, als sie das Museum zum ersten Mal in Begleitung von Madame Yueh besucht hatte.

»Guten Tag, Madam, und herzlich willkommen im Britischen Museum. Wie kann ich Ihnen zu Diensten sein?«

Frost wandte sich von den Schulkindern ab und sah sich einem der Servicedroiden gegenüber. Er war gänzlich mit Messing verkleidet und ähnelte einem Bierfass, dem man einen halbwegs menschlichen Kopf aufgesetzt hatte. Er hatte runde Augen, die einer Fliegerbrille ähnelten, und senkrechte Schlitze im Metall, die einen Mund ersetzten. Unter seinen Stummelbeinen befanden sich Rollen, mit denen er sich fortbewegte. Seine Bewegungen waren ungelenk und steif.

Frost mochte diese Servicedroiden nicht sonderlich. Man hatte versucht, ihnen ein menschliches Aussehen zu verleihen, doch Frost waren sie nur unheimlich. Selbst die Stimme, die man den Droiden gegeben hatte, war blechern und abgehackt.

»Ich möchte zu Dr. Jonah Neville«, sagte sie und betrachtete die kleinen Blinklichter, die nun hinter den Fliegergläsern aufleuchteten, während der Droide ihre Worte verarbeitete.

»Werden Sie erwartet, Madam?«, blechte er ihr entgegen.

»Nein. Dr. Neville ist ein Freund.« Frost hatte eine vage Ahnung, dass dem Droiden die Bedeutung des Wortes Freund unbekannt war. Hinter ihr marschierten die Schulkinder los in Richtung ägyptische Abteilung.

»Bitte, folgen Sie mir, Madam«, antwortete der Droide nach einer halben Ewigkeit. Frost verdrehte die Augen, als er sich ruckelnd um die eigene Achse drehte und sich dann quälend langsam in Bewegung setzte.

»Vielen Dank, aber ich kenne den Weg. Außerdem bin ich ohne dich schneller.«

»Vielen Dank für Ihren Besuch im Britischen Museum. Neben dem Eingang finden Sie eine Kollekte für die Ausgrabung in Mesopotamien. Wir freuen uns auf Ihren nächsten Besuch.«

Frost ächzte leise auf, als sie den Servicedroiden stehen ließ und durch die Halle ging. Fortschritt und Technik schön und gut, aber diese Droiden gefielen ihr wirklich nicht. Sie zog die Kommunikation zwischen zwei menschlichen Wesen definitiv vor.

Mit weiten Schritten ging sie an den Informationstresen und am Souvenirladen vorbei nach rechts in die King’s Library. Die Bibliothek versetzte sie immer wieder in Staunen. Die meterhohen Wände waren mit langen Reihen von Regalen bedeckt, die wiederum lange Reihen von alten und uralten Büchern enthielten. Hohe Leitern lehnten an ihnen. Hoch über Frost befand sich die mit reichem Stuck und Blattgold verzierte Decke, ausladende Kronleuchter an eisernen Ketten hüllten die Halle in ein warmes Aetherlicht.

Frosts Absätze klackten auf dem Marmorboden, als sie die Mitte der Halle durchschritt. Zu beiden Seiten befanden sich Schreibpulte und Lesetische, an denen Gelehrte und Studenten saßen. Mehrere Servicedroiden rollten zwischen den Tischen und Regalen umher, die mechanischen Arme beladen mit dicken Büchern.

An einem der Tische fand sie den Mann, den sie suchte. »Jonah!«

Der etwas dickliche Mann schaute auf. Als er Frost auf sich zukommen sah, zuckte er zusammen und machte ein Geräusch, das sich wie das Quieken einer Maus anhörte. Hastig fing er an, seine Papiere zusammenzupacken und sah dabei aus, als wäre er am liebsten geflohen.

»Hallo, Jonah«, sagte Frost noch einmal, diesmal lächelnd, und stellte sich dem Mann in den Weg. Er hatte mausgraue Haare und trug eine runde Brille auf der Nase, die ihm ständig herunterrutschte. »Ich wusste doch, dass ich Sie hier finde.«

»Miss Frost!«, rief Jonah Neville aus und presste das Buch, das er soeben an sich genommen hatte, fest an seine Brust, als wollte er sich damit schützen. »Was für eine Überraschung, Sie hier zu sehen.« Seine Stimme bebte leicht.

»In der Tat.« Frost legte den Kopf schief und musste schmunzeln. Jonah hatte immer noch Angst vor ihr. Sie musste die Sache behutsam angehen. »Viel zu tun?« Frost deutete mit dem Kinn auf die Papiere auf dem Tisch.

Neville nickte nervös. »Äh, ja, ja, neue Schriftstücke von Königin Elisabeth I. wurden entdeckt. Ich prüfe sie auf ihre Echtheit.« Er warf Frost einen schnellen Blick zu. »Darf ich fragen, was Sie hier machen, Miss Frost?«

»Ich glaube, ich habe etwas, das Sie sehr interessieren dürfte.«

Neville wich einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf. »Ich habe sehr viel zu tun, Miss Frost. Ich habe leider keine Zeit für Ihre …«

»Es ist ein altes Manuskript aus Tibet.« Frost ließ die Worte kurz wirken. Neville hielt inne und senkte das Buch ein kleines bisschen. Sie hatte ihn an der Angel.

»Wie alt?«

»Sehr alt, glaube ich. Aber ich bin keine Expertin, was solche Sachen angeht.«

Neville befeuchtete sich die Lippen. »Darf ich es sehen?«

Innerlich triumphierend holte Frost den Folianten aus ihrer Umhängetasche, legte ihn auf den Tisch und löste behutsam die Stofflappen, in die sie ihn gewickelt hatte. Neville pfiff leise durch die Zähne und legte sein Buch beiseite. Er rückte seine Brille zurecht und beugte sich über den Folianten.

»Tibetisch, in der Tat. Jedenfalls die Zeichnung auf dem Umschlag. Darf ich?«, fragte Neville und schlug das Buch mit den Fingerspitzen vorsichtig auf, als Frost nickte. »Oh«, sagte er nach einer Weile und mehrmaligem Umblättern.

»Was, oh?«

»Dies ist keineswegs ein tibetisches Manuskript, Miss Frost«, sagte Neville und richtete sich auf. »Dieses Buch stammt aus der Song-Dynastie, wenn ich mich nicht irre.«

Frost hob überrascht die Augenbrauen. Damit hätte sie nicht gerechnet. Auf dem Umschlag befanden sich eindeutig tibetische Kaligraphie und eine Zeichnung nach tibetischer Art. Die Song-Dynastie, 960 bis 1279, Blütezeit der chinesischen Klassik. Abgelöst von der Yuan-Dynastie mit Kubilay Khan. Frosts Gedanken begannen zu kreisen.

»Und ich habe mich schon gewundert, warum Madame Yueh ein tibetisches Buch besitzt«, murmelte sie und starrte auf die kunstvoll bedruckten Seiten. Die Yueh-Familie waren Han-Chinesen durch und durch. »Aber warum hat es einen tibetischen Einband?«

Neville zuckte zusammen und gab wieder ein Mäusequieken von sich. »Haben Sie gerade Madame Yueh gesagt? Die Madame Yueh? Die Seven Dragons?«, zischte er ängstlich und starrte Frost mit weit aufgerissenen Augen an. Frost nickte, worauf Neville wieder in hastige Eile verfiel. »Damit will ich nichts zu tun haben, Miss Frost! Warum haben Sie dieses Buch zu mir gebracht? Ich will wahrlich nichts damit zu tun haben!«

»Jonah, so beruhigen Sie sich doch«, versuchte es Frost, doch er schien ihr nicht zuzuhören. Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Muss ich Sie daran erinnern, dass Sie mir einen Gefallen schulden? Ich habe Ihren Arsch gerettet«, sagte sie eindringlich.

Einige andere Besucher und Gelehrte in der Bibliothek hoben die Köpfe und schauten missbilligend zu Frost und Neville. Dieser ließ nervös den Blick schweifen. »Das sagen Sie jedes Mal, wenn Sie etwas von mir verlangen, Miss Frost!«

Das stimmte. Frost verzog den Mundwinkel zu einem schiefen Schmunzeln, während sie Neville musterte. Vor ein paar Jahren hatte sie dafür gesorgt, dass er von Scotland Yard als Zeuge gegen die Organisation fallen gelassen wurde. Neville war zur dümmsten Zeit am für ihn unglücklichsten Ort gewesen und hatte gesehen, wie eine Ladung Opium angeliefert wurde. Oder hatte zumindest geglaubt, dies gesehen zu haben. In jener Nacht war es sehr neblig gewesen. Zu seinem Glück hatte nur Frost sein Gesicht deutlich erkannt, als er weggerannt war. Und als Frost herausgefunden hatte, dass er ein harmloser Bücherwurm und Professor war, hatte sie einen Deal mit ihm vereinbart. Er zog seine Aussage bei der Polizei zurück, und sie half ihm dabei, die Organisation von ihm abzulenken. Hätte sie das nicht gemacht, wäre Neville nicht lange am Leben geblieben. Die Organisation verwischte gerne alle ihre Spuren.

»Tatsächlich? Das tut mir leid. Ja, das Buch gehört Madame Yueh. Sie hat mich gebeten, es von einem Experten untersuchen zu lassen, weil sie es restaurieren lassen will«, log sie kurzerhand. »Für die Versicherung, Sie verstehen.«

»Warum haben Sie das nicht gleich gesagt, Miss Frost?« Neville brachte ein nervöses Lachen zustande. »Ich würde es mir gerne noch einmal anschauen.«

Frost trat vom Tisch zurück und verschränkte zufrieden die Arme unter der Brust. Na bitte, geht doch. »Wenn der Foliant aus der Song-Dynastie stammt«, fragte sie, »warum hat er dann einen tibetischen Einband? Haben Sie so etwas schon einmal gesehen?«

»Eine interessante Frage, Miss Frost, sehr interessant.« Neville war wieder dabei, sich die einzelnen Buchseiten genau anzusehen und berührte dabei mit der Nasenspitze fast das alte Papier. »Ich bin Experte für Alt-Englisch und Angelsächsisch. Latein, Alt-Griechisch und Hebräisch. Ich kann diese chinesischen Zeichen leider nicht entziffern.«

Frost kniff die Lippen zusammen. Sie hatte versucht, im Buch zu lesen, aber entweder war die Schrift zu alt und die Zeichen hatten sich in den letzten sechshundert Jahren verändert – sie konnte einzelne Zeichen lesen, ja, aber sie standen in keinerlei Zusammenhang mit dem Rest –, oder der Text war in einer Art Code verfasst.

Nachdenklich ließ sie den Blick durch die Halle schweifen. Als sich ihr Blick mit dem eines asiatischen Mannes traf, begannen ihre Alarmglocken zu schrillen. Einen Tisch weiter saß noch einer. Zwei weitere Chinesen gingen langsam an den Regalen entlang und gaben vor, nach einem Buch zu suchen.

Ein ungutes Gefühl knotete sich in ihrem Magen zusammen. Waren die Männer ihr etwa gefolgt? Hatte Madame Yueh sie geschickt, um den Folianten an sich zu bringen? Vielleicht hatte Michael ihre Lüge doch durchschaut. Eines jedoch war sicher – sie musste von hier verschwinden.

»Was schätzen Sie, Jonah, ist es wertvoll?«, fragte sie und gab sich betont unbekümmert.

Neville blickte auf und fixierte Frost über den Rand seiner Brille. »Abgesehen davon, dass es sich um ein offensichtlich sehr seltenes Manuskript aus der Song-Dynastie handelt – mit einem tibetischen Einband, der allein schon eine Sensation darstellt? Ich würde sagen wertvoll, sehr wertvoll.«

»Gut, das ist schon alles, was ich wissen wollte. Die Versicherung wird sich freuen.« So unauffällig wie möglich schlug sie den Folianten in die Tücher ein und nahm ihn wieder an sich. »Wären Sie so lieb und würden mir den Hinterausgang zeigen, Jonah?«

Alarmiert flackerte Nevilles Blick auf. »Hinterausgang? Sind sie hier?«

Frost nahm seinen Arm und ging mit ihm gemäßigten Schrittes durch die Halle. Hinter sich hörte sie das Rücken zweier Stühle. »Bleiben Sie ganz ruhig.«

»Sie haben die Organisation direkt hierhergeführt«, zischte Neville ängstlich und schaute hastig über die Schulter zurück. Frost hätte ihm am liebsten in die Seite geboxt. Neville war ein Nervenbündel.

Sie erreichten das hintere Ende der Halle, und Neville öffnete eine Seitentür, die zu den privaten Studienräumen führte. »Geradeaus bis zum Ende des Ganges, dann die zweite Tür rechts.«

»Danke, Jonah«, sagte Frost und steckte das Buch in ihre Tasche. »Verstecken Sie sich in einem der Räume hier, und beeilen Sie sich. Sie sind hinter mir her, nicht hinter Ihnen.« Sie hoffte inständig, dass das der Wahrheit entsprach.

Neville nickte und verschwand in einem der Zimmer. Frost schaute über die Schulter. Zwei der vier Männer hatten das Ende der Halle beinahe erreicht. Als sie Frost im Durchgang sahen, beschleunigten sie ihre Schritte.

Frost verlor keine weitere Sekunde und drehte sich um. Mit schnellen Schritten eilte sie den breiten Flur hinab.

»Stehen bleiben!«, rief einer der Männer auf Chinesisch.

Frost bog um die Ecke, entdeckte die richtige Tür und zog daran. »Verdammt!« Abgeschlossen. Schnell ging sie in die Hocke und drückte die rechte Handfläche an das Schloss. Hinter ihr hörte sie die immer schneller werdenden Schritte. Das Schloss schnappte auf, und Frost riss die Tür auf. Eisige Luft umhüllte sie, als sie das Britische Museum verließ.

Dann begann sie zu rennen.

Frost & Payne - Die mechanischen Kinder  Die komplette erste Staffel

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