Читать книгу Frost & Payne - Die mechanischen Kinder Die komplette erste Staffel - Luzia Pfyl - Страница 7

4.

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Frost betrachtete die Kleider, die ausgelegt auf ihrem Bett lagen. Was zog man an, wenn man gleich in das Haus eines reichen Mannes einbrach? Sie nahm eine chinesisch geschnittene Bluse in die Hände und runzelte die Stirn. Auf dem Rücken prangte das gestickte Zeichen der Organisation. Nein, das konnte sie nicht anziehen. Diese Kleider hatte sie immer dann getragen, wenn sie einen Auftrag für die Organisation oder für Madame Yueh ausgeführt hatte – was im Endeffekt das Gleiche war. Sie wusste noch sehr gut, wie es sich angefühlt hatte, diese Kleider zu tragen. Es hatte Zeiten gegeben, da hatte es sie mit Stolz erfüllt, diese Zeichen auf ihrem Rücken zu haben. Die Menschen auf der Straße waren ihr ehrfürchtig aus dem Weg gegangen. In gewissen Vierteln Londons stellte sich niemand freiwillig in den Weg der Organisation. Außerdem sah sie mit diesen Kleidern wie eine Ninja aus. Viel zu auffällig.

Am Ende entschied sie sich für schlichte dunkle Stücke. Ein paar Wollhosen, ein schnörkelloses Korsett, eine Bluse und den langen Wollmantel. Damit würde sie in einer Menschenmenge kaum auffallen, und die Sachen waren nicht allzu sperrig, so dass sie im Notfall klettern und rennen konnte.

Frost war gerade dabei, die Stiefel zu schnüren, als ihre Sicht verschwamm. Sie schüttelte den Kopf und schloss kurz die Augen, doch die unklare Sicht blieb. Lichtpunkte tanzten nun zusätzlich vor ihren Augen. Ihre Ohren begannen zu klingeln, und sie bekam kaum noch Luft. Es fühlte sich an, als wäre ihr Brustkorb in einen Schraubstock gepresst.

Oh nein, oh nein, dachte sie noch, dann verlor sie das Gleichgewicht und sackte neben dem Bett zusammen. Durch das Klingeln und das Rauschen in ihren Ohren fühlte sie sich wie in Watte gepackt. Ihre Lungen schrien nach Luft. Mit klammen Händen tastete Frost nach der Kette, die sie immer um den Hals trug. Ächzend stemmte sie sich hoch und stützte sich an der Wand ab.

Spiegel, sie brauchte den Spiegel.

Ihre Lungen rebellierten, ihr Brustkorb drohte zu zerspringen. Ihr Hirn reagierte mit blanker Panik. Mit letzter Kraft klammerte sie sich ans Waschbecken und zog an der Kette. Ein Schlüssel aus reinem Silber hing an ihr. Sie bugsierte die Kette über den Kopf. Mit quälend langsamen Bewegungen zog sie Korsett, Bluse und das Unterhemd aus, wobei sie keuchend nach Luft schnappte. Ihre Lungen verweigerten den Dienst. Sie drehte sich mit dem Rücken zum Spiegel und schaute über die Schulter. Zwischen den Schulterblättern befand sich eine Metallplatte, gerade so groß wie ein Handteller, dicht verwachsen mit Frosts Haut. In der Mitte dieser Platte ein Schlüsselloch. Wenn sie sich fest genug streckte, konnte sie das Schlüsselloch gerade so erreichen. Es genügte, um den Schlüssel einzuführen und ihr Herz wieder aufzuziehen.

Als sich ihr Puls normalisierte und sich der Schraubstock von ihrem Brustkorb löste, ließ Frost sich verschwitzt und erschöpft vor dem Waschbecken zu Boden sinken. Den Schlüssel hielt sie fest umklammert.

»Verdammt, das war knapp«, murmelte sie und strich sich die feuchten Haare aus dem Gesicht. Es war ihr seit sehr langer Zeit nicht mehr passiert, dass sie vergessen hatte, ihr Herz aufzuziehen. Solch ein dummer Fehler durfte ihr nicht mehr unterlaufen.

Nach ein paar Minuten fühlte sie sich kräftig genug, um sich fertig anzuziehen. Als sie sich im Spiegel betrachtete, um ihre Haare neu zu stecken, sah sie, dass der Anfall nicht ganz spurlos an ihr vorbeigegangen war. Ihre Haut war bleich und ein wenig wächsern, ihre Augen waren rot umrandet. Ihre Hände bebten immer noch, und sie fühlte sich, als hätte sie eben einen Marathon absolviert und wäre anschließend von einer Dampfwalze überrollt worden.

Unten auf der Straße schlug sie den Kragen ihres Mantels hoch und steckte die Hände tief in die Taschen. Es hatte wieder angefangen zu schneien. Ihre weiten Wollhosen waren nach wenigen Metern am Saum vollgesogen mit eiskaltem Schnee. Als Frost um die Ecke bog, hörte sie auch schon das Bimmeln der Straßenbahn. Sie musste rennen, um das Tram zu erwischen, was sie wegen des Anfalls mehr anstrengte, als ihr lieb war.

Im West End wechselte sie zwischen hell erleuchteten Theatern und Restaurants die Linie. In Belgravia war es stiller. Es war kurz vor zehn Uhr abends, und die meisten Bewohner waren entweder im West End, in ihren Clubs oder bereits zuhause. Niemand war auf der Straße zu sehen. Frost stampfte durch den Schnee, der unter ihren Stiefeln leicht knirschte. Vor dem Haus mit der Nummer zehn blieb sie stehen und schaute zu den dunklen Fenstern hinauf. Ihr Atem bildete neblige Wölkchen.

Der Butler war bestimmt noch auf und wartete auf die Rückkehr seines Herrn. Er würde sich in der Küche aufhalten, Tee trinken und Zeitung lesen. Die Hintertür fiel demnach aus. Also die Vordertür.

Mit raschen Schritten überquerte Frost die Straße und stieg die Treppe hinauf. Sie warf einen Blick auf die Taschenuhr. Fünf Minuten, länger durfte sie sich nicht im Haus aufhalten.

Als sie den Handschuh auszog, war sie vollkommen konzentriert. Kaum hatte sie die Handfläche auf das Schloss gelegt, spürte sie das warme Kribbeln, das durch ihre Hand schoss, sie konnte regelrecht sehen, wie sich die filigranen Einzelteile des Schlosses bewegten, bis ein leises Klicken ertönte. Ein zufriedenes Lächeln huschte über ihr Gesicht.

Frost zog den Handschuh wieder an und drückte die schwere Eichentür auf. So leise sie konnte, schloss sie die Tür hinter sich und blieb lauschend im Foyer stehen. Nur das Aetherlicht der Straßenlaternen fiel durch die hohen Fenster, und rechts von ihr flackerte der orange Schimmer eines Feuers. Es roch nach Holzpolitur und nasser Wolle. Irgendwo zu ihrer Rechten tickte eine Pendeluhr, vermutlich im Salon, dessen Flügeltür weit offenstand.

Fünf Minuten, ermahnte sie sich und spähte in den Salon. Das Feuer im Kamin war beinahe ganz heruntergebrannt und bestand fast nur noch aus glühenden Kohlen. Vermutlich würde der Butler oder eines der Hausmädchen es frisch in Gang bringen, sobald der Hausherr zurück war. Der Salon war völlig uninteressant, also wandte Frost sich der geschwungenen Treppe zu, die in die oberen Stockwerke führte.

Ein dicker Teppich schluckte ihre Schritte. Frost ging an einer Reihe verschlossener Türen entlang. Hinter welcher lag die Bibliothek? Und hinter welcher Mr. Binghams Arbeitszimmer? Vielleicht hätte sie sich doch noch in der Stadtverwaltung eine Kopie der Blaupause des Hauses holen sollen, auch wenn sie dafür Bestechungsgeld hätte bezahlen müssen; Geld, dass sie momentan nicht hatte.

Wahllos öffnete sie eine der Türen und spähte hinein. Ein Schlafzimmer, feminin eingerichtet, aber das Bett war leer. Es roch nach abgestandener Luft, Staub kitzelte in Frosts Nase. Entweder war Bingham Witwer, oder dieses Zimmer hatte seiner Tochter gehört, die nun verheiratet war. Jedenfalls hatte schon lange niemand mehr in diesem Bett geschlafen.

Bei der zweiten Tür hatte Frost mehr Glück. Es war das Arbeitszimmer. Hastig, aber so leise wie möglich schloss sie die Tür hinter sich und machte sich an die Arbeit. Die Aetherlampe auf dem massiven Schreibtisch drehte sie gerade so viel auf, dass sie besser sehen konnte. In rascher Abfolge öffnete und schloss sie Schubladen, Kabinette und Aktenschränke, doch nichts weckte ihr Interesse.

Frost schnaubte und stemmte die Fäuste in die Taille. Nichts, hier fand sie rein gar nichts. Dann fiel ihr Blick auf das großformatige Portrait von Königin Victoria, das hinter dem Schreibtisch an der Wand hing. Vorsichtig linste sie dahinter und hätte beinahe einen freudigen Ausruf gemacht. Hinter dem Bild war ein Tresor verborgen.

Drei Minuten.

Frost nahm das schwere Bild von der Wand und lehnte es vorsichtig gegen den Schreibtisch. Wieder zog sie den rechten Handschuh aus und legte die Handfläche auf die kalte Stahlplatte. Das komplizierte Zahlenschloss antwortete ihr beinahe sofort, und sie spürte, wie die Teilchen und Zahnräder sich in Bewegung setzten. Die runde Zahlenkonsole neben ihrer Hand drehte sich nach rechts, klick, nach links, klick, bis das Schloss arretierte. Frost entfernte die Hand und zog am Griff.

Die Enttäuschung stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Verdammt«, murmelte sie und wühlte durch die wenigen Papiere, die sich im Tresor befanden. Ein Bündel Briefe, Aktien, eine Geburtsurkunde. Nichts. Frustriert schloss sie den Tresor ab und hängte Ihre Majestät wieder an ihren Platz.

Zwei Türen weiter befand sich die Bibliothek. Bewundernd ließ Frost ihre Finger über die alten Buchrücken gleiten. Aristoteles, Homer, Kopernikus, Voltaire. Sie liebte Bibliotheken. Der Geruch von Büchern und die wohlige Stille weckten ihn ihr jedes Mal ein Gefühl von Nachhausekommen.

Aber für Sentimentalitäten hatte sie keine Zeit. Vor einem der hohen Fenster befand sich eine gläserne Vitrine. »Na bitte, geht doch.«

Der Foliant lag geschlossen auf einer Stütze aus Holz. Die geschwungenen Linien des tibetischen Skripts leuchteten in Schwarz und Rot, selbst bei dem spärlichen Licht, das durch das Fenster fiel. Auch ohne das Lichtbild, das Michael ihr als Referenz gegeben hatte, zu konsultieren, war sie sich sicher, dass sie das richtige Buch vor sich hatte.

Ohne Zeit zu verschwenden, öffnete sie die Vitrine, wickelte den Folianten zum Schutz in das mitgebrachte Tuch und legte ihn in ihre Umhängetasche. Irgendwo im Haus schlug eine Tür zu, und Schritte gingen über den Marmorboden des Foyers.

Eine Minute.

Frost schloss leise die Tür der Bibliothek hinter sich und eilte geduckt an der Galerie entlang zurück zur Treppe. Das Foyer war dunkel, doch im Salon brannte Licht. Sie hörte undeutliche Stimmen. Bingham war zurück, der Butler war bei ihm. Verdammt, das war früher, als sie gedacht hatte.

So schnell und so leise sie konnte – warum mussten Kleider immer so rascheln, wenn sie nicht raschen sollten? – schlich sie die Treppe hinab. Den Blick starr auf den weit geöffneten Durchgang zum Salon gerichtet, eilte sie durch das Foyer auf die Eingangstür zu. Der Butler stand mit dem Rücken zu ihr vor dem Kamin und sprach mit Bingham, der offensichtlich im Ohrensessel saß.

Auf einmal spürte sie einen sperrigen Gegenstand gegen ihre Schulter stoßen. Beinahe wäre sie gestolpert. Etwas Längliches fiel um und zerschellte auf dem Boden. Der Lärm durchbrach die Stille wie eine Explosion. Frost gefror das Blut in den Adern, eiskalter Schweiß brach auf ihrer Stirn aus. Woher war diese verdammte Stehlampe gekommen?

»Was war das? Mr. Archer, schauen Sie bitte nach.«

»Ich glaube, das war eine der Lampen im Foyer, Sir.«

Mist, Mist, Mist. Frost tappte durch die Scherben, die bei jedem ihrer Schritte laut unter den Sohlen knirschten, und rannte den Flur hinab.

»Jemand ist im Haus, Sir«, hörte sie den Butler rufen. Gleich darauf eilten schwere Schritte über die Galerie. Türen flogen auf und wieder zu.

»Das Buch ist verschwunden!« Das war Mr. Bingham.

Frost hielt sich nicht länger auf und rannte durch die kleiner werdenden Räumlichkeiten der Dienerschaft. Beinahe wäre sie in der Dunkelheit über Stufen gefallen, die in die Küche führten. Da war die Hintertür. Hinter ihr kamen Schritte den Flur entlanggerannt.

All ihre Sinne arbeiteten auf Hochleistung, als sie die Hand auf das Türschloss legte. Doch nichts passierte, kein warmes Kribbeln stellte sich ein. Das Schloss blieb stumm. Wie war das möglich? Sie hatte das Schloss doch extra inspiziert! Es war aus Metall, wieso konnte sie es nicht öffnen?

Bevor Frost sich über die Gründe Gedanken machen konnte, tauchten Bingham und der Butler hinter ihr im Eingang der Küche auf. Der Butler lud soeben ein Gewehr durch und zielte auf sie. Bingham hatte eine Pistole in der Hand.

»Die Polizei ist bereits auf dem Weg. Es gibt kein Entkommen«, knurrte Bingham. »Geben Sie mir mein Buch zurück.«

Frosts Augen huschten durch die Küche. Mit dem Rücken zur Hintertür probierte sie es erneut mit dem Schloss, doch wieder funktionierte es nicht. Sie saß in der Falle.

Innerhalb von Sekunden hatte sie alle möglichen Auswege durchdacht. Ihr blieb nur einer übrig: Sie musste zurück ins Foyer und zum Haupteingang raus. Aber dafür musste sie erst einmal an Bingham und dem Butler vorbei.

Langsam und mit erhobenen Händen bewegte sie sich Schritt für Schritt an der Wand entlang und brachte den Arbeitstisch zwischen sich und die beiden Männer. Der Butler bewegte sich Richtung Hintertür, Bingham blieb im Kücheneingang stehen.

»Sie sitzen in der Falle, Missy«, schnarrte Bingham. Sein grauer Schnurrbart zuckte. »Mein Buch, wenn ich bitten darf.«

Frost schwieg. Auf dem Tresen hinter ihr lagen mehrere Messer.

»Ah, ah, an Ihrer Stelle würde ich das nicht tun«, sagte Bingham, der ihren Blick bemerkt hatte. »Mr. Archer, erschießen Sie sie, sobald sie das Messer nimmt.«

Frost fluchte innerlich und machte einen weiteren Schritt zur Tür. Der Butler hatte mittlerweile fast die Hintertür erreicht und schnitt ihr auch diesen Weg ab. Selbst wenn das Schloss sich nicht öffnen ließ, hätte sie immerhin die Tür eintreten können. Aber natürlich fielen ihr solche Sachen immer im Nachhinein ein.

Bingham fühlte sich anscheinend auf der Siegerseite, denn er senkte die Pistole. Frost war nur noch wenige Schritte von ihm entfernt. Jetzt!

Sie packte eine der schweren Pfannen, die über dem Herd hingen, sprang hinter dem Arbeitstisch hervor und schwang die Pfanne mit aller Kraft gegen Binghams Kopf. Der Mann ging mit einem überraschten Seufzer zu Boden. Der Butler ließ Frost kaum Zeit, über Bingham zu steigen. Ein Schuss löste sich, Frost fuhr herum. Ihre Ohren klingelten vom lauten Knall. Ohne sich noch einmal umzuschauen, rannte sie den engen, dunklen Flur entlang, brach durch eine Tür und fand sich im Foyer wieder. Der Butler rannte hinter ihr her.

»Stehen bleiben!«, brüllte er.

Frost zuckte zusammen, als die nächste Kugel dicht an ihrer Schläfe vorbeizischte. Sie hatte die Haustür erreicht und riss sich den Handschuh herunter.

»Bitte, bitte, funktionier diesmal«, murmelte sie, als sie die Hand auf das Schloss legte. Sie atmete erleichtert auf, als sie die vertraute Wärme spürte und die Mechanismen sich in Bewegung setzten.

Sie prallte in die Wand aus Kälte und Schnee, als sie die Treppe hinunterrannte und gleich darauf über den hüfthohen Zaun des Parks gegenüber stieg. Sie warf sich hinter das nächstbeste Gebüsch und rang nach Atem. Hundegebell und Rufe drangen an ihre Ohren, sie sah die wackligen Lichtkegel von Handlaternen. Jemand stieß in eine Trillerpfeife.

Sie musste von hier verschwinden. Ächzend stemmte Frost sich hoch und rannte geduckt auf die andere Seite des kleinen Parks. Schneeflocken blieben an ihren Wimpern kleben. Hastig vergewisserte sie sich, dass die Luft rein war, und suchte Schutz hinter der nächsten Häuserzeile.

Drei Straßen weiter hielt Frost einen Moment inne, um zu Atem zu kommen. Das war verdammt knapp gewesen, dachte sie, viel zu knapp. Warum hatte sie das Schloss der Hintertür nicht öffnen können? Ein paar Stunden zuvor hatte es doch noch reagiert. Irgendetwas an der Sache stank gewaltig, schoss es ihr wieder durch den Kopf.

Frost vergewisserte sich, dass das Buch immer noch sicher in ihrer Tasche war. Das Leder schützte es vor der Nässe, gut. Dann machte sie sich auf den Heimweg.

Frost & Payne - Die mechanischen Kinder  Die komplette erste Staffel

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