Читать книгу Frost & Payne - Die mechanischen Kinder Die komplette erste Staffel - Luzia Pfyl - Страница 23
6.
Оглавление»Wir kommen wohl ungelegen«, sagte Frost. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sanderson, der steife Privatsekretär, zielte mit einer Pistole auf einen Mann, der ein Messer in der Hand hielt und ihn lauernd anstarrte.
Sanderson beachtete seine zwei neuen Gäste nicht. »Verschwinden Sie, sofort!«, zischte er eisig. Der Mann mit dem Messer hob die Hände und machte einen Schritt rückwärts zur Tür hin. Frost und Payne machten ihm Platz, und gleich darauf rannte er aus dem Haus.
Frost wartete und gab Payne ein Zeichen, dass er schweigen sollte. Sanderson entspannte sich. Er legte die Pistole in eine Schublade des Schreibtisches und zog dann seinen Anzug zurecht.
»Tut mir leid, dass Sie das mit ansehen mussten, Miss Frost«, sagte er trocken und deutete einladend auf die Sessel. »Bitte, setzen Sie sich doch.«
Payne warf Frost einen Blick zu und stellte den umgekippten Sessel wieder aufrecht hin. »Wer war der Mann?«, fragte Frost, während sie sich setzte.
»Einer der Vorarbeiter. Verlangte mehr Geld für sich und seine Männer. Leider war er nicht dazu bereit zu verhandeln.« Sanderson klang, als wäre die Sache eine unangenehme Kleinigkeit, über die es nicht wert war zu sprechen. Er verschränkte die Hände und schaute Frost und Payne aufmerksam an. »Nun, wie kann ich Ihnen behilflich sein?«
Frost machte sich eine geistige Notiz, dass Sanderson zum einen eine eiskalte Seite hatte und zum anderen eine Waffe in seiner Schreibtischschublade aufbewahrte. »Mr. Payne, mein Partner, und ich sind aktuell dabei, Dr. Baxters Mitarbeiter wegen des Diebstahls zu befragen. Da Sie, Mr. Sanderson, am Montagabend auch unten in der Fabrik waren, möchten wir Ihnen ebenfalls ein paar Fragen stellen.«
»Bitte, ich bin ein offenes Buch«, meinte der Sekretär nonchalant und lächelte.
»Sie sind der Privatsekretär des Besitzers dieser Fabrik, richtig?«, fragte Payne und zog sein Notizbuch aus der Manteltasche.
»Das ist korrekt. Ich bin zudem verantwortlich für den betrieblichen Ablauf und die zeitliche Einhaltung aller Aufträge.«
»Waren Sie deswegen nach Dienstschluss unten in der Fabrik?« Payne lehnte sich im Sessel zurück und schaute Sanderson mit ausdruckslosem Gesicht an. Frost verkniff sich ein Lächeln. Er hatte das pinkertonsche Pokergesicht also doch drauf.
»Ich wollte mich vergewissern, dass die Prototypen rechtzeitig fertig werden. Wie Sie wohl bereits wissen, erwarten wir in wenigen Tagen sehr hohen Besuch.«
»Wie hoch?«, fragte Frost, ohne vorher nachzudenken.
Sanderson schaute sie lange an, als wäge er ab, wie viel er ihr erzählen sollte. »Der Duke of Edinburgh und weitere hohe Militärs der königlichen Marine.«
Frost spitzte die Lippen. Das war sehr hoch. Alfred Duke of Edinburgh war Dritter in der Thronfolge und ein Admiral der Flotte. Man munkelte, dass er ein Waffennarr war und einen Haufen Geld ausgab, um sein Flaggschiff immer mit der neuesten Technik auszurüsten.
Sanderson räusperte sich. »Sie sehen also, wir stehen ein wenig unter Druck.« Dennoch schaffte er es, ein sehr zufriedenes Lächeln aufzulegen.
»Haben Sie den Prototypen an jenem Abend gesehen?«, fragte Payne unbeeindruckt.
»Ich glaube, Dr. Baxter hat an der Waffe gearbeitet. Allerdings war ich mit meiner eigenen Arbeit beschäftigt, deswegen kann es auch sein, dass ich mich irre.«
Frost zupfte einen Fussel von ihrem Mantel. »Gibt es jemanden, der Ihnen, Ihrem Boss oder der Fabrik schaden will?« Sie fixierte Sanderson, um keine seiner Reaktionen zu verpassen.
»Mr. Greyson hat viele Feinde, Miss Frost, aber das ist nun einmal so in unserem Business.«
»Greyson?«, fragte Payne sichtlich überrascht.
»Lord Edward Greyson, in der Tat«, sagte Sanderson gewichtig. »Ich nehme an, Sie kennen ihn.«
»Jeder kennt Lord Greyson, den Stahlmagnaten.« Frost warf Payne einen Blick zu. Warum hatte er eben so überrascht reagiert? »Diese Fabrik gehört also ebenfalls ihm.«
Das machte die Sache nicht einfacher. Greyson war der reichste Mensch des Empires, mal abgesehen von der Königin. Seine Feinde waren so zahlreich wie Sand am Meer. Frost war sich jedoch ziemlich sicher, dass die Nummer viel kleiner war. Der Diebstahl des Prototyps war etwas Persönliches – warum nur einer und nicht gleich alle? Das Timing war zudem äußerst verdächtig. In wenigen Tagen wurde die Nummer drei der Thronfolge höchst persönlich für eine Demonstration der Waffen erwartet. Greyson würde vermutlich ebenfalls anwesend sein. Beides Männer, deren frühzeitiges Ableben für jede Menge Zündstoff im Empire sorgen würde. War das Motiv vielleicht sogar politisch? Sah beinahe so aus. Sie musste es nur noch beweisen und den Übeltäter ausfindig machen.
Nur wollte irgendjemand, dass die Sache unter Verschluss blieb und die Polizei nicht eingeschaltet wurde. »Hat Mr. Greyson Kenntnisse von dem Diebstahl?«, fragte sie.
Sanderson verneinte. »Mr. Greyson befindet sich zurzeit in York, wo er eine neue Fabrik einweiht. Jedoch wird er zurückerwartet, um den Duke of Edinburgh persönlich zu begrüßen und durch die Präsentation zu leiten. Dr. Baxter und ich haben volles Vertrauen in Sie, Miss Frost. Und Ihren Partner natürlich«, fügte er hinzu und bedachte Payne mit einem schalen Lächeln.
Frost blinzelte und musste ihre Hände dazu zwingen, keine Fäuste in ihrem Schoss zu formen. Mit nur einem Satz hatte Sanderson die Sache für sie ebenfalls zu etwas Persönlichem gemacht. Die Warnung zwischen den Zeilen hatte sie sehr gut verstanden. Entweder sie löste innerhalb der nächsten drei Tage den Fall und brachte die Waffe rechtzeitig zur Demonstration zurück, oder man würde dafür sorgen, dass sie die Agentur und ihre Arbeit an den Nagel hängen konnte. Sanderson hatte genug Einfluss – oder zumindest die richtigen Kontakte –, um das zu bewerkstelligen.
»Natürlich«, sagte sie und setzte ein gewinnendes Lächeln auf. »Ich habe noch eine letzte Frage, Mr. Sanderson. Wen verdächtige Sie, die Waffe gestohlen zu haben?«
Sanderson rieb sich über das Kinn und dachte lange nach. »Dr. Baxter ist der einzige, der ständigen Zugriff zu allen Prototypen hat. Er hat an allen mitgewirkt und weiß am besten Bescheid, wie sie funktionieren. Zudem glaube ich, dass er in finanziellen Schwierigkeiten steckt, denn vor zwei Wochen saß er hier vor meinem Schreibtisch und hat um eine Gehaltserhöhung gebeten. Nicht weil er dachte, seine Arbeit war mehr Geld wert – wir bezahlen unsere Mitarbeiter sehr gut, müssen Sie wissen. Sondern weil er sagte, dass sein Lohn nicht mehr ausreiche.«
Frosts Röcke raschelten, als sie sich aus dem Sessel erhob. »Danke, Mr. Sanderson. Wir haben Ihre Zeit nun lange genug in Anspruch genommen.« Sie tauschte einen Blick mit Payne, der ebenfalls aufstand und dem Sekretär die Hand reichte.
»Halten Sie mich auf dem Laufenden?«, fragte dieser, als sie bereits in der Tür standen. Frost nickte.
»Ich mag diesen Lackaffen nicht«, murrte Payne, als sie sich wieder unter dem Bahnviadukt befanden.
»Geht mir genauso«, stimmte sie zu. »Aber ich vermute schwer, dass er derjenige ist, der uns bezahlt, also halten wir brav den Mund und tun unsere Arbeit. Ich schlage vor, wir gehen zurück in die Agentur, essen zu Mittag und sehen dann weiter.«
»Glauben Sie, dieser Baxter hat etwas mit der Sache zu tun?«
»Ich hatte eigentlich nicht den Eindruck. Er schien ehrlich betroffen und ein wenig von der Rolle zu sein. Wir sollten ihn dennoch nicht voreilig von der Liste streichen.«
Am Bahnhof nahmen sie ein Tram. Auf der London Bridge staute sich wie immer der Verkehr. Frost schaute aus dem Fenster nach Westen. Über der Stadt schwebten über ein Dutzend Luftschiffe, wobei die drei größten sich deutlich von den anderen abhoben. Ihre Hüllen zierten die jeweiligen Wappen der Adelsfamilien, denen sie gehörten. Die grellen Farben wirkten wie kleine Leuchtfeuer inmitten des Smogs.
Frost selbst war erst einige wenige Male in einem Luftschiff geflogen. Madame Yueh verachtete die Fluggeräte, auch wenn sie selbst zwei kleinere Modelle besaß. Luftschiffe waren ein Statussymbol, und die mächtigste Patriarchin der Stadt konnte es sich nicht leisten, keine zu haben, verabscheute sie sie auch noch so sehr. Frost mochte Fliegen auch nicht sonderlich. Dennoch ertappte sie sich immer wieder dabei, wie sie den Kopf in den Nacken legte, wenn sie das leise Dröhnen der Maschinen vernahm. Die Luftschiffe waren auf ihre ganz eigene Art elegant und anmutig.
»Frost.«
»Ja?« Payne hatte sie aus den Gedanken gerissen. Sie blinzelte.
»Was ist eigentlich passiert, nachdem wir den Attentäter vor der Agentur erschossen haben?« Er sah sie etwas zerknirscht an.
Frost erkannte sogleich seinen Gedankengang. Payne hatte das Nachspiel ihres ersten gemeinsamen Abenteuers verpasst, weil er sich von seiner schweren Verletzung erholen musste; sie musste schmunzeln bei dem Gedanken an das Wort Abenteuer, denn ein solches war es bei Weitem nicht gewesen – und schon gar nicht gemeinsam. Der vermeintliche Attentäter war vor ihrer Agentur aufgetaucht, gerade, als sie und Payne den Fall abschließen wollten. Sie hatten kurzen Prozess gemacht mit dem Mann.
»Ach, ein Polizist kam vorbei und hat viele Fragen gestellt, aber Mr. Tamaran vom Schuhladen gegenüber hat bestätigt, dass der Mann uns angegriffen hat. Die Leiche wurde abtransportiert, und ich musste ein paar Dinge unterschreiben.«
»Hat man rausgefunden, wer der Mann war?«
Frost schüttelte den Kopf. »Er trug keine Papiere bei sich. In seinen Taschen befanden sich lediglich ein paar Pfund und einige Dollarscheine.« Sie legte den Kopf schief und musterte den Pinkerton. »Sie denken also immer noch, dass man sie umbringen wollte, weil Sie einen Auftrag nicht fertig ausgeführt haben?« Offenbar ließ man ihn seither in Ruhe, denn Frost hatte keinen ungebetenen Gast mehr in ihrer Agentur gehabt.
Payne zuckte mit den Schultern und begann, eine Zigarette zu drehen. Die Straßenbahn ruckelte hin und her, und bläuliche Funken sprühten, als sie auf der Nordseite der Themse nach Cheapside abbog. Frost drängte ihn nicht zu einer Antwort. Was auch immer das für ein Auftrag gewesen war: Sie wollte es gar nicht so genau wissen. Solange nicht wieder Attentäter hinter ihr her waren, die von Motorrädern aus mit einer Kanone auf die Straßenbahn schossen, mit der sie gerade fuhr, hatte sie kein Problem.
Bei der nächsten Station stiegen sie aus, um ein paar Straßen weiter eine andere Linie zu nehmen. Links von ihnen ragte die St. Paul's Kathedrale in den Himmel. Payne blieb stehen.
»Beeindruckend, nicht?«
»Ich habe für Religion nicht viel übrig«, erwiderte er mit der Zigarette im Mundwinkel, »aber ja, sehr beeindruckend, so aus der Nähe.«
Auf einmal bebte der Boden unter ihren Füßen, und zweimal grollte es tief unter der Erde. Aus einem nahen Eingang einer Tubestation stiegen Rauch und Staub auf. Menschen strömten hustend und mit Schutt bedeckt die Treppe hinauf. Einige von ihnen waren verletzt. Der dichte Rauch behinderte den Verkehr, Pferde wieherten, die Menschen riefen durcheinander.
Frost wandte den Blick ab und schaute zu Payne auf. »Und deswegen hasse ich die Tube.«
Seit dem großen Streik fuhr eigentlich niemand mehr mit der Tube, der sich die Straßenbahn oder eine Kutsche leisten konnte. Der Untergrund war zu gefährlich geworden. Niemand fühlte sich mehr für die Instandhaltung der Tunnel verantwortlich, die Lokführer waren überarbeitet und unterbezahlt, und die Fahrten in den offenen Wagen durch die engen, dunklen Tunnel waren wegen des stickigen Rauchs und des ohrenbetäubenden Lärms kaum erträglich.
Vor dem St. Bartholomews Krankenhaus sprangen sie in den hinteren Wagen einer gerade abfahrenden Bahn und fuhren die letzten zwei Stationen bis zur Leather Lane, wo sich die Agentur befand. Die Bäckerei in der Straße war rappelvoll, es duftete weit herum herrlich nach frischen Fleischpasteten. Payne steuerte automatisch den Laden an und wollte sich in die Schlange stellen, doch Frost zog ihn weiter.
»Die Pasteten sind zwar unverschämt gut, aber Helen wird etwas gekocht haben«, sagte sie.
Das Glöckchen über der Tür klingelte, als sie die Agentur betraten. Tatsächlich duftete es nach Essen, und aus der Küche kam das Geräusch von klappernden Tellern. Allerdings wartete noch jemand anderes auf sie.
»Cecilia?« Payne blieb mitten im Raum stehen und starrte seine Frau an.
Cecilia Payne stand wie gestochen auf, doch statt in Paynes Arme zu fallen, wie es Frost angesichts ihres Gesichtsausdrucks erwartet hatte, blieb sie wie angewurzelt stehen.
»Ist etwas passiert?« Jetzt hatte sich Sorge in Paynes Stimme geschlichen.
Frost reagierte rasch. »Mrs. Payne, setzten Sie sich wieder hin. Sie sind ja ganz blass.« Sie warf ihren Mantel über den Garderobenständer und eilte in die Küche hinüber. »Helen!«
Helen schrie vor Schrecken auf und hätte beinahe zwei Gläser fallen lassen. »Miss, verzeihen Sie. Ich habe Sie nicht kommen gehört.«
»Mrs. Payne wird mit uns essen«, sagte sie. »Und ich glaube, wir brauchen meinen guten Whisky.« Sie ging zurück in ihr Büro und fand Cecilia wieder im Sessel sitzend vor. Payne hatte sich auf die Schreibtischkante gesetzt.
»Jackson, es war schrecklich!«, rief sie soeben aus und vergrub das Gesicht in den Händen.
»Was ist passiert?«, fragte Frost.
»Cecilias Studenten haben eine Leiche aus der Themse gezogen.«