Читать книгу Frost & Payne - Die mechanischen Kinder Die komplette erste Staffel - Luzia Pfyl - Страница 36
5.
ОглавлениеInspektor Flannagans Beharrlichkeit machte ihnen zwar keinen Strich durch die Rechnung, doch es verkomplizierte ihre Arbeit. Frost hatte wenig geschlafen, vor allem wegen Paynes Geschnarche – dieser verdammte Pinkerton –, und erwachte noch vor dem Morgengrauen mit hämmernden Kopfschmerzen. Sie machte die Nachttischlampe an und stand auf. Wo hatte sie gestern Abend die Briefchen mit Schmerzpulver hingelegt?
Ein unartikuliertes Gemurmel Paynes ließ sie herumfahren, doch er hatte sich nur umgedreht und schlummerte munter weiter. Seine dunklen Haare waren völlig zerwühlt, ein Bein hing über die Matratze hinaus. Frosts Mundwinkel zuckten. Der Pinkerton sah beinahe niedlich aus.
Wenn er nicht so schnarchen würde.
Frost rieb sich die Nasenwurzel und schlurfte ins Badezimmer. Sie entledigte sich des Nachthemds und band ihre Haare zu einem losen Knoten. Der silberne Schlüssel baumelte an der Kette zwischen ihren Brüsten. Es war Zeit, ihr Herz wieder aufzuziehen. Heute würde vermutlich ein langer Tag werden, und sie wollte nicht riskieren, mitten auf der Straße zusammenzubrechen.
Madame Yuehs Ärzte hatten viele Jahre lang versucht herauszufinden, wie ihr mechanisches Herz genau funktionierte und warum sie überhaupt noch am Leben war. Es war offensichtlich, dass sie nicht damit geboren worden war. Laut den Ärzten grenzte es an ein Wunder, dass Frost einen derartigen Eingriff überlebt und keinen Schaden davongetragen hatte. Sie hatte die Bewunderung aus den Worten der Ärzte herausgehört. Und sie hatte Gespräche belauscht. Die Ärzte hatten sie, das Straßenmädchen ohne Gedächtnis, für weitere Untersuchungen und Experimente mitnehmen wollen. Sie hatten sie zum Wohle der Wissenschaft und des Fortschritts zu einer Laborratte machen wollen. Doch Madame Yueh hatte sich geweigert, Frost wegzugeben, wofür Frost ihr auf ewig dankbar sein würde.
Die Ahnung, dass mehr hinter den toten Jugendlichen mit den mechanischen Körperteilen steckte, als sie momentan vermuten konnten, kroch wieder in ihr hoch. Frost war sich sicher, dass der Schlüssel zu ihrer eigenen Vergangenheit bei diesen Kindern lag. Payne hatte recht. Sie mussten herausfinden, wer dafür verantwortlich war.
Doch die Suche nach der Bibliothek ging momentan vor. Je schneller sie diesen Auftrag abschließen konnten, desto schneller waren sie zurück in London.
Eine Stunde später saß Frost Payne gegenüber am Tisch und beugte sich über den Stadtplan, der mit dem Frühstück auf ihr Zimmer geliefert worden war. Neben ihr lag das Buch des Alchemisten.
»Jonah hat versucht, alle weiteren Hinweise, die im Buch versteckt sind, für uns herauszuschreiben«, sagte sie und schaute auf. »Payne, hören Sie mir zu?«
»Mhhm«, kam es von Payne, der sich soeben den wohl fünften Toast in den Mund gestopft hatte. Schwer kauend nickte er, worauf Frost seufzte.
»Okay, also: Der erste Hinweis soll sich in der alten Stadtmauer befinden, und zwar in einem der Türme in der Nähe des Münsters.« Sie fuhr mit dem Finger der Stadtmauer hinter dem Yorker Münster entlang. »Am besten brechen wir gleich auf. Wenn wir Glück haben, lungert der Inspektor noch nicht hier rum.«
Doch als sie wenig später das Foyer betraten, sahen sie die mittlerweile vertraute Gestalt des Londoner Polizisten vor dem Hotel. Er saß vor dem Restaurant gegenüber und las die lokale Zeitung. Frost und Payne hatten sich abgesprochen und würden bei der Wikingerstory bleiben. Und vor allem frontal angreifen.
»Guten Morgen, Inspektor«, grüßte Frost und winkte Inspektor Flannagan fröhlich zu, als sie an ihm vorbeigingen. »Herrliches Wetter, nicht? Perfekt für ein paar Ritterspiele und Wikingerabenteuer. Sehen Sie sich nachher auch das Schauspiel vor dem Museum an?«
Flannagan knurrte in seinen Bart und blätterte geräuschvoll die Zeitung um.
York war bereits auf den Beinen. Das Wikingerfestival lockte jedes Jahr Tausende von Touristen an, und die Altstadt innerhalb der römischen Stadtmauer schien aus allen Nähten zu platzen. Überall liefen kostümierte Menschen herum. Männer mit furchteinflößenden Helmen und klirrenden Kettenhemden, Frauen trugen wallende Gewänder oder waren als Walküren verkleidet. Kreischende und lachende Kinder rannten zwischen den Erwachsenen umher, bekämpften sich mit Holzschwertern und proklamierten, sie seien Ivar der Knochenlose, Eroberer von Northumbria.
Frost kam sich zwischenzeitlich etwas fehl am Platze vor, denn mit wollenen Pluderhosen, derben Stiefeln, Korsett, Bluse, Mantel, Schal und Hut gehörte sie eindeutig in die moderne Zeit. Doch die ausgelassene Stimmung steckte sie an.
»Wo befinden wir uns?«, hörte sie Payne fragen.
Sie holte die Stadtkarte aus ihrer Umhängetasche und schlug sie im Gehen auf. »Wir müssten gleich beim Münster sein. Sehen Sie, da vorne, das ist die römische Säule.«
Sie erreichten den Platz vor dem Münster. Marktstände säumten die Häuserreihen. Auf einer Bühne auf der Wiese daneben spielte eine Gruppe Musiker nordische Lieder.
Payne ging zur Säule und blieb davor stehen. Eine Plakette auf Augenhöhe besagte, dass sie einmal Teil des römischen Forts war und in einer großen Halle stand. Payne streckte die Hand aus und berührte den alten Stein.
Frost hob die Augenbrauen. »Was machen Sie da?«
»Ich berühre Geschichte.«
»Das ist lächerlich, Payne. Es ist nur eine sehr alte Säule aus Stein mit einer Plakette dran.«
»Im Gegenteil, Miss Frost. Die Römer waren ziemlich cool. In Amerika gibt es nichts derart Altes, das von Menschen errichtet worden ist.« Payne sah bewegt an der Säule hinauf.
»Okay, genug bewundert. Wir haben Arbeit vor uns.« Frost zog ihn am Ärmel von der Säule weg.
Vor ihnen ragte das Münster auf. Das große Eingangsportal im Mittelschiff war weit geöffnet, so dass die Besucher des Festivals ungehindert ein- und ausgehen konnten. Frost ließ die imposante Kirche jedoch links liegen und steuerte in die nächste Straße. Bis zur Mauer war es nicht mehr weit.
In einer verwinkelten Gasse mit mittelalterlichen Häusern blieben sie stehen, um den Stadtplan zu konsultieren. Bei den vielen Menschen und den engen Straßen konnte man schnell die Orientierung verlieren.
»Frost.«
»Was? Ich versuche gerade herauszufinden, wo wir sind.«
»Wir haben Gesellschaft.«
Frost schaute auf und folgte Paynes Blick. An der Ecke, um die sie eben gebogen waren, lungerte Inspektor Flannagan herum und beobachtete sie. »Dieser verdammte …«
»Sparen Sie sich die Energie«, meinte Payne und zündete sich eine Zigarette an. »Wir wussten, dass er uns folgen würde.«
»Trotzdem geht er mir auf die Nerven.« Frost bemühte sich, die brodelnde Frustration in ihrem Bauch zu unterdrücken. Sie durfte den Inspektor nicht so nahe an sich heranlassen. Nach einem tiefen Atemzug schaute sie sich um. Die Gasse war voller Menschen, die sich im Schritttempo an Läden und Imbissständen vorbeizwängten. Laut der Karte war die Mauer nicht mehr weit. »Wir könnten ihn in dem Gedränge abhängen.«
Payne nickte und folgte ihr sogleich. Ohne sich noch einmal umzudrehen, schlängelten sie sich an den Menschen vorbei. Frost machte sich dabei automatisch klein und sah, dass auch Payne schräg hinter ihr den Kopf einzog.
Als Frost hinter einem Stand eine schmale Öffnung in der Häuserwand sah, griff sie nach der Hand des Pinkertons und zog ihn mit sich. »Wir nehmen eine Abkürzung.«
»Lassen Sie meine Hand los, ich kann alleine gehen«, murrte Payne, folgte ihr jedoch bereitwillig in den engen Durchlass. Es war kaum Platz für zwei Personen nebeneinander. In der Mitte floss ein trübes Rinnsal in einer offenen Abwasserrinne.
Frost antwortete nicht, sondern rannte los. Ihre Schritte hallten von den hohen Mauern wider, und jedes Mal, wenn sie in das Rinnsal trat, spritzte das Wasser auf. Sie malte sich besser nicht aus, was für Wasser das war.
Nach zwei Abzweigungen standen sie plötzlich an der Stadtmauer. Der Weg endete abrupt vor dem grasbewachsenen Hang. Die Mauer war hoch und breit und oben mit dicken Zinnen bestückt. Ihr Bau reichte bis zu den Römern zurück und war im Laufe der Jahrhunderte erhöht, verbreitert und stärker befestigt worden.
Hundert Meter rechts von ihnen befand sich einer der runden Türme, die in die Mauer eingelassen waren. Frost wollte nicht wieder zurückgehen und einen anderen Weg zum Turm suchen. Der gute Inspektor würde ihnen ein paar unbequeme Fragen stellen, wenn er sie einholte. Ihr Ehrgeiz war geweckt. Flannagan sollte ruhig schmoren.
Kurz entschlossen ging sie den Hang hinauf und folgte dem Lauf der Mauer. Der Hang war rutschig, denn der Boden war aufgeweicht. Hinter sich hörte sie Payne fluchen, als er den Halt verlor.
»Das nennen Sie Abkürzung?«
»Seien Sie nicht so wehleidig, Payne. Ich bin mir sicher, Sie haben Schlimmeres erlebt.«
»Ich gebe zu, mich an halbwegs saubere Stiefel gewöhnt zu haben.«
Frost schnaubte belustigt. Vorsichtig ging sie Schritt für Schritt weiter, die linke Hand immer am Mauerwerk. Als sie den Turm erreichte, schaute sie grübelnd nach oben zu den Zinnen. »Jonahs Interpretation des Rätsels zufolge befindet sich der Hinweis im Turm«, meinte sie, während sie zur Kontrolle Dr. Nevilles Notizblatt aus der Tasche kramte.
»Sind Sie sicher, dass dies der richtige Turm ist?« Payne schob den Hut in den Nacken und schaute sich skeptisch um. Ein paar hundert Meter rechts von ihnen stand das Münster dominierend über der Stadt, daneben befand sich eine Art Park. Die alte Stadtmauer umschloss ihn. Von ihrem Standpunkt aus konnte man einen zweiten Turm ausmachen.
»Erst einmal müssen wir einen Weg hineinfinden.« Frost ging an der Mauer des Turms entlang. Auf der anderen Seite des Halbrunds entdeckte sie eine niedrige Holzpforte. Sie rüttelte an der Tür, doch nichts bewegte sich. »Abgeschlossen.« Frost bückte sich, um das Schloss zu begutachten, wurde jedoch enttäuscht. Es gab keines.
»Lassen Sie mich mal.« Payne schob sie beiseite und trat mit einem kräftigen Tritt die Pforte ein. Holz splitterte, und die Tür knallte gegen die Innenseite des Turms.
»Ich bin mir sicher, dass Sie gerade Kulturgut beschädigt haben«, meinte Frost bissig.
»Was soll ich sagen? Ich bin Tourist. Nach Ihnen, Miss Frost.« Payne grinste über das ganze Gesicht.
Sie traten ein und schauten sich um. Sie standen in einem gewundenen Treppenturm, der nach oben offen war und das Tageslicht einließ. Die Mauern waren von jahrhundertelanger Feuchtigkeit mit Moos und Algen überzogen. Keinerlei Geräusche drangen von draußen herein, trotz des offenen Daches. Nach einem kurzen Blick nach oben beschied Frost, dass ihr Ziel höchst wahrscheinlich unten lag.
Sie ging voran über die stellenweise glitschigen Stufen. Immer tiefer wand sich die Treppe, bis kaum noch Licht von oben herabfiel. Als sie den Grund des Turmes erreichten, konnte Frost kaum noch die Hand vor Augen sehen. Payne zog sein Feuerzeug hervor. Sie hörte das vertraute Klicken, das für sie mittlerweile einfach zu Payne gehörte, und eine helle Flamme leuchtete auf. Das Licht reichte gerade aus, um nicht zu stolpern oder gegen die Wand zu laufen.
Frost ging voran in den Tunnel, der sich vor ihnen wie ein schwarzer Schlund öffnete. Paynes kleine Flamme flackerte. »Das Gemäuer hier unten ist viel älter als der Rest der Mauer«, sagte sie und berührte mit der Hand den kalten Stein. Vermutlich war der Tunnel zur Zeit der ersten Mauer von den Römern angelegt worden.
Irgendwo tropfte Wasser. Ihre Schritte hallten als Echo wider, als sie den Mauern folgten. Nach etwa fünfzig Metern öffnete sich der Tunnel zu einem kreisrunden Raum mit hohen Decken.
»Wir müssen im nächsten Turm sein«, vermutete Frost. Ihr Herz pochte vor Aufregung. Hier musste der Hinweis versteckt sein. Sie holte das Buch des Alchemisten und Jonahs Notizen aus der Tasche. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass der Boden trocken war, legte sie sie zusammen mit dem Stadtplan aus. »Payne, Licht!«
Payne ging Frost gegenüber in die Hocke und hielt sein Feuerzeug über die Papiere. »Wie finden wir den Hinweis?«
»Jonah schreibt, dass wir nach einer römischen Katakombe suchen sollen. Ich glaube, wir haben sie gefunden.« Sie warf einen schnellen Blick in die Runde. Paynes Licht vermochte nur einen Bruchteil des Raumes zu erhellen. »Dort sollen wir nach dem ›Gesicht der Fortuna‹ suchen. Was auch immer das heißen soll.«
»Fortuna war eine der beliebtesten Göttinnen der Römer«, meinte Payne und stand auf. »Vielleicht gibt es hier Fresken oder Mosaike.«
Nach wenigen Minuten wünschte sich Frost, dass sie eine Laterne mitgenommen hätten. Nur mit Paynes Feuerzeug bewaffnet dauerte es ewig, bis sie alle Wände abgesucht hatten. Fresken und behauene Steine gab es zuhauf, doch nichts sah aus, wie sie sich das Gesicht der Fortuna vorstellte.
»Wir werden morgen noch hier sein«, ächzte sie auf.
»Hier drüben«, hörte sie Payne nach einer Weile sagen und folgte dem Lichtschein. »Ich glaube, das ist es.«
Frost schrak zurück, als eine schattenhafte Fratze sie anstarrte. Payne hob das Feuerzeug. Die Fratze verwandelte sich in ein steinernes Gesicht. Die ganze Wand schien aus Gesichtern zu bestehen, großen und kleinen, jeder Stein der Mauer trug eines.
»Suchen Sie bis knapp über Augenhöhe, Payne. Es muss ein Frauengesicht sein. Fortuna ist sehr spezifisch, bestimmt hat man eines ihrer Attribute hinzugefügt.«
Das hatte man tatsächlich. Payne fand etwas, das wie ein Füllhorn aussah, darüber befand sich das feine Gesicht einer Frau. »Hier ist etwas in den Stein gehauen, das irgendwie nicht dazugehört«, murmelte er und hielt das Feuerzeug näher an die Mauer. »Sieht neuer aus. Alt, ja, aber neuer. Sie verstehen.«
»Kommen Sie auf den Punkt.«
»Es ist die Zahl 256.«
Frost hob die Augenbrauen und schob Payne beiseite. »Sie haben recht. Ich habe nirgendwo sonst auf den Gesichtern Zahlen gesehen.« Sie hielt inne. Ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf. »Moment.« Vorsichtig tastend suchte sie das Buch auf dem Boden und blätterte aufgeregt darin. Payne leuchtete mit dem Feuerzeug. »Hier, Seite 256«, sagte sie triumphierend.
»Sie ist grün.«
»Das sehe ich auch. Merkwürdig.« Die ganze Buchseite war eingefärbt, als hätte jemand einfach großzügig darübergemalt. Rasch blätterte Frost durch den Rest des Buches, doch Seite 256 blieb die einzige Seite, die komplett in eine Farbe getaucht war. »Also, wenn das der nächste Hinweis sein soll, dann habe ich genauso viel Ahnung wie vorher.«
»Lassen Sie uns hier verschwinden, das Feuerzeug wird langsam ziemlich heiß, und ich würde meinen Finger gern behalten.« Frost starrte immer noch auf die seltsame grüne Seite, Payne nahm ihr das Buch sanft aus den Händen. »Ich glaube nicht, dass es hier unten noch etwas gibt.«
Frost nickte und hob Stadtplan und Notizzettel auf. Der Weg zurück ging schneller, nun, da sie den Weg kannten, und gleich darauf sahen sie den Lichtkegel des Treppenturms vor sich. Payne klappte das Feuerzeug zu, sobald sie nicht mehr Gefahr liefen, gegen unsichtbare Wände zu rennen.
Frost wollte bis ganz hinauf auf den Turm steigen, um nach der dunklen Enge des Tunnels die Weite des Himmels für einen Moment zu spüren. Kalter Wind fuhr in ihre Haare, als sie ins Freie trat. Der Glockenturm des Münsters schlug die volle Stunde. Waren sie so lange dort unten gewesen? Sie hatte gar nicht bemerkt, dass so viel Zeit vergangen war.
Payne setzte sich zwischen zwei Zinnen und zündete sich eine Zigarette an. Sie lehnte sich an die Mauer neben ihn und holte das Buch aus der Tasche. Vielleicht konnte sie bei Tageslicht mehr auf der Seite ausmachen als unten in der Dunkelheit beim Licht eines Feuerzeugs. Doch Seite 256 blieb grün. Frost hob das Buch in die Höhe und hielt die Seite gegen die Sonne, doch unter dem Grün schienen keine Buchstaben versteckt zu sein.
»Grüne Seite, grüne Seite«, murmelte sie. »Was zum Teufel sollen wir damit anstellen? Das ist kein Hinweis, das ist eine Verarsche. Alchemisten sollen angeblich Genies gewesen sein, doch ich glaube, unser lieber Burlington war ein Idiot.«
Payne lachte auf. »Seien Sie nicht so hart, Frost. Burlington wollte bestimmt nur eines: Wer auch immer seine Bibliothek finden wollte, musste ebenso schlau sein wie er und sich die Bücher auch verdienen. Wir werden schon noch herausfinden, was diese grüne Seite bedeutet.«
Frost schnaubte und klappte das Buch hart zu. Himmel, sie brauchte dringend einen Kaffee. Der wenige Schlaf machte sich gerade sehr bemerkbar.
»Lassen Sie uns zurück in die Stadt gehen. Ich glaube, wenn wir uns dem armen Inspektor nicht bald wieder zeigen, wird er noch die Kavallerie verständigen«, sagte Payne amüsiert und sprang von der Zinne.
Kaum hatten seine Füße den Boden berührt, knallte ein Schuss. Winzige Splitter der Mauer flogen durch die Luft. Payne duckte sich instinktiv und zog Frost hinter die Zinne, wo er sie schützend an die Mauer presste.
»Was war das?«, fragte Frost mit bebender Stimme. Ihr Herz raste, ihr Atem ging stoßweise.
»Jemand hat auf uns geschossen.« Payne klang beinahe beleidigt. Dann sah er auf Frost hinunter und löste sich von ihr. »Alles in Ordnung?«
Sie nickte und schluckte hart. Vorsichtig streckte sie den Kopf zwischen den Zinnen hervor. Gleich gegenüber befand sich der westliche Turm des Münsters, der Glockenturm.
»Das war knapp«, hörte sie Payne sagen. Er ging aus der Deckung und fuhr mit dem Finger über das ansehnliche Einschussloch in der Zinne. Frost biss sich auf die Lippen. Das Loch befand sich genau da, wo Sekundenbruchteile zuvor noch Paynes Kopf gewesen war. Wäre er nicht von der Zinne gesprungen …
»Jetzt schauen Sie nicht so entgeistert, Frost, ich lebe noch«, brummte Payne. Etwas in seinem Blick hatte sich verändert. Wieder strich er mit den Fingern über das Einschussloch, als könnte er etwas daraus lesen. Dann folgte er mit den Augen einer unsichtbaren Linie. »Das war ein Scharfschütze. Vermutlich aus dem Kirchturm oder dem Dach eines der Häuser daneben.«
»Ein Scharfschütze?« Himmel noch mal, warum schoss ein Scharfschütze auf sie?! Inspektor Flannagan ging nicht so weit, sie einfach zu erschießen. Außerdem war er wohl kaum ein so guter Schütze, dass er auf die Distanz derart präzise schießen konnte. Nein, das war ein Profi gewesen. Doch warum?
Angst kroch in ihr hoch, als sie den Kirchturm und die Häuserdächer nach etwas Verdächtigem absuchte. »Sollten wir nicht lieber von diesem Turm runter? Payne!«
»Ich glaube nicht, dass wir noch in Gefahr sind, jedenfalls für den Moment.« Er wandte sich von der Aussicht ab. »Der Schütze hätte schon längst wieder geschossen, wenn er noch da wäre.«
»Das beruhigt mich ungemein«, gab Frost ungehalten zurück und machte sich daran, die Treppe hinunterzusteigen. »Ehrlich, Payne, seit ich Sie kenne, wird ständig auf mich geschossen, und ich glaube langsam, dass Sie der Grund dafür sind.«
»Jetzt tun Sie mir aber unrecht«, rief Payne ihr hinterher und beeilte sich, ihr zu folgen. »Sie stehen in enger Verbindung mit der chinesischen Mafia. Ich gehe jede Wette ein, dass Sie auch auf der Abschussliste einiger Leute stehen.«
Das war in der Tat so, doch Frost hatte augenblicklich keine Lust, dem Pinkerton recht zu geben. Es war gerade wieder einmal auf sie geschossen worden, ohne dass sie auch nur eine Ahnung hatte, warum.
Um den aufgestauten Frust loszuwerden, gab sie der bereits von Payne beschädigten Pforte einen kräftigen Tritt, der sie vollends auseinanderbrechen ließ. Frost hörte, wie der Pinkerton hinter ihr gluckste. »Wagen Sie es nicht, jetzt etwas zu sagen.«
Payne hob schmunzelnd die Hände und hielt Sicherheitsabstand. Frost trat aus dem Turm und drückte sich an die Außenmauer. Wenn sie denselben Weg zurückgehen wollten, wären sie dem Schützen deckungslos ausgeliefert. Der grasbewachsene Hang war rutschig, und sie wollte nicht riskieren, auf dem Hintern zu landen und ein noch besseres Ziel abzugeben.
So schnell und so vorsichtig wie möglich eilten Frost und Payne an der Mauer entlang und den Hang hinab, bis sie unbehelligt in der engen Gasse mit dem Rinnsal standen. Am anderen Ende der Gasse konnten sie die kostümierten Menschenmassen des Wikingerfestes vorbeiziehen sehen. In diesem Getümmel würde wohl niemand versuchen, auf sie zu schießen. Das Risiko, jemand Unschuldigen zu treffen, war viel zu groß. Hier waren sie in Sicherheit.
»Ich schlage vor, wir gehen jetzt Kaffeetrinken«, sagte Frost mit versöhnlichem Ton und drehte sich zu Payne um. »Und vielleicht sollten wir für Sie einen Wikingerhelm kaufen. Steht Ihnen bestimmt prächtig.«
Auf dem Glockenturm des Münsters blitzte das Zielfernrohr kurz im Sonnenlicht auf, als die Frau sich bewegte. Sie kniete vor der Balustrade einer sehr schmalen Galerie knapp unterhalb des Ziffernblattes. Das Gewehr fest in den Händen, schaute sie durch das Fernrohr. Im Fadenkreuz sah sie die beiden Personen auf dem Wachturm der Mauer. Der Mann schaute gerade hinter der Zinne hervor. Sie konnte die Emotionen in seinem Gesicht erkennen.
Sie selbst zwang sich, die Wut über den verpatzten Schuss über sich hinweggleiten zu lassen. Ihr Atem ging flach und langsam, ihr Herz schlug ruhig und regelmäßig. Nicht eine Faser ihres Körpers bewegte sich.
Der Mann stand nun genau zwischen den Zinnen. Der Zeigefinger der Frau spannte sich an. Diesmal würde sie ihr Ziel nicht verfehlen.
Doch als der Mann genau in ihre Richtung schaute, hielt sie für einen Atemzug inne. Oh, er war gut. Beinahe hätte sie gelächelt, doch das hätte die Spannung in ihrem Körper verändert.
Der Mann redete mit der Frau, die sichtlich erregt war. Dann verschwanden beide aus dem Fadenkreuz. Sie entspannte den Zeigefinger und gestattete sich einen tiefen Atemzug. Der Moment war vorbei.
Die Frau hob das Gewehr und stand auf. Der eisige Wind zerrte an ihrer engen Lederkleidung und wirbelte einzelne Haarsträhnen um ihren Kopf. Ohne das Fernrohr wirkten die beiden winzig klein, als sie an der Mauer entlanghasteten und den Abhang zu den ersten Häuserreihen hinunterstolperten.
Später. Sie würde noch mehr Gelegenheiten bekommen. Noch bestand keine Eile, die beiden auszuschalten. Sie hatte die ausdrückliche Erlaubnis, mit den beiden zu spielen.
Die Frau ging wieder in die Hocke und zog ihre Ledertasche heran. Mit wenigen routinierten Bewegungen hatte sie das Gewehr in seine Einzelteile zerlegt und in der Tasche verstaut.
Ein leises Lächeln zuckte über ihren Mund. Die Sache fing an, ihr zu gefallen.