Читать книгу Frost & Payne - Die mechanischen Kinder Die komplette erste Staffel - Luzia Pfyl - Страница 32

1.

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London war in Aufruhr. Die Neuigkeiten über das Attentat auf Alfred, Duke of Edinburgh, Dritter der Thronfolge, und den gleichzeitigen Bombenanschlag in Greenwich verbreiteten sich wie ein Lauffeuer durch die Stadt. Die Menschen auf der Straße redeten sich die Münder fusselig, spekulierten über Zusammenhänge und erörterten abstruse Verschwörungstheorien. Manche behaupteten, dass es entweder die Franzosen oder die Preußen waren, dass das Attentat auf den Admiral der Marine sowie auf Greenwich, die führende Forschungsstätte des Empires, ein direkter Angriff auf Großbritannien und damit eine Kriegserklärung war. Andere waren sich sicher, dass die irischen Anarchisten dahintersteckten. Einige wollten sogar gesehen haben, wie die Kriegsminister im Buckingham Palace eingetroffen waren.

Fleet Street war in heller Aufregung. Die Druckerpressen für Extraausgaben der Londoner Zeitungen liefen heiß, Reporter schrieben sich die Finger wund, und die Zeitungsjungen, die an jeder Ecke der Stadt standen, brauchten nicht einmal die Stimme zu erheben. Die Menschen rissen ihnen die Zeitungen praktisch aus den Händen. Es waren kaum zwei Stunden vergangen, da wusste bereits die ganze Stadt, was passiert war – oder angeblich passiert.

Jackson Payne und Lydia Frost bekamen von all dem nichts mit. Sie fuhren mit einem schnellen Polizeiboot die Themse hinunter nach Greenwich. Kurz nach dem erfolglosen Attentat auf den Duke of Edinburgh hatte man sie über den Anschlag in Greenwich informiert und sie gebeten, dorthin zu kommen.

Payne war die ganze Fahrt über sehr schweigsam. Er machte sich große Sorgen um Cecilia, seine Frau. Sie arbeitete als Wissenschaftlerin im Observatorium von Greenwich. Auch wenn heute Samstag war, wusste er, dass sie dort war. Cecilia war beinahe schon besessen von ihrer Arbeit, doch erst seit dem mysteriösen Verschwinden ihrer Tochter Annabella vor ein paar Monaten war sie permanent in der Sternwarte. Payne war sich bewusst, dass ihre Ehe seither schwierig war, vor allem angesichts der Tatsache, dass er seine Familie vorher zwei Jahre lang nicht gesehen hatte – doch das wischte fast zehn gemeinsame Jahre nicht einfach so weg.

Er brauchte frische Luft. Payne verließ die enge Kabine und trat hinaus in den eisigen Wind. Mit dem Rücken zur Fahrtrichtung versuchte er, eine Zigarette zu drehen. Als ihm beim dritten Anlauf abermals der ganze Tabak davonflog, gab er es seufzend auf und hangelte sich nach vorne zum Bug. Das Schiff kreuzte gerade die Heckwellen eines Dampfers und hüpfte auf und ab.

Frost stand am Bug und hielt die Nase in den Wind. Ihr dunkelbraunes, beinahe schwarzes Haar hatte sich aus dem Knoten gelöst und wirbelte um ihre Schultern. »Alles in Ordnung bei Ihnen?«, fragte sie, als Payne sich neben ihr an die Reling lehnte.

Er nickte wortlos und bemerkte, dass an ihren Kleidern immer noch das Blut von Dr. Finnley Baxter klebte, dem Wissenschaftler, der dem Duke das Leben gerettet und dabei einen Arm verloren hatte. Sie wussten nicht, ob er es überlebte. Frost hatte sich nicht einmal die Zeit genommen, das Blut von ihren Kleidern zu waschen, weil Cecilia wichtiger war.

Die Themse machte eine Biegung. Jetzt konnten sie von Weitem schon die schmale Rauchsäule sehen, die über der Universität stand. Paynes Magen verknotete sich unangenehm. Der Sergeant, der sie geholt hatte und nun auf dem Boot begleitete, hatte ihnen keine Informationen bezüglich Cecilia geben können. Er wusste nur, dass jemand nach ihm und Frost verlangt hatte.

»Cecilia geht es gut, da bin ich mir sicher«, sagte Frost und nahm seine Hand. Die warme Geste überraschte Payne, doch er erwiderte den Druck dankbar.

»Sie hätte heute zuhause bleiben sollen«, sagte er bitter.

»Hey, Payne, lassen Sie das.«

»Was?«

»Das. Ich kenne Ihre Frau zwar fast gar nicht, aber sie machte nie den Eindruck, dass sie sich von irgendwem aufhalten lässt, schon gar nicht von ihrem Ehemann.« Frost grinste, und ihre grauen Augen funkelten. »Cecilia ist taff.«

Am rechten Ufer tauchten die ersten Gebäude des Universitätsgeländes auf. Über ihnen kreisten zwei Luftschiffe des Yards. Die Anlegestelle war durch eine Blockade von Polizeibooten gesperrt. Ihr eigenes Boot verlor an Geschwindigkeit, die Motoren spuckten ruckelnd Dampf aus, als der Kapitän langsam zwischen den Schiffen manövrierte.

»Die Reporter sind wie Aasgeier«, meinte der Sergeant, als er aus der Kabine trat. »Wir mussten die ganze Gegend absperren.«

Payne stählte sich innerlich für das, was nun auf ihn zukam; was auch immer das war. Er durfte die Möglichkeit, dass Cecilia etwas zugestoßen war, nicht einfach ignorieren. Die Rauchsäule hinter der Universität deutete auf ein großes Feuer hin, und das Geheule der Sirenen im Hintergrund ließ ihn erschaudern.

Der Sergeant führte Payne und Frost vom Landungssteg zwischen den Hauptflügeln der Universität hindurch und hinaus in den weitläufigen Park, der sich dahinter anschloss. Überall standen Polizeibeamte, die die Gegend sicherten und nach Spuren absuchten. Ein Mann mit langem Mantel kam auf sie zugeeilt.

»Sind Sie Mr. Payne? Ich bin Inspektor Flannagan. Folgen Sie mir.« Er drehte sich auf dem Absatz um und marschierte die Anhöhe hinauf, bevor Payne oder Frost etwas erwidern konnten. Der Sergeant beeilte sich, seinem Vorgesetzten zu folgen.

»Was ist hier passiert?«, wollte Frost wissen. Sie raffte ihre Röcke und musste beinahe rennen, um mit den Männern Schritt zu halten. »Uns wurde nur gesagt, dass es einen Bombenanschlag gab.«

Der Inspektor drehte sich halb über die Schulter um. »Und Sie sind?« Er blickte auf Frosts blutige Kleider und verzog den Mund abschätzig.

»Lydia Frost. Payne ist mein Partner.« Falls Frost sich ein wenig beleidigt fühlte ob der harschen Frage des Inspektors, so ließ sie sich nichts anmerken.

»Bombenanschlag, in der Tat. Wir haben den Verdacht, dass religiöse Fanatiker dafür verantwortlich sind. Sie wissen schon, christliche Spinner, die immer noch glauben, die Erde sei flach und in sieben Tagen erschaffen worden. Der Direktor der Fakultät hat uns mehrere Drohbriefe übergeben, die einen solchen Anschlag ankündigten.«

»Und warum hat die Polizei sich nicht vorher um diese Drohungen gekümmert?«, verlangte Payne zu wissen. »Meine Frau arbeitet hier, verdammt. Wissen Sie, was mit ihr ist?« Er ballte die Fäuste und musste sich dazu zwingen, ruhig zu bleiben. Es nützte niemandem etwas, wenn er den Inspektor des Nichtstuns bezichtigte, am allerwenigsten Cecilia. Das konnte er später immer noch, sobald er wusste, dass es ihr gut ging und dass sie in Sicherheit war.

»Wir haben die Briefe vorhin zum ersten Mal gesehen, Mr. Payne. Sir Christie, der Direktor, versicherte uns zwar, dass er die Briefe an Scotland Yard weitergeleitet hat, allerdings erst vor wenigen Tagen. Wir sind zurzeit mit dringenderen Fällen beschäftigt, wie Sie sich sicher vorstellen können.«

Payne unterdrückte einen Fluch. Natürlich wusste er, wovon der Inspektor sprach. Die Sache mit den mechanischen Kindern.

Die Sirenen der Feuerwehr wurden lauter. Die Straße, auf der sie gingen, tauchte in ein Wäldchen ein, das die Anhöhe umschloss. Zwischen den Bäumen hing Rauch, sie konnten das Feuer bereits riechen.

»Ist es das Observatorium?«, fragte Payne und versuchte, den schleimigen Klumpen in seinem Magen zu ignorieren.

»Planetarium gleich gegenüber.« Inspektor Flannagan deutete nach links, als sie zwischen den Bäumen hervortraten.

Frost sog die Luft scharf ein. Payne ballte wieder die Fäuste, und sein Herz setzte für einen Moment aus. Das einst prächtige Backsteingebäude mit der kupferfarbenen Kuppel, die das Planetarium beherbergte, war nur noch ein Gerippe aus verkohlten Balken und eingestürzten Wänden. Vereinzelt schossen Flammen in die Höhe. Zwei Feuerwehrwagen standen auf dem Platz davor, und etwa zwanzig Männer waren dabei, die letzten Brandherde zu löschen.

»Wir haben eine Leiche gefunden«, fuhr der Inspektor fort. »Es ist nicht Ihre Frau, Mr. Payne. Es handelt sich um den Hausmeister, wie mir Sir Christie bestätigen konnte.«

Payne wagte es wieder zu atmen, nachdem er beim Wort Leiche die Luft angehalten hatte. »Und wo ist meine Frau? Geht es ihr gut?«

Jetzt wandte sich der Inspektor vollends ihm zu und holte tief Luft. Sein Gesicht nahm einen Ausdruck des Bedauerns an. »Die Sache ist die, Mr. Payne: Die Männer, die den Anschlag verübt haben, sind noch hier. Sie haben sich im Observatorium verschanzt, mit einer Geisel.«

»Die Geisel ist Mrs. Payne«, folgerte Frost sofort.

Inspektor Flannagan nickte. »Wir haben Sie hierherkommen lassen, weil ich möchte, dass jemand hier ist, den Mrs. Payne kennt, sobald wir sie befreien können. Für den Fall, dass sie …« Er drückte sich um das nächste Wort, doch Payne wusste, was der Inspektor sagen wollte. Falls Cecilia hysterisch war. Falls sie verletzt war. Oder noch schlimmer: beides zusammen. Für manche Männer gab es nichts Unangenehmeres als eine hysterische Frau.

Beinahe hätte er laut aufgelacht. Einmal, weil die meisten Männer Frauen, die Emotionen zeigten, gerne sofort als hysterisch und damit als nicht zurechnungsfähig bezeichneten. Und zum anderen, weil der Inspektor Cecilia eindeutig nicht kannte. Cecilia war die rationalste Person, die ihm je unter die Augen gekommen war, und sie hatte einen Pinkerton geheiratet. Hysterie befand sich nicht in ihrem Repertoire.

»Ich verstehe«, sagte er stattdessen. »Hören Sie, Inspektor, ich war Pinkerton in New York. Ich kenne mich mit Geiselnahmen aus.«

»Ich weiß, was Sie mir sagen wollen, Mr. Payne, aber ich glaube, wir haben alles unter Kontrolle. Lassen Sie uns unsere Arbeit tun.«

»Sir, meine Frau ist da drin.« Payne zeigte mit dem Finger auf das Observatorium, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. »Ich will helfen, Sie lebend da herauszuholen.«

Der Inspektor schüttelte bestimmt den Kopf. »Ich weiß Ihr Angebot zu schätzen, doch wie Sie sagten, Ihre Frau ist da drin. Zudem haben Sie keinerlei Befugnisse, polizeiliche Arbeit zu verrichten. Wie Sie ebenfalls sagten, Mr. Payne, waren Sie Pinkerton. Hier in London sind Sie Zivilist und tun, was ich Ihnen sage.«

»Kommen Sie, Payne, das hat keinen Zweck«, sagte Frost und zog ihn am Ärmel davon. Payne sah noch, wie der Inspektor zufrieden nickte.

»Ich kann nicht einfach hier draußen rumstehen und darauf warten, dass diese Nichtsnutze endlich ihre faulen Hintern bewegen.«

»Nicht so laut, sonst denkt der liebe Inspektor noch, wir würdigen seine harte Arbeit nicht.« Frost lenkte Payne sanft, aber bestimmt zur Straße und ein Stück hinab in das Wäldchen, außer Sicht- und Hörweite der Polizisten. »Also, wie gehen wir am besten vor?«

Payne schaute sie irritiert an. »Wie meinen Sie das?«

»Sie haben gesagt, Sie kennen sich mit Geiselnahmen aus. Also, wie gehen wir vor?«

Langsam stieß Payne die Luft zwischen den Zähnen aus und schaute zurück. Durch die kahlen Baumwipfel konnte man das Observatorium ausmachen. »Wir wissen, dass es sich um zwei Geiselnehmer handelt, und wir gehen davon aus, dass sie bewaffnet sind. Cecilia befindet sich in ihrer Gewalt, hoffentlich unverletzt. Was wir nicht wissen, ist: warum. Warum sind sie nicht geflohen, nachdem sie die Bombe gelegt haben? Hat Cecilia sie überrascht oder beobachtet? Oder wollen sie das Institut zusätzlich noch erpressen?«

»Zu viele offene Fragen für meinen Geschmack«, meinte Frost. »Ich wette, in den Drohbriefen steht mindestens ein Teil der Antworten. Aber dafür haben wir keine Zeit.«

Payne nickte. »Die Polizei wird vermutlich mit den Geiselnehmern verhandeln wollen. Das kann sich über Stunden hinziehen. Doch je länger es dauert, desto mehr schwebt Cecilia in Gefahr.«

Ein diebisches Lächeln schlich sich in Frosts Gesicht. Er kannte dieses Lächeln bereits, und er wusste, was es bedeutete. Frost hatte etwas Waghalsiges und ziemlich Dummes vor.

»Oh nein!«

»Oh doch, Mr. Payne. Sie haben noch Ihre Waffe dabei, nicht?« Frost zog ihren eigenen Revolver aus dem Mantel und präsentierte ihn regelrecht. »Das Observatorium hat bestimmt einen Hintereingang.«

»Sie sind verrückt.«

»Wollen Sie Ihre Frau zurück oder nicht? Kommen Sie, Payne.«

Payne ächzte auf und fuhr sich mit den Händen über das Gesicht. So löste man garantiert keine Geiselnahmen. Nicht, wenn es so viele Unbekannte gab. Doch er konnte Frost auch nicht einfach so alleine das Haus stürmen lassen. Das würde garantiert schiefgehen.

Er beeilte sich, ihr hinterherzurennen. Sie verließen die Straße und liefen zwischen den Bäumen am Hang entlang zum Observatorium. Je näher sie dem Haus kamen, desto vorsichtiger waren sie, wo sie hintraten. Zum Glück umringten dichte, immergrüne Büsche das Gebäude, so dass sie genügend Deckung hatten. Auf der Rückseite des Hauses drückten sie sich an die kalte Mauer, die das Grundstück umgab.

Sie lauschten. Stille. Die Sirenen der Feuerwehr hatten aufgehört zu heulen, nur das ferne Dröhnen der Zeppeline, die über der Anhöhe kreisten, war zu hören.

Frost machte ein Zeichen, und sie gingen geduckt an der Mauer entlang, bis sie eine Bresche entdeckten. Das Mauerwerk musste vor langer Zeit schon nachgegeben haben. Der schmale Durchgang, der sich gebildet hatte, war überwuchert mit Rankenpflanzen und niedrigen Büschen. Payne zwängte sich als Erstes hindurch und zog Frost an der Hand hinüber.

Die Hintertür befand sich in einem der beiden Seitenflügel. Payne rüttelte am Knauf, doch sie war abgeschlossen.

»Lassen Sie mich es versuchen«, sagte Frost und hatte bereits ihren rechten Handschuh ausgezogen.

»Eines Tages müssen Sie mir verraten, wie genau Sie das machen.«

»Ich habe Ihnen doch gesagt, ich habe ein mechanisches Herz.«

Ein kalter Schauer fuhr Paynes Rücken hinab, als er Frost zusah. Sie kniete sich vor das Schloss, legte ihre Hand darauf, und gleich darauf hörte er das leise Klicken des einrastenden Mechanismus. Der Gedanke an ihr mechanisches Herz beklemmte ihn. Das Bild ihres vernarbten Rückens, der Metallplatte mit dem Schlüsselloch, hatte sich in sein Hirn gebrannt. Wer hatte ihr das angetan? Und wie, zum Teufel, hatte sie überlebt?

»Glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass ich selber gerne wüsste, wie und warum ich jedes Schloss öffnen kann?« Frost zog den Handschuh wieder an und öffnete so vorsichtig wie möglich die Tür.

Payne zückte seinen Revolver, zog den Kolben nach hinten und atmete tief durch. Die Gedanken an Frosts mechanisches Herz schob er beiseite. Hier ging es um Cecilia.

Frost sah ihn mit einer unausgesprochenen Frage in den Augen an. Bereit?

Frost & Payne - Die mechanischen Kinder  Die komplette erste Staffel

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