Читать книгу Frost & Payne - Die mechanischen Kinder Die komplette erste Staffel - Luzia Pfyl - Страница 37
6.
ОглавлениеConstable Nilima Manju war frustriert. Sie saß an ihrem Schreibtisch im großen Gemeinschaftsraum des Yards und starrte auf die Beige Akten, die sich vor ihr auftürmte. Seit drei Wochen traten sie und Inspektor Jones auf der Stelle, was den Fall der mechanischen Kinder anging. Weder war eine neue Leiche aufgetaucht noch hatten sie verwertbaren Hinweise oder Spuren, denen sie folgen könnten. Inspektor Welsh, der den Fall vor 20 Jahren schon versucht hatte aufzuklären, hatte sie gewarnt.
Manju ächzte auf und warf den angeknabberten Bleistift auf den Tisch. Ihre goldenen Armreifen klirrten dabei. Während Inspektor Jones sich mit Commissioner Lovett zu einem Kaffeekränzchen traf, durfte sie den liegengebliebenen Papierkram erledigen.
Sie schielte zu Sergeant Trent hinüber, der auf der anderen Seite des Raumes an seinem Tisch saß und beschäftigt aussah. Trent war verheiratet und ihren Flirtversuchen gegenüber leider völlig immun. Manju verfluchte ihre Eltern jeden Morgen, weil sie sie dazu gezwungen hatten, den Sohn des Tuchhändlers zu heiraten. Gleiche Kaste und so. Es war schon schlimm genug gewesen (praktisch Weltuntergang), dass Manju darauf bestanden hatte, der Metropolitan Police Force beizutreten.
Also auch da keine Ablenkung. Trent war die Mühe nicht wert, obwohl er ziemlich gut aussah. Sie ertappte sich bei dem Gedanken, dass sie darauf hoffte, bald möge wieder eine mechanische Leiche aus der Themse gezogen werden. Dann hätte sie wenigstens etwas zu tun.
Nein, das war grausam und morbide. Diese armen Kinder hatten solch ein Ende nicht verdient. Aber Manju wollte den Mörder unbedingt schnappen. Sie war Inspektor Jones dankbar dafür, dass er ihr eine Chance gab, denn sie war neu im Yard und unerfahren. Sie musste sich erst beweisen. Wenn sie mithalf, den Mörder dingfest zu machen, käme sie der Beförderung zum Sergeant ein Stückchen näher.
Radau hinter ihr ließ sie aufmerken. Der Lärm kam aus der Eingangshalle. Neugierig und vor allem nicht ganz undankbar für die Ablenkung vom öden Papierkram stand Manju auf. Wahrscheinlich nur wieder ein paar Betrunkene, die meinten, Stunk machen zu müssen. Doch sie täuschte sich.
Es war eine in Tränen aufgelöste Frau. Drei Mädchen hingen wimmernd an ihren Rockzipfeln und beäugten die Beamten mit großen Augen. Manju blieb etwas abseits stehen und beobachtete das Schauspiel.
Der diensthabende Desk Sergeant Livingston versuchte verzweifelt, die Frau zu beruhigen und sah dabei so hilflos und überfordert aus, als wäre gerade die Schwiegermutter seiner Albträume unangekündigt bei ihm zuhause aufgetaucht. Manju schmunzelte vergnügt.
»Bitte, Sir, ich will doch nur, dass jemand nach meinem Jungen sucht!«, rief die Frau zum dritten Mal aus.
»Ma’am, setzen Sie sich doch erst einmal.« Livingston bugsierte sie zu einer Bank. »Wie heißt Ihr Junge?«
»Cassidy, David Cassidy. Ich bin seine Mutter.«
Natürlich war sie seine Mutter. Und die drei Mädchen waren offensichtlich seine Schwestern. Aber solche Kommentare hörten die Leute meist nicht gern, wie Manju in ihren ersten Tagen im Yard hatte feststellen müssen.
Livingston hatte nun sein Notizbuch gezückt. »Seit wann vermissen Sie den Jungen, Ma’am?«
»Seit etwa drei Wochen«, antwortete die Frau und fuhr sich abwesend durch die wirren Haare. Sie sah derangiert aus.
»Und Sie kommen erst jetzt zu uns?«
Die Frau schaute zu Boden und knetete ihre Hände. Manju wusste, warum. Es gab sehr viele Menschen in London, die der Polizei nicht vertrauten, gerade in den ärmeren Schichten. Diese Frau hatte wohl lange mit sich gerungen, ins Yard zu kommen – und dabei gehofft, dass ihr Sohn doch noch auftauchte.
»Okay, wie dem auch sei«, versuchte Livingston die Situation zu retten. »Also, Ihr Sohn heißt David Cassidy.«
Die Frau nickte. »Er ist 14 Jahre alt. Ich habe ihn zum Markt geschickt, um Brot zu kaufen, weil meine Jüngste hier krank war und ich nicht selbst gehen konnte. Danach sollte er zur Arbeit beim Schuster zwei Straßen weiter, aber dort kam er nie an. Wir leben in Whitechapel, Sir. Sie wissen, wie es da ist.«
Manju verschränkte die Arme und lehnte sich an den Türrahmen. Whitechapel war ein Slum. Die örtliche Polizeistation war völlig unterbesetzt. Aber dieses Problem bestand überall, selbst hier im Yard. Manju wusste bereits, dass viele Fälle niemals aufgeklärt werden, weil einfach das Personal dazu fehlte. Mit diesem vermissten Jungen wird es sich wohl ähnlich verhalten. Livingston würde eine Akte anlegen und sie, zusammen mit drei Dutzend anderen Fällen, an die Sergeants und Inspektoren des Yards weiterleiten. Dann würde sie im Gemeinschaftsraum auf irgendeinem Schreibtisch liegen bleiben.
Manju hatte genug gesehen und wandte sich ab. Auf ihrem eigenen Schreibtisch türmte sich der Papierkram. Leider erledigte der sich nicht selbst. Und bevor Jones zurückkam, sollte sie vielleicht doch einiges davon erledigt haben.
Frost war frustriert. Nichts ergab Sinn, und diese verdammte grüne Seite machte sie noch wahnsinnig. Zum wohl hundertsten Mal ging sie das Buch des Alchemisten von vorne bis hinten durch, zog Jonahs Notizen zu Rate, doch es blieb bei dem, was sie bereits wussten. Die Bibliothek war vor zweihundert Jahren versteckt worden, um die wertvollen Bücher und deren gesammeltes Wissen vor Cromwells Schergen zu verbergen. Der Apotheker Burlington, der eigentlich ein Alchemist war, hatte sie einem Adligen aus Yorkshire anvertraut und für den Fall, dass ihm oder diesem adligen Freund etwas zustieß, Hinweise in seinen Aufzeichnungen hinterlassen.
Die einzigen Hinweise, die sie hatten, waren die grüne Seite und die Stadt York. Frost hatte alle möglichen Tricks versucht, mehr aus dem bemalten Papier zu locken. Sie hatte die Seite vorsichtig gegen eine Flamme gehalten, falls Geheimtinte im Spiel war. Sie hatte das Buch über dem Dampf der frischen Teekanne geschwenkt, was nur zur Folge hatte, dass sich einige der Seiten wegen der Feuchtigkeit kräuselten.
Jonah würde sie garantiert umbringen, wenn sie sein Buch beschädigte.
»Ich gebe es auf.« Genervt legte sie das Buch beiseite und schaute aus dem Fenster. Es war früher Abend, und über den Dächern von York ging gerade die Sonne unter. Aus dem Badezimmer hörte sie die laufende Dusche.
Der Hinweis mit der grünen Buchseite musste etwas mit der Gegend hier zu tun haben, ging es Frost durch den Kopf. Oder die Farbe Grün hatte eine spezielle Bedeutung, die sie zum nächsten Hinweis führen könnte. Vielleicht die dominante Farbe im Familienwappen des unbekannten Adligen, der die Bücher für Burlington versteckt hatte?
Entschlossen stand sie auf und verließ das Zimmer. Sie wusste, wen sie fragen konnte.
Als sie die Hotellobby betrat, kam gerade eine Gruppe Wikinger herein. Frost blieb erschrocken stehen, schüttelte dann jedoch den Kopf. Das war töricht. Es waren nur verkleidete Besucher des Festivals. Betrunkene junge Männer, die sich als Krieger verkleidet hatten und Äxte aus Holz und Pappe schwangen. Zwei von ihnen machten anzügliche Bemerkungen, als sie an ihr vorbeigingen.
Frost hob nur abschätzig eine Augenbraue und wartete, bis die Lobby leer war. Der alte Mann hinter dem Tresen sah erleichtert aus, als die jungen Männer verschwunden waren. Sein Blick traf den von Frost, und sie schlenderte an den Tresen.
»Wie gefällt Ihnen das Festival bisher, Miss?«, fragte er höflich.
»Ganz gut«, antwortete Frost und lächelte. Das Wikingerfest war tatsächlich ein Glücksfall, dachte sie. Niemand würde naseweise Fragen nach dem Grund ihres Aufenthalts in York stellen. »Mein Begleiter ist sehr fasziniert.«
»Ah, ja, die Amerikaner haben nicht ganz so viel kulturellen Hintergrund wie wir, nicht wahr?«
Frosts Lächeln verbreiterte sich, im vollen Bewusstsein, dass ihr Lächeln falsch war. Dieser alte Sack sollte besser aufpassen, was er sagte. Sie räusperte sich und lehnte sich vertrauensvoll über den Tresen. »Sind Sie ein echter Yorkshire?«
»Mit Leib und Seele, Madam«, sagte er sichtlich stolz. »Ich bin drei Straßen von hier geboren.«
»Dann habe ich den richtigen Mann gefunden. Sehen Sie, ein Freund von mir hat sich einen kleinen Scherz mit uns erlaubt. Er liebt Rätsel. Wir sollen ihn für die Geburtstagsfeier seiner Schwester an einem geheimen Ort treffen, doch den einzigen Hinweis, den wir von ihm erhalten haben, ist eine grün eingefärbte Seite in einem Buch. Ich bin Londonerin und mit der Gegend hier nicht vertraut. Und mein amerikanischer Partner ist nicht gerade eine große Hilfe bei der Sache.« Sie seufzte ergeben auf und wartete auf eine Reaktion.
»Eine grüne Buchseite, sagen Sie? Lassen Sie mich nachdenken. Grüne Seite, hm…« Der alte Mann strich sich nachdenklich über den grauen Bart. »Es gibt einen Ort namens Greenside, oben im Kohlegebiet an der Grenze zu Northumberland. Könnte es das sein?«
Frost hob die Augenbrauen. »Gut möglich. Mein Freund denkt sich immer solche dummen Dinge aus.« Sie zögerte. »Fällt Ihnen sonst noch etwas zur Farbe Grün ein? Ein altes Familienwappen vielleicht?«
Wieder überlegte der alte Mann, schüttelte dann jedoch den Kopf. »Es gibt einen Pub namens Green Frog in der Nähe des Münsters. Früher hieß das Lokal jedoch The Drunken Monch.«
Nein, das Pub war es kaum. Die Ortschaft namens Greenside klang da vielversprechender. Frost bedankte sich und war dabei, sich umzudrehen, als ihr noch etwas einfiel. »Sie haben nicht zufälligerweise eine Karte der Gegend?«
»Greenside, hm?«
Wassertropfen fielen mit einem leisen Plopp auf die Landkarte, die Frost vor sich auf dem Tisch ausgebreitet hatte. »Sie tropfen.«
»Oh, ’tschuldigung.« Payne grinste schief und rubbelte sich die nassen Haare etwas weniger vehement.
Frost schaute auf. Payne stand nur mit einem Handtuch bekleidet vor ihr. Die Narbe auf seinem Bauch, gleich unterhalb der Rippen, leuchtete rot. Sie hatte ihn eigenhändig verarztet, als er auf dem Weg in die Agentur zusammengebrochen war. Damals hatten sie und Helen sich jedoch auf das Wesentliche beschränkt und ihm das Hemd nur soweit ausgezogen, dass sie die Wunde nähen konnten.
Ihr Blick wanderte nach oben. Definitiv keine Hühnerbrust. Unterhalb der rechten Schulter hatte er eine weitere Narbe, rund wie von einer Schusswunde.
Auf einmal wurde Frost bewusst, dass Sie Payne anstarrte. Ungewollt stieg ihr die Röte ins Gesicht. »Ziehen Sie sich etwas an, Payne. Ihre Manieren lassen ziemlich zu wünschen übrig.« Sie zwang sich, sich auf sein Gesicht zu konzentrieren. »Es reicht, dass wir uns ein Zimmer teilen müssen.«
Als Payne sich zur Kommode umdrehte und anfing, in seinen Kleidern zu wühlen, atmete sie tief durch. Verdammt, er war verheiratet. Mit einer ziemlich coolen Frau sogar, der sie nicht einmal das Wasser reichen konnte, wenn sie gewollt hätte. Manieren hatte der Amerikaner wirklich keine. Besäße er auch nur einen Funken Anstand, würde er es nicht wagen, in ihrer Gegenwart halbnackt herumzulaufen.
»Also, dieses Greenside«, fing Payne wenig später wieder an, als er sich gänzlich angezogen zu ihr an den Tisch setzte. »Ist das weit von hier?«
Frost schüttelte den Kopf und tat so, als wäre er nicht vor wenigen Minuten noch tropfend vor ihr gestanden. »Weit ist relativ. Es ist noch in Yorkshire, jedoch nahe der Grenze zu Northumberland. Das Dorf liegt mitten im Kohleabbaugebiet, vermutlich gibt es eine Mine im Dorf selbst. Der Kohlebergbau ist hier oben die wichtigste Industrie.« Sie fuhr mit dem Finger einer imaginären Linie entlang, die von der Küste im Osten bis hinunter nach Leeds führte. »Greenside liegt hier. Morgen früh nehmen wir den Zug nach Newcastle-upon-Tyne. Von dort aus sollten wir eine direkte Verbindung nach Greenside haben.«
»Gut. Was ist, wenn uns der Inspektor wieder folgt?«
»Wir werden uns wohl etwas einfallen lassen müssen. Aber solange wir nicht wieder jemanden erschießen, kann er von mir aus beobachten, was er will. Er hat nichts gegen uns in der Hand.«
Payne griff nach seinem Tabaketui und begann, sich eine Zigarette zu drehen. Frost legte das Kinn auf die Hand und stützte den Ellbogen auf den Tisch. Sie musterte den Pinkerton neugierig. Ihr fiel auf, dass sie eigentlich gar nichts über ihn wusste. »Erzählen Sie mir von Ihrer Arbeit, von Amerika. Wie sind Sie zu der Schusswunde gekommen?« Sie spielte auf die Narbe auf seiner Schulter an.
Payne steckte sich die fertig gerollte Zigarette hinter das Ohr. »Da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich habe einen Fehler gemacht und fast mit meinem Leben dafür bezahlt.« Er zögerte, sagte dann jedoch nichts mehr.
Frost bemerkte, dass er sich vor ihr verschloss und das Thema nicht weiter bereden wollte. Sie fragte sich, warum Payne nie etwas über seine Heimat erzählte, geschweige denn über seine Arbeit als Pinkerton. Die wenigen Amerikaner, die sie bisher kennengelernt hatte – meist neureiche Geschäftsmänner –, prahlten nur zu gern von der Größe und den Reichtümern Amerikas. Vor allem der Westen war seit dem Goldrausch vor vierzig Jahren das neue Wunderland. Payne hingegen schwieg beharrlich.
Die Narbe an der Schulter war ein knappes Jahr alt. Das musste passiert sein, kurz bevor er nach London gekommen war. Was war dem Pinkerton widerfahren, dass er seinen Job an den Nagel gehängt und nach London gereist war, nachdem er zwei Jahre lang damit gewartet hatte?
Doch sie respektierte seine Entscheidung, die Sache für sich zu behalten. Vielleicht würde er es ihr eines Tages erzählen.
»Schneller, Miss Frost! Wir können es noch schaffen.«
Ein lauter Pfiff hallte über den Perron. »Warum, zum Teufel, fährt dieser verdammte Zug zehn Minuten früher ab? Auf dem Fahrplan steht 8:46 Uhr!« Frost mühte sich mit ihrem Koffer ab und fluchte vor sich hin. Ihre Röcke verhedderten sich zwischen ihren Beinen und waren ganz und gar unpraktisch zum Rennen. Sie hätte doch besser die Pluderhose anziehen sollen!
Payne drehte sich im Lauf zu ihr um und nahm ihr den Koffer aus der Hand. »Sie können sich darüber aufregen, sobald wir in einem der Wagen sitzen. Kommen Sie.«
Wieder stieg ein durchdringender Pfiff von der Lokomotive auf. Dampf und schwarzer Rauch füllten den Bahnsteig. Dann ging ein Ruck durch die lange Wagenreihe. Der Schaffner stieß einen kurzen Pfiff aus seiner Trillerpfeife aus und stellte sich in die offene Tür des hintersten Wagens. Dann sah er Payne und Frost.
»Halt, warten Sie!«, rief Frost und winkte. »Wir müssen noch mit!«
Payne warf dem verdutzten Schaffner seine Tasche zu und dann Frosts Koffer hinterher. Er drehte sich halb zu Frost um und packte ihre Hand. »Los, rauf mit Ihnen.«
Frost bekam die Stange außen am Wagen zu fassen und hüpfte auf das Trittbrett. Payne sprang ihr hinterher und blieb keuchend neben ihr stehen.
»Also, ich habe ja schon viel gemacht«, sagte Frost und hielt sich nach Atem ringend die Seite, »aber auf einen fahrenden Zug aufgesprungen bin ich noch nie.«
Payne lachte auf, und Frost konnte nicht umhin mitzulachen. Das Adrenalin rauschte durch ihren Körper und verlieh ihr ein Gefühl des Überschwangs. »Das machen normalerweise ja auch nur wir Amerikaner.«
»Vom Pferd aus!« Wieder musste sie lachen. Dann bemerkte sie, dass der Schaffner immer noch neben ihnen stand und sie irritiert anschaute. »Guten Morgen, Sir«, sagte sie, »danke, dass Sie uns die Tür aufgehalten haben.«
»Äh …« Der Schaffner schaute zwischen Frost und Payne hin und her. »Ihre Fahrscheine, bitte?«
Der Schaffner war es auch, der ihnen auf dem Weg zu einem freien Abteil erklärte, warum der Zug früher abgefahren war. »Wir erwarten einen Sturm aus Norden.«
Frost hob irritiert die Augenbrauen. »Ich bin mir sicher, dass so ein Sturm den Bahnverkehr nicht sonderlich aufhalten wird, oder?«
Der Schaffner zuckte nur mit den Schultern und schob die Tür zum Abteil auf. »Ich wünsche Ihnen eine angenehme Fahrt.«
»Schon ein wenig merkwürdig«, murmelte Frost, als sie alleine waren. Der Zug beschleunigte, nun, da er den Bahnhof hinter sich gelassen hatte, und fuhr in die Weiten des Nordens von Yorkshire.
»Das Positive an der Sache ist, dass der gute Inspektor Flannagan den Zug garantiert verpasst hat. Ich habe noch gesehen, wie er hinter uns aus einer Droschke gestiegen ist. Er hat wohl nicht damit gerechnet, dass wir vom Ticketschalter aus direkt auf das Gleis rennen.«
»Ich hätte zu gern sein Gesicht gesehen«, meinte Frost und verstaute ihren Koffer über dem Sitz. Mit einem Seufzer ließ sie sich zurück auf die Bank fallen. Vor dem Fenster zog das Umland von York vorbei.
Sie wandte sich ab und kramte ihr Buch hervor. Sie mochte solch weite Landschaften nicht. Sie brauchte Häuser um sich herum, gepflasterte Straßen und das Zischen und Dampfen von Maschinen. Hier auf dem Land fühlte sie sich, als würde der Horizont sie aussaugen und in alle Himmelsrichtungen verteilen. Es gab nur endlose Hügel in verschiedenen Grün- und Brauntönen, vereinzelte Wäldchen, und vor allem gab es den weiten Himmel.
Sie vermisste London gerade schmerzlich.
Payne hingegen hing am Fenster, das Kinn auf die Handfläche gestützt. Frost konnte nicht nachvollziehen, was an dieser Landschaft reizvoll war. Es war irgendwo zwischen Winter und Frühling, alles war matschig, grau und braun und vor allem kahl. Sie fand die Vorstellung, die nächsten Tage in einem winzigen Dorf im Nirgendwo zu verbringen, nicht gerade reizvoll. Aber je schneller sie die Bibliothek fanden, desto schneller konnte sie wieder zurück nach London.
Schon von Weitem konnten sie die vielen Türme der Bergwerke sehen. Sie ragten wie Ungetüme am Horizont aus dem Nebel auf. Die riesigen Räder, an denen die Stahlkabel und die Kabinen hingen, verliehen den Türmen das Aussehen von Zyklopen. Greenside selbst schmiegte sich in eine Furche zwischen zwei Hügeln, eine Ansammlung von Häusern und Baracken. Das Dorf war größer, als Frost gedacht hatte, doch angesichts der riesigen Türme, unter denen sich jeweils ein Minenschacht befand, musste unter ihnen jede Menge Kohle lagern. Arbeit für sehr viele Menschen.
Am Bahnhof waren sie die einzigen, die den Zug verließen. Die Arbeiter waren längst unter Tage, und sonst gab es hier nichts, was auswärtige Gäste anlocken könnte. Auf den beiden anderen Gleisen warteten lange Güterzüge darauf, mit Kohle beladen zu werden, um diese dann über ganz England zu verteilen.
Überall war Kohle. Selbst die Luft fühlte sich schwerer an. Auf dem Boden befand sich eine feine Schicht Kohlestaub, und die ehemals gelbe Fassade des Bahnhofsgebäudes hatte ein trübes Grau angenommen.
»Meine Lungen werden schwarz sein, wenn wir hier wieder abreisen.« Frost nahm ihren Koffer und ging voran. Hoffentlich gab es hier wenigstens Kutschen oder Droschken, die sie zu einem Hotel oder einer Herberge bringen konnten.
»Grün ist hier wahrlich kaum etwas«, stimmte Payne trocken zu und schulterte seine Tasche.
Natürlich standen keine Kutschen vor dem Bahnhof, um Passagiere zu fahren. Doch gleich auf der anderen Seite des Platzes, der obendrein die Dorfmitte war, stand eine Herberge. Daneben befand sich eine kleine Kirche, deren Mauern früher einmal weiß getüncht gewesen waren, sowie eine Kneipe. Die große Eiche in der Mitte des Platzes war kahl und wartete auf den Frühling.
Ein paar Dorfbewohner standen vor der Kirche beisammen und rauchten. Frost bemerkte ihre Blicke, als sie den Platz überquerten. Sie reichten von misstrauisch bis gerade heraus feindselig.
»Die Leute hier scheinen Fremde nicht sonderlich zu mögen«, bemerkte auch Payne.
»Wir sind ja auch angezogen wie bunte Städter.« Die Kleider der Dorfbewohner waren tatsächlich schlicht und vor allem gedeckt gehalten. Frosts dunkelblaue Robe fiel dadurch noch mehr auf.
»Kümmern Sie sich nicht um die«, rief ihnen jemand entgegen, und sie drehten sich verwundert um. Vor der Herberge stand eine matronenhafte Frau, deren riesiger Busen beinahe das Korsett sprengte. Sie hatte einen breiten Schal um die Schultern drapiert und trug ein mehrschichtiges Kleid aus brauner und grauer Wolle. Die grauen Haare hatte sie zu einem losen Knoten gesteckt, ihr rundes, freundliches Gesicht zierte ein schiefes Lächeln. »Die schauen selbst den neuen Priester misstrauisch an. Kommen Sie rein. Sie möchten bestimmt ein Zimmer mieten.«
»Zwei, wenn es geht«, korrigierte Frost die Frau und folgte ihr hinein in die Herberge. Sie wollte nicht wieder mit Payne ein Zimmer teilen. Es war einfach zu merkwürdig, vor allem, weil sie Geschäftspartner waren. Sie hatte jetzt schon viel zu viel Privates von Payne gesehen, auch wenn ihr das Gesehene gefallen hatte.
»Was führt Euch denn nach Greenside?«, fragte die Matrone, während sie ein paar leere Gläser von einem Tisch räumte. Die linke Hälfte des großen Raumes diente als Essplatz für Gäste. Zwei Männer nickten der Frau dankend zu und verließen die Herberge, wobei sie Frost und Payne musternd anschauten. »Habt einen guten Tag, Mr. Henry, Mr. Trench. Die beiden Gentlemen sind Vorarbeiter der Coal River Company und kommen nach ihrer Schicht immer auf ein Bier zu mir«, fügte sie erklärend zu Frost und Payne gewandt an.
Frost schaute sich um. Der weite Raum war mit dunklem Holz getäfelt, die obere Hälfte der Wände bedeckte eine helle, gemusterte Tapete. Auf der rechten Seite befand sich ein Kamin. Mehrere bequem aussehende, aber etwas in die Jahre gekommene Sessel standen davor. Ein Bücherregal zierte die Wand daneben. Von der Decke hingen zwei Kronleuchter mit Glaskristallen. Dicke Teppiche nahmen dem Steinboden etwas Härte. Die Herberge sah gemütlich und sauber aus.
»Wir sind im Auftrag eines Klienten hier«, sagte Frost und löste den Schal. Das Feuer verbreitete eine angenehme Wärme.
»Sagen Sie nicht, Sie sind Anwälte«, rief die Frau erheitert aus. »Aus London, ja?«
»Wir sind aus London, das stimmt.« Frost schmunzelte. Ihr Dialekt hatte sie wohl verraten. »Aber Anwälte sind wir ganz bestimmt nicht. Unser Klient hat uns damit beauftragt, etwas über seine Ahnen in Erfahrung zu bringen. Mein Name ist Lydia Frost, und dies ist mein Partner, Jackson Payne.« Sie deutete auf Payne, der kurz nickte.
»Also, von so etwas habe ich ja noch nie gehört. Ihr Londoner seid so exzentrisch.« Die Matrone kicherte kurz und stellte sich dann vor. »Ich bin Gladis McArthur, mir gehört diese Herberge. Ich bin mir sicher, Sie wollen sich von der langen Reise erholen. Warten Sie, meine besten zwei Zimmer sind zurzeit frei – Gäste haben wir hier oben selten, leider.«
Frost und Payne tauschten einen amüsierten Blick. Gladis McArthur musste der Sonnenschein von Greenside sein.
Die beiden Zimmer lagen direkt nebeneinander im Obergeschoss. In beiden befand sich eine identische Einrichtung, schlicht zwar, aber gemütlich. Frost schaute sich zufrieden um und machte sich daran, ihre Sachen auszupacken. Erfreut stellte sie fest, dass es eine Wanne gab. Vor dem Abendessen würde sie sich ein ordentliches Bad gönnen, um den Schmutz der Reise abzuwaschen.