Читать книгу Frost & Payne - Die mechanischen Kinder Die komplette erste Staffel - Luzia Pfyl - Страница 21
4.
ОглавлениеIm Borough Market herrschte reger Betrieb, als Payne daran vorbeiging, doch er warf nur einen kurzen Blick auf die Händler und deren Stände, die sich unter dem Gewicht der zum Kauf angebotenen Ware bogen. Frost erwartete ihn bei der Waffenfabrik, die sie gestern besucht hatte. Sie hatte darauf bestanden, dass sie in aller Herrgottsfrühe mit der Befragung der Verdächtigen anfingen.
Southwark wurde von den Fabriken beherrscht. Hinter dem Bahnhof ragten die ersten Schlote in den Himmel und verpesteten die Luft. Payne hätte sehr viel gegeben, nördlich der Themse zu wohnen, doch hier waren die Häuser fast so günstig wie in Whitechapel. Nur der Slumcharakter fehlte, was vor allem Cecilia sehr schätzte.
Er schlang sich den Schal über Mund und Nase, um sich vor dem Smog zu schützen. Zweimal musste er Arbeiter nach dem Weg fragen, die Backsteinhäuser und Hallen sahen alle gleich aus. Als er endlich durch das weit offen stehende Tor der richtigen Fabrik trat, sah er Frost schon von Weitem winken. Sie stand etwas abseits einer Halle, wo gerade eine Lieferung Kohle ausgeladen wurde. Die Luft war beinahe schwarz und greifbar vom Kohlestaub.
»Morgen!«, rief Frost und trat auf Payne zu. Auch sie hatte ihr Gesicht in den Schal gehüllt. Für seinen Geschmack war sie viel zu wach so früh am Tage. Ihre Augen funkelten zu ihm auf. »Lost Treasures.«
»Was?« Payne hob irritiert die Augenbrauen.
»Lost Treasures, was meinen Sie? Für unsere Agentur.«
»Unsere Agentur? Ich dachte, ich arbeite für Sie.«
Frost zuckte mit den Schultern. »Details, Mr. Payne, Details.«
»Finden Sie nicht, dass ›verlorene Schätze‹ mehr nach Piraten klingt?« Payne musste schmunzeln. Rein theoretisch hätte er nichts dagegen einzuwenden, Pirat zu sein.
»Die Menschen kommen zu uns, weil sie etwas verloren haben, sei es eine Person oder einen Gegenstand. Für diese Menschen sind das Schätze, die wir wiederbeschaffen sollen«, erläuterte Frost. »Wir sind also theoretisch eine Schatzjäger-Agentur.«
Payne lachte auf. »Sie meinen das tatsächlich ernst. Okay, wie Sie wollen. Agentur ist Agentur, finde ich.«
Frost lächelte und kramte dann in ihrer Umhängetasche. »Hier, ich habe etwas für Sie.« Sie drückte ihm einen Gegenstand in die Hand. Payne starrte auf das Gerät und konnte sein Erstaunen kaum verbergen. »An Ihrem Pokerface müssen wir noch ein wenig arbeiten. Ich dachte, ihr Pinkertons seid gut darin.«
»Miss Frost, das ist ein Aethercom.« Als ob sie das nicht wüsste. Payne betrachtete das Gerät in seiner Hand. Es war leicht, wog wahrscheinlich kaum mehr als ein paar hundert Gramm. Das Kupfer, mit dem es ummantelt war, schimmerte im frühen Morgenlicht. Die sogenannten Aether-Kommunikatoren waren der neueste Schrei. Sie ermöglichten die direkte Verständigung zwischen zwei Menschen via Aether und bedrängten die Telegrafie stark. Die High Society, egal aus welcher Stadt, stritt sich regelrecht um sie. »Das kann ich nicht annehmen. Wissen Sie, wie teuer die Dinger sind?«
Wieder zuckte Frost mit den Schultern. »Ich habe seit gestern sehr viel Geld, ich gedenke es dementsprechend auch auszugeben. Und sobald wir den Fall gelöst haben, kommt noch mehr Geld rein. Ich habe mir übrigens erlaubt, meine Nummer in Ihrem Gerät abzuspeichern. Drücken Sie die Taste eins.«
Payne klappte das Aethercom auf und drückte auf die verlangte Taste. Gleich darauf fing Frosts eigenes Aethercom an, piepsende Geräusche von sich zu geben. Sie strahlte, klappte das Gerät auf und hielt es sich ans Ohr.
»Hallo, hier ist Lydia Frost, mit wem spreche ich?«
»Sie sind eine Schande.«
»Und Sie sind ein Spielverderber.« Frost klappte das Aethercom zu und steckte es in ihre Tasche, doch Payne konnte das Grinsen, das sie zu verbergen versuchte, deutlich erkennen. »Kommen Sie, wir haben viel Arbeit vor uns.«
»Yes, Ma'am.« Payne schmunzelte und hielt ihr die Tür auf.
Die Schleuse schloss sich zischend hinter ihnen. Payne pfiff durch die Zähne, als er sich umschaute. Frost hatte nicht übertrieben mit ihren Schilderungen. Hier unten befand sich tatsächlich eine hochmoderne Waffenfabrik.
Frost griff in ihre Tasche und reichte ihm einen Stapel Akten. »Wir teilen uns am besten auf.«
»Was ist mit diesem Baxter?«, fragte er. »Glauben Sie, dass er vielleicht etwas mit dem Diebstahl zu tun hat?«
»Die Möglichkeit habe ich bereits in Erwägung gezogen. Vermutlich hat der Dieb nicht alleine gearbeitet.« Sie erreichten die erste Werkstatt und blieben davor stehen. »Treffen wir uns wieder an der Schleuse?«
Payne nickte. Frost betrat die Werkstatt und sprach einen der Wissenschaftler an. Payne erkannte ihn als einen der Verdächtigen. Er wandte sich dem Arbeitsraum gegenüber zu. Einen Moment lang wog er die Chancen ab, wie Frost zu seinen nicht so sanften Pinkerton-Verhörmethoden stehen könnte. Sie brachten Resultate, hinterließen jedoch sehr oft gebrochene Nasen. Und anderes. Nein, zivilisiertes Ausfragen musste genügen.
Ein einzelner Mann saß an einer Werkbank. Payne betrachtete die Lichtbilder, die mit Klammern auf den Deckblättern der jeweiligen Akten festgemacht waren. »Sind Sie Mr. Arthur Giles?«
Der Mann Ende dreißig saß über dem geöffneten Gehäuse einer Apparatur und war gerade dabei, mit einer Pinzette und einem Lötkolben etwas darin anzubringen. »Der bin ich«, sagte er, ohne aufzuschauen. »Und wer sind Sie?«
»Mein Name ist Jackson Payne. Ich würde Ihnen gerne ein paar Fragen stellen.«
»Polizei?« Mr. Giles schaute nun auf, schob sich die Schutzbrille in die Stirn und musterte Payne misstrauisch.
»Nein.«
»Hm. Und was sind das für Fragen, die Sie mir stellen wollen, Mr. Payne?« Er wandte sich wieder der Apparatur zu. Der Lötkolben zischte leise. »Sie sehen, ich bin beschäftigt.«
Payne kannte solche Leute wie diesen Giles. Sie gaben vor, sich nicht für einen zu interessieren und zeigten die kalte Schulter. Doch er konnte an der Körperspannung des Mannes sehr genau erkennen, dass er auf der Hut war und alles andere als uninteressiert.
»Was haben Sie am Montag nach offiziellem Dienstschluss hier gemacht, Mr. Giles?«
Giles hielt inne. Wieder schob er sich die Schutzbrille in die Stirn. »Sie sind von der Betriebsaufsicht. Ja, ich habe recht, stimmt's?«
Payne erwiderte sein Grinsen mit einem leichten Lächeln, das seine Augen nicht erreichte. »Beantworten Sie einfach die Frage, Sir.« Er hatte nicht viel übrig für Männer wie Giles. Während seiner Zeit als Pinkerton hatte er es mit vielen seiner Sorte zu tun bekommen. Offensichtlich gab es sie auch hier in London.
»Ich habe gearbeitet«, sagte Giles und legte den Lötkolben in die Schutzhalterung. »Wir haben hier enge Vorgaben und – ich hänge ein wenig im Zeitplan hinterher.«
»Kann das jemand bestätigen?«
Der Techniker überlegte einen Moment. »Ich war nicht der einzige, der am Montagabend noch gearbeitet hat. Ich bin mir sicher, dass mich jemand gesehen hat. Die Wachmänner, fragen Sie die. Oder Sanderson, der war ebenfalls hier«, fügte er energisch hinzu.
Payne verlagerte sein Gewicht auf das andere Bein und ging dann ein paar Schritte im Raum hin und her. »Was wissen Sie über die Waffen, die Sie hier produzieren?«
Giles legte die Stirn in Falten. »Es sind Prototypen für neuartige Waffensysteme. Wir arbeiten direkt für das Militär und das Königshaus. Einige der neusten Erfindungen verwenden eine Aether-Elektrik-Fusionstechnik.«
»Sind diese Prototypen wertvoll?«
»Oh ja, sehr sogar. Aber das wissen Sie bereits, nicht?« Giles setzte ein Lächeln auf. »Kommen Sie schon, fragen Sie mich, ob ich den Prototypen gestohlen habe.«
Payne ließ sich seine Verwunderung über die Dreistigkeit dieses Mannes nicht anmerken. Natürlich hatte sich der Diebstahl mittlerweile herumgesprochen. »Haben Sie die Waffe gestohlen, Mr. Giles?«
»Nein.« Er hob die Hände. »Auch wenn ich zugeben muss, die Möglichkeit dazu gehabt zu haben. Ich bin nicht der einzige hier unten, der von anderen Parteien angesprochen worden ist.«
Payne wurde hellhörig. »Erzählen Sie mir mehr.«
»Ich dachte mir nichts dabei. Es ist normal, dass Fabrikanten sich gegenseitig ausspionieren. Und wenn jemand den Prototypen haben wollte, so hat er eine Möglichkeit gefunden, wie wir beide wissen. Ich weiß von Henry Walker zum Beispiel, dass jemand ihm eine sehr hohe Summe angeboten hatte.«
Der Name kam Payne nicht bekannt vor. Entweder war dieser Henry Walker auf der aussortierten Beige gelandet, oder er gehörte zu Frosts Verdächtigen. »Wo finde ich diesen Mann?«
Giles zuckte mit den Schultern. »Ich habe ihn seit Montag nicht mehr gesehen. Vielleicht ist er krank? Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, Mr. Payne, ich habe zu tun.«
Payne überließ Giles seiner Arbeit und ging zurück auf den Gang hinaus. Rasch sah er seinen Aktenstapel durch, doch er fand keinen Henry Walker. Er notierte den Namen in sein Notizbuch.
Die restlichen Gespräche verliefen beinahe genauso erfolglos. Niemand konnte oder wollte ihm genauere Auskunft erteilen, und alle gaben an, mit der Arbeit in Verzug zu sein und deswegen Überstunden zu machen. Und sie alle meinten, von jemand anderem gesehen worden zu sein während dieser Zeit.
»Es ist, als würden sie alle unter einer Decke stecken«, brummte Frost eine Stunde später, als sie die Treppen hinauf in die normale Werkhalle stiegen.
»Sie arbeiten für eine geheime Firma«, erwiderte Payne, »wir können kaum erwarten, dass man uns mit offenen Armen empfängt.«
»Trotzdem. Was ist mit diesem Mann, der seit Montag verschwunden ist?«
Das helle Tageslicht blendete sie nach der langen Zeit im künstlichen Aetherlicht unter Tage. Payne kniff die Augen zusammen. »Henry Walker, einer der Dampftechniker.«
»Henry Walker ist soeben auf der Verdächtigenliste weit nach oben gerutscht. Wir haben ihn übersehen, weil er zur normalen Zeit seinen Arbeitsplatz verlassen hat. Damit haben wir es mit mindestens zwei Personen zu tun.«
Payne stimmte zu und runzelte die Stirn. Sie gingen unter dem Viadukt hindurch, der in den London Bridge Bahnhof mündete. Als ein Zug über ihnen durchfuhr, wurde es für einen Moment so laut, dass sie sich kaum verstehen konnten. Der stechende Geruch von brennender Kohle und Rauch stieg ihnen in die Nasen.
»Wir wollten noch mit Sanderson, dem Privatsekretär, reden«, rief Frost durch den Lärm. »Er hat freien Zugang zur Fabrik und kann kommen und gehen, wie es ihm beliebt.«
Payne nickte. »Zwei der Arbeiter haben bestätigt, dass Sanderson an dem Abend dort war.«
Sie machten rechtsum kehrt und gingen zurück. Neben der Fabrikhalle stand ein einfacher Backsteinbau, der als Bürogebäude diente. Das Innere war jedoch alles andere als einfach gehalten. Die Wände waren mit Mahagoni getäfelt, und dicke, lange Teppiche mit orientalischen Knüpfungen bedeckten den Boden. Die wenigen Möbel, die sie sahen, waren ebenfalls aus Mahagoni. Aetherlampen in gusseisernen Halterungen tauchten alles in warmes Licht.
»Jemand ist sehr reich«, murmelte Frost, als sie sich umschauten. »Und zeigt diesen Reichtum gern den kleinen Arbeitern.«
Payne deutete auf eine Tür, auf der Sandersons Name stand. Frost klopfte an, doch sie bekamen keine Antwort. Stattdessen hörten sie einen Schrei.
Ohne zu zögern öffnete Frost die Tür und stoppte mitten in der Bewegung. Payne wäre beinahe mit ihr zusammengeprallt, doch er sah sofort, warum sie gestoppt hatte.
Sanderson stand hinter dem Schreibtisch und zielte mit einem Revolver auf die Stirn eines Mannes, der aus dem Sessel vor dem Tisch aufgesprungen war. Der Sessel lag umgekippt auf dem Boden, und der Mann hatte ein Messer in der Faust.
Das Geräusch von einer zuschlagenden Tür riss ihn aus dem Schlaf. Das Licht einer hellen Aetherlampe blendete ihn schmerzhaft, als er blinzelnd die Augen öffnete. Sein Kopf fühlte sich schwammig an, und er war sich beinahe sicher, noch vor einer Minute über den Markt geschlendert zu sein.
Als Schritte sich näherten, wollte er sich aufrichten. Doch seine Arme bewegten sich nicht. Fesseln? Panik stieg in ihm auf, doch alles Zerren nützte nichts. Er lag auf einem kalten Tisch, mit Gurten festgemacht.
Die Schritte kamen abermals näher und hörten dann auf.
»Wo bin ich?«, verlangte er zu wissen. »Warum bin ich gefesselt?«
»Sei still, Nummer 23.«
»Mein Name ist David, David Cassidy!«
»Dein Name interessiert mich nicht«, sagte der Mann im weißen Kittel, der sich nun neben dem Tisch mit etwas, das er nicht sehen konnte, beschäftigte. Er hörte das Klimpern von Besteck. Dann drehte der Mann sich um und zog ein in Leder gebundenes Tagebuch aus dem Kittel. Er musterte ihn eingehend, fühlte an Davids Handgelenk nach dem Puls. Dann machte er sich Notizen.
»Sind Sie ein Arzt?« Er bekam keine Antwort. »Warum bin ich hier? Lösen Sie die Fesseln, sofort!«
»Erinnere mich daran, beim Nächsten die Dosis des Chloroforms zu erhöhen, Nummer 23. «
»Beim Nächsten?« David schaute sich erst jetzt richtig um. Der Raum war spärlich beleuchtet. Wände und Boden waren mit weißen Keramikplatten getäfelt. Ein seltsamer Sessel, der irgendwie einem Barbierstuhl ähnelte, stand in der Nähe. Auch da befanden sich Schnallen und Fesseln. Auf einem anderen Tisch standen merkwürdige Apparaturen. Metall schimmerte. In Gläsern blubberten seltsam gefärbte Flüssigkeiten über Bunsenbrennern.
Das hier war kein Arzt, wurde es ihm schlagartig bewusst. Er war tatsächlich noch vor Kurzem über den Markt geschlendert. Man hatte ihn entführt. Sein Herz begann zu rasen. Feuchtkalter Schweiß trat ihm auf die Stirn.
»Wie alt bist du, Nummer 23?«
»Vierzehn«, sagte er nach kurzem Zögern. Doch der kalte Blick des Mannes sagte ihm, dass er besser sofort antwortete. Solche Männer verhießen meist nichts Gutes, seiner Erfahrung nach.
»Krankheiten?«
Er schüttelte den Kopf, der Mann machte sich Notizen. Dann musterte der Mann ihn lange.
»Ich glaube, du bist kräftig genug für ein Organ. Nummer 20 bis 22 waren etwas enttäuschend gewesen, kränklich sogar. Wollen wir dann gleich loslegen?«
Davids Augen weiteten sich vor Schrecken, als er die Säge sah.