Читать книгу Frost & Payne - Die mechanischen Kinder Die komplette erste Staffel - Luzia Pfyl - Страница 16
13.
ОглавлениеMrs. Payne brauchte etwas mehr Überredung als ihr Mann. Frost erwähnte ihr gegenüber nicht, dass sie Payne bei der Suche nach Annabella helfen würde. Die Angelegenheit um das Verschwinden ihrer Tochter war für Mrs. Payne schmerzvoll, und sie vermied es, über sie zu sprechen. Frost hatte keine Kinder. Sie konnte sich nicht annähernd vorstellen, wie es sein musste, seinen Spross zu verlieren und nicht zu wissen, was geschehen war und ob er überhaupt noch lebte. Für den Moment hatten Frost und Payne also eine stille Übereinkunft, was diese Sache anging.
Mrs. Payne hatte immer noch Bedenken, nachdem Frost ihr die Gründe dargelegt hatte, warum sie den Pinkerton anstellen wollte.
»Ich brauche etwas zu tun, Cecilia«, sagte Payne eindringlich. »In New York hatte ich Arbeit. Hier in London habe ich nichts mehr.« Die Dinge, die er für Newman erledigt hatte, wollte er ihr gegenüber lieber nicht erwähnen. Londons Untergrund war dreckig. »Du hast deine Forschungen in der Sternwarte und an der Universität, und du weißt, dass ich dir in der Hinsicht nie Steine in den Weg gelegt habe. Ich kann nicht nur müßig im Haus sitzen und Bücher lesen.«
Mrs. Payne seufzte und nickte dann. »Du hast ja recht. Tut mir leid, ich war egoistisch.«
Frost freute sich. »Wunderbar, dann hätten wir auch diese Sache geklärt.« Sie hob ihr Glas Whisky. »Auf unsere Zusammenarbeit, Mr. Payne.«
Als die Paynes gegangen waren, blieb Frost allein zurück. Sie hörte die vertrauten Geräusche von Helen, die ihre Wohnung über der Agentur sauber machte. Die Standuhr in der Ecke tickte. Draußen vor dem Fenster herrschte der übliche Verkehr, die Straßenbahn ratterte in regelmäßigen Zeitabständen vorbei, die Passanten gingen ihrer Wege. Es hatte zu regnen begonnen. Der mittlerweile grauschwarze Schnee verwandelte sich innerhalb weniger Stunden in nasskalten Matsch. Mit dem Regen wurden auch die Asche und der Smog aus der Luft gewaschen.
Frost betrachtete die Geldscheine, die vor ihr auf dem Schreibtisch lagen. Mrs. Payne hatte sie großzügig bezahlt und zusätzlich zum vereinbarten Honorar noch einen Schein draufgelegt. Frost freute sich. Sie konnte alle Rechnungen begleichen, obwohl das Geld von Madame Yueh ausblieb, womit sie fest rechnete. Helen würde morgen ihren Lohn ausbezahlt bekommen.
Sie überlegte kurz, ob sie sich ein paar neue Schuhe gönnen sollte, entschied sich dann jedoch dagegen. Wenn sie abermals solch eine Durststrecke in Sachen Klienten hatte, würde das Geld sehr schnell wieder knapp werden. Außerdem musste sie bald auch noch den Pinkerton bezahlen.
Noch war sie sich nicht sicher, ob es eine gute Idee gewesen war, Payne ins Boot zu holen. Sie hatte bisher immer alleine gearbeitet, auch, als sie noch für die Organisation unterwegs gewesen war. Aber sie wollte sich einen Namen und die Agentur bekannter machen. Sie benötigte mehr Klienten, wenn sie überleben wollte. Und die Fähigkeiten eines Pinkertons waren genau das, was sie brauchte.
Frost beschloss, zur Feier des Tages ins Theater zu gehen. In der Zeitung hatte sie eine Anzeige für das neue Stück im Criterion Theater am Picadilly gesehen. Es war eine Komödie. Das würde sie von den drückenden Gedanken ablenken.
Mit den Händen in die Hüfte gestemmt stand sie vor dem Bett und grübelte über einer Auswahl an Kleidern. Das grüne? Sie entschied sich für den petrolblauen Brokat mit den aus Silber- und Goldfäden gewobenen Blüten. Das Korsett hatte die gleiche Farbe und war mit schwarzer Spitze besetzt. Bevor sie sich jedoch anzog, musste sie ihr Herz aufziehen. Je nachdem, wie sehr sie sich körperlich anstrengte, musste sie das zweimal am Tag oder einmal alle zwei Tage tun. Und seit dem Anfall vor ein paar Tagen, als sie es einmal vergessen hatte, ging sie lieber auf Nummer sicher. Die letzten Tage waren sehr aufregend gewesen, und das viele Rennen hatte sie körperlich gefordert.
Der Schlüssel hing wie immer an einer Kette um ihren Hals. Wenn sie ihren Arm über die Schulter nach hinten streckte, konnte sie gerade so das Schlüsselloch, das sich in einer kleinen Metallplatte zwischen ihren Schulterblättern befand, erreichen.
Es klopfte an der Tür, und Helen streckte den Kopf herein. Sie wusste um Frosts mechanisches Herz, doch der Anblick der Metallplatte auf Frosts Rücken ließ sie trotzdem jedes Mal erbleichen. »Miss, jemand möchte Sie sprechen.«
»Ein Klient?«
Helen schüttelte den Kopf. »Es ist ein Mädchen, Miss. Gehen Sie aus?«
Frost hängte den Schlüssel wieder um ihren Hals und lächelte Helen an. »Ich dachte, ich gönne mir ein Theaterstück. Sag dem Mädchen, dass ich gleich unten bin.«
»Gut. Brauchen Sie mich später noch, Miss?«
»Nein, vielen Dank, Helen. Wir sehen uns morgen früh?«
Helen nickte und schloss die Tür hinter sich.
Fertig angezogen und auf dem Weg nach unten fragte sich Frost, wer das ominöse Mädchen wohl sein mochte. Es wurde bereits dunkel draußen. Es musste also einen Grund geben, warum es hier war. Als sie ihr Büro betrat, erblickte sie das Mädchen sofort. Es hatte rabenschwarzes Haar, das ihm offen über die Schultern fiel, und trug einfache, asiatisch geschnittene Kleidung. Auf dem wollenen Umhang perlte Regenwasser.
»Hallo«, sagte Frost und setzte ein Lächeln auf. Doch als sich das Mädchen zu ihr umdrehte, gefror das Lächeln. Es war eine Chinesin, und auf ihrer Schläfe prangte das Zeichen der Organisation. Eines der Dienstmädchen.
»Madame Yueh wünscht Sie zu sehen.« Das war alles, was das Mädchen sagte. Bevor Frost etwas erwidern konnte, war es auch schon zur Tür hinaus und im Regen verschwunden.
Frost stöhnte auf. Damit konnte sie das Theater vergessen. Madame Yueh ließ man besser nicht warten. Sie zog ihren Mantel und den Schal an, verabschiedete sich von Helen und griff nach ihrem roten Schirm.
Garnet Street war dieses Mal ruhig. Nichts deutete mehr darauf hin, dass das ganze Viertel vor wenigen Tagen erst das chinesische Neujahrsfest rauschend gefeiert hatte. Nur ein paar wenige Konfetti, aufgeweicht und dreckig im Matsch liegend, ließen die Festlichkeiten erahnen. Die meisten Menschen befanden sich in ihren Häusern und Wohnungen, denn es war Zeit fürs Abendessen. Frosts Absätze klapperten über den Gehweg. Dieses Mal nahm sie den direkten Weg zum Haus von Madame Yueh. Es war eine alte Stadtvilla, die etwas zurückversetzt zur Straße lag. Dahinter breiteten sich die engen Gassen des Viertels aus, mit ihren heruntergekommenen Häusern und Absteigen. Noch weiter hinten schlossen die Docks an, wo sich die Opiumhöhlen befanden.
Je mehr sich Frost dem Haus näherte, desto langsamer wurden ihre Schritte. Sie hatte das Gefühl, dass, je näher sie kam, sich die Macht von Madame Yueh umso stärker über sie legte. Wie hatte sie nur denken können, sich jemals von ihrem Einfluss und den Dragons lösen zu können?
Frost erinnerte sich noch genau an den Tag vor etwa zwanzig Jahren, als Madame Yueh sie auf der Straße gefunden hatte. Sie konnte sich nicht entsinnen, wer oder was sie vorher gewesen war. Aber ab jenem Moment, als Madame Yueh ihr die Hand hingehalten und sie in ihr warmes Haus geführt hatte, war sie zur Schlüsselmacherin geworden.
Ihre Ziehmutter hatte ihre Gabe zufällig entdeckt, als Frost eine verschlossene Truhe öffnen wollte. Von da an musste Frost jeden Tag üben, um die Gabe zu beherrschen und stärker zu machen. Niemand wusste, warum sie Schlösser wie magisch öffnen konnte, doch Madame Yueh vermutete, dass es einen Zusammenhang mit ihrem mechanischen Herzen gab.
Wie sie zu diesem gekommen war und wer ihr diese Verstümmelung angetan hatte, wusste Frost nicht. Alles, was vor Madame Yueh war, verwandelte sich jedes Mal, wenn sie sich zu erinnern versuchte, in dicken Nebel.
Frost atmete tief durch und ging die letzten Meter zum Haus. Dieses Mal beleuchteten keine Fackeln den Eingang. Nur die zwei roten Säulen und zwei Bambushaine zierten die doppelflügelige Holztür. Frost klopfte laut an. Sogleich wurde die Tür geöffnet, und sie trat ein. Mr. Lee stand im Foyer und verbeugte sich respektvoll.
»Guten Abend, Miss Lydia. Sie werden erwartet.«
Frost erwiderte seine Begrüßung mit einer angespannten Verbeugung. Mr. Lee führte sie durch die langen Gänge. Statt Aetherlampen brannten überall altertümliche Lampions und Fackeln. Es roch nach Ruß, Lotusblüte und Sandelholz. Frosts Absätze klapperten durch die Stille. Sie gingen an diversen Räumen vorbei, die alle spartanisch und klassisch chinesisch eingerichtet waren. Madame Yueh legte großen Wert darauf, Traditionen zu pflegen.
Jemand trat aus einem dieser Räume, als Frost daran vorbeiging, und packte sie am Arm. Frost konnte gerade noch einen Ausruf unterdrücken und ballte bereits angriffsbereit die Faust, als sie Michael erkannte.
»Lass mich los«, wisperte sie energisch und beugte sich auf den Flur hinaus. Mr. Lee war stehen geblieben und wartete respektvoll darauf, bis sie ihm wieder folgte. »Madame Yueh erwartet mich.«
»Ich weiß, deswegen habe ich auch hier auf dich gewartet.« Michael lächelte sie an. Die Härte, die sie bei ihrer letzten Begegnung in seinen Augen gesehen hatte, war verschwunden. Der alte Michael stand wieder vor ihr. »Ich muss mit dir sprechen.«
»Hat das nicht Zeit für später? Du weißt genau, wie sehr sie es hasst, warten gelassen zu werden.«
Michael schüttelte den Kopf. »Lydia, ich möchte, dass du zurückkommst.«
Frost trat irritiert einen Schritt zurück. »Wie meinst du das?«
»Ich bin jetzt einer der Lóngtóu«, fing Michael an. »Die Organisation hört auf meine Befehle. Ich kann dir alles bieten, was du dir wünschst. Du brauchst nicht mehr wegzugehen. Wenn du bei mir bleibst, kannst du dir alles kaufen, was du willst, und die Dragons werden zu deinen Füßen liegen.«
Frosts Kehle schnürte sich zusammen, und in ihrem Bauch bildete sich ein schleimiger Knoten. Was redete er da? Sie liebte Michael über alles, sie waren zusammen aufgewachsen und hatten viel miteinander erlebt und durchgestanden. Er war ihr Bruder, und das wusste er.
»Ich habe bereits mit Madame Yueh gesprochen. Sie hat uns ihren Segen gegeben.«
Ein eisiger Schauer spülte über Frost hinweg. »Ich soll deine Frau werden?«, stieß sie hervor. »Du hast hinter meinem Rücken mit Madame Yueh gesprochen, ohne mich vorher zu fragen?«
»Ich frage dich jetzt«, gab Michael sichtlich beleidigt zurück. »Mein Vater war immer dagegen und wollte, dass ich eine Frau aus der alten Heimat heirate. Aber nun, da er tot ist und ich seinen Platz eingenommen habe, ist der Weg frei.«
»Das glaube ich nicht.« Frost traute ihren Ohren kaum. Es war kein Wunder, hatte sich Michaels Vater gegen eine Heirat gewehrt. Frost war eine Westlerin, ein Findelkind, aufgelesen von der Straße. Der Sohn eines Lóngtóu musste unter seinesgleichen heiraten. Die zukünftige Braut musste rein und devot sein und aus einer angesehenen Familie stammen. »Madame Yueh hätte das niemals zugelassen.«
»Madame Yueh war diejenige, die sich ihm gegenüber für uns eingesetzt hatte.« Michael griff nach Frosts Händen, doch sie entzog sich ihm. Michael verstand. »Überleg es dir. Bitte.«
Frost wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Ihre Gedanken rasten wild durcheinander. Emotionen stürmten auf sie ein, Emotionen, die sie nicht zuordnen konnte und mit denen sie sich noch weniger beschäftigen wollte. Jedenfalls nicht jetzt. Sie musste zu Madame Yueh.
Sie schaute zu Michael auf. Sie wollte etwas sagen, doch die Worte blieben ihr in der Kehle stecken. Ohne sich zu verabschieden, drehte sie sich auf dem Absatz um.
Frost bemühte sich, ihr aufgewühltes Inneres zur Ruhe zu zwingen, als sie Mr. Lee wieder folgte. Sie durfte sich nichts von ihren Gefühlen anmerken lassen. Madame Yueh verstand sich sehr gut darauf, diese Schwäche auszunutzen und für ihre Zwecke einzusetzen. Eine Lektion, die Frost damals sehr früh gelernt hatte. Zeige Madame Yueh niemals deine wahren Gedanken!
Auf dem Weg ins Herz des Hauses, wo sich das Reich ihrer Ziehmutter befand, begegneten sie keinen weiteren Menschen. Frost wusste jedoch, dass das Haus nicht leer war. Hausmädchen und Diener schlichen auf leisen Sohlen umher, doch sie waren so unsichtbar, dass man sie nicht wahrnahm.
Mr. Lee blieb vor einer Doppeltür stehen und verbeugte sich ein zweites Mal vor Frost. »Es hat mich gefreut, Sie wiederzusehen, Miss Lydia.«
Frosts Kehle war zugeschnürt, weswegen sie sich nur verbeugte. Mr. Lee verschwand augenblicklich und ließ sie alleine zurück. Doch sie zögerte.
Warum fürchtete sie sich so vor dieser Begegnung? Madame Yueh machte ihr keine Angst. Sie war nur eine alte, zierliche Frau. Doch sie führte ein Imperium, sie war die Opiumkaiserin, die Allmutter.
Frost atmete tief durch, glättete ihre Kleidung und klopfte dann an. Wie von unsichtbarer Hand öffnete sich eine der Türen. Frost trat ein und straffte die Schultern. Sie schob die Gedanken an Michael und seinen ziemlich unerwarteten und ziemlich miesen Heiratsantrag beiseite und versuchte sich auf das anstehende Gespräch zu konzentrieren.
Der Raum war von Kerzen und Laternen erhellt. Ein riesiges Gemälde zierte die rechte Wand. Ein in China sehr berühmter Künstler hatte es in wochenlanger Arbeit direkt auf die Wand gemalt. Frost konnte sich erinnern, wie Michael und sie ihm lange dabei zugesehen hatten.
Links stand ein bedruckter Parawan aus Bambus und Papier. Ein roter Drache schlängelte sich darüber. Neben dem Parawan standen Lackmöbel und ein niedriger Tisch. In der hinteren Ecke befand sich der Altar, wo die Ahnen verehrt wurden. Frische Räucherstäbchen waren eben erst entzündet worden, und ihr feiner Rauch kringelte in die Höhe. Es roch stark nach Sandelholz.
Am Rande von Frosts Blickfeld bewegte sich etwas. Vor einem zweiten Parawan, der auf einem erhöhten Podest stand, befand sich ein Stuhl. Frost hörte das Geräusch des Gehstocks, bevor sie Madame Yueh sehen konnte. Es war so sinnbildlich für die alte Patriarchin, dass Frost nicht umhinkonnte, leise zu lächeln.
Madame Yueh war klein und ging auf ihren Stock gebeugt. Ihre dunkle Haut war so runzlig wie ein verschrumpelter Apfel, doch ihre schwarzen Augen leuchteten und strahlten scharfe Intelligenz aus. Ihr graues Haar war zu einem ordentlichen Knoten gesteckt, und ihre traditionelle Kleidung bestand aus schimmernder Seide. Madame Yueh setzte sich auf den Stuhl, nahm den Stock zwischen die Knie und legte ihre Hände auf den Knauf.
Sofort spürte Frost ihren Blick auf sich, und sie senkte respektvoll den Kopf. Sie trat vor das Podest, machte eine tiefe Verbeugung und kniete sich dann hin, den Blick immer noch gesenkt.
»Lydia«, durchbrach Madame Yuehs raue, kraftvolle Stimme die Stille des Raumes. »Wir haben viel zu besprechen.«
Jackson Payne hatte Cecilia dazu überredet, noch nicht gleich nach Hause zu gehen. Sie mussten reden. Auch wenn es Cecilia für keine gute Idee hielt, nicht sofort zu einem Arzt zu gehen, gab sie nach. Payne sah ihr an, dass sie froh war, ihn wiederzuhaben. Und dass ihre Befürchtungen, wo (und mit wem) er die letzten vier Wochen verbracht hatte, sich nicht bewahrheitet hatten. Trotzdem war sie wütend auf ihn. Payne war sich bewusst, dass er einiges investieren musste, um ihr Vertrauen wiederzugewinnen. Sie waren bereits zwei Jahre lang voneinander getrennt gewesen, was ihre Ehe stark strapaziert hatte, und der Verlust von Annabella saß immer noch tief.
Auf dem Weg zur London Bridge hatten sie ein kleines Restaurant entdeckt. Payne bestand darauf, etwas essen zu müssen. Er konnte sich nur vage an seine letzte Mahlzeit erinnern, und die hatte aus einem schalen Bohneneintopf bestanden.
»Manchmal, wenn die Trauer zu schwer wird, wünsche ich mir, ich hätte die Stelle hier niemals angenommen.«
Payne schaute von seinem Teller auf und runzelte die Stirn. »Das meinst du nicht ernst, Cecilia. Ich weiß, wie viel dir deine Arbeit hier bedeutet.«
Cecilia presste die Lippen aufeinander. »Ich hätte Annabella niemals hierherbringen dürfen.«
»Und sie stattdessen bei mir gelassen? Ich war ständig unterwegs, meine Arbeit war gefährlich. New York hat genauso üble Ecken wie London.«
Cecilia griff nach ihrem Weinglas und leerte es in einem Zug. Payne runzelte wieder die Stirn. Er mochte es nicht, wenn seine Frau zu viel trank.
»Danke«, sagte sie dann und nahm seine Hand.
»Wofür?«
»Dass du zu mir zurückgekommen bist. Ich habe mir fürchterliche Sorgen gemacht und jeden Tag die Polizei erwartet, die mir mitteilt, man habe deine Leiche in der Gosse gefunden.«
Payne musste lächeln. Vielleicht konnte doch alles wieder wie früher werden. Fast alles.
»Miss Frost scheint mir eine respektable Person zu sein«, sagte Cecilia, als sie später an der Themse entlangschlenderten. Ihr Haus lag in Southwark, unweit des Borough Markets. »Etwas exzentrisch, aber respektabel. Wann beginnst du deine Arbeit bei ihr, Jackson?«
»Sobald mein Kratzer verheilt ist«, antwortete Payne und zwang sich, langsam durch den Schmerz zu atmen. Frost oder ihre Haushälterin musste die Wunde genäht haben, denn der Verband fühlte sich immer noch trocken an. Die Schmerzen allerdings waren nicht weniger geworden. Payne hoffte, dass der Holzpfahl keine Splitter hinterlassen hatte. Er wollte nicht unbedingt an einem Wundinfekt sterben, der durch einen winzigen Holzsplitter verursacht wurde.
»Gut. Morgen früh werde ich Dr. Miller holen lassen, damit er dich untersucht.« Cecilia schien zufrieden. »Und dann werden wir zu Scotland Yard gehen. Du hast heute einen Mann erschossen, Jackson.«
Payne ächzte auf. »Damit er mich nicht erschießt, Cecilia. Der Mann war ein… Jemand, der mit meiner Arbeit unzufrieden war. Er hätte uns alle erschießen können.«
»Trotzdem, Miss Frost und du, ihr solltet zur Polizei gehen und die Sache klären. Ich will nicht, dass du im Gefängnis landest. Mit dieser Schande könnte ich nicht leben.«
Payne schnaubte und wandte den Blick hinaus auf die Themse. Es herrschte Ebbe, und die dunklen Wasser schwappten sanft ans Ufer. Gusseiserne Aetherlaternen beleuchteten den Gehweg entlang des Flusses und warfen ihr helles Licht auf das Wasser und die umliegenden Häuserfassaden. Ein paar dutzend Meter vor ihnen rannten mehrere Gestalten hin und her. Payne sah die kleinen Lichtpunkte von getragenen Laternen. Wahrscheinlich nur irgendwelche Gauner.
»Jackson, was hältst du davon, wenn wir nächste Woche – Jackson? Hörst du mir überhaupt zu?« Cecilia fasste Payne am Arm und schaute ihn fordernd an. Paynes Blick war jedoch fest auf die Männer gerichtet, die gerade etwas aus dem Fluss zu ziehen schienen. Er kniff die Augen zusammen und ging näher.
»Jackson!«
Als Payne die marineblauen Uniformen der Polizei erkannte, hob er die Hand und gebot Cecilia, zurückzubleiben. »Warte hier.«
»Werde ich ganz bestimmt nicht«, gab Cecilia zurück und ging an Payne vorbei an die Mauerbrüstung. »Entschuldigen Sie bitte, Gentlemen«, rief sie laut, »ist hier etwas passiert?«
»Bleiben Sie zurück, Ma’am«, sagte einer der Polizisten. »Dies ist ein Tatort.«
Cecilia schaute zu Payne, dann drehte sie auf dem Absatz um und nahm die eiserne Treppe hinunter ans Ufer.
»Cecilia, bleib hier! Ach, verdammt.« Payne fluchte und ging seiner Frau hinterher. Manchmal wusste er nicht, wo die neugierige Forscherin aufhörte und die Frau, die er geheiratet hatte, anfing.
Einer der Beamten kam ihnen sogleich entgegen und breitete die Arme aus. »Ma’am, ich muss Sie bitten, zurückzubleiben. Sie auch, Sir.«
Payne stellte sich hinter Cecilia, als ein zweites Bündel aus dem Wasser gezogen wurde. Zwei Polizisten mühten sich ab und zogen es hinauf zu dem anderen Bündel, das bereits auf dem Kiesbett lag. Im Licht der Laternen konnte man die schmutzigen Schnüre sehen, die mit Schlamm vollgesogenen Stoffe und die Algen, die sich darin verfangen hatten. Das zweite Bündel fiel auseinander, als die Männer es den letzten Meter über den Kies hievten.
»Oh, mein Gott«, rief Cecilia aus und schlug geschockt die Hände vor den Mund. Einer der Polizisten würgte. Payne nahm Cecilia am Arm und führte sie ein paar Schritte weg. Er selbst jedoch konnte den Blick nicht von dem Bündel nehmen. Alles, was er sah, war dunkles, langes Haar und der schmale Arm eines Jugendlichen.
Er musste sich vergewissern. Kurzerhand ließ er Cecilia stehen und ging langsam zu den Männern, die um die Bündel herumstanden. Auf ihren weißen Gesichtern zeigte sich Schock, Entsetzen und Mitleid.
»Machen Sie das zweite auf«, sagte jemand, ein anderer zückte ein Messer. Bestialischer Gestank fuhr ihnen entgegen, als die Stoffe sich lösten und ein zweites Gesicht zum Vorschein kam.
Payne schaute genauer hin. Es waren tatsächlich Jugendliche. Er schätzte sie etwa auf zwölf oder dreizehn Jahre. Die Erleichterung, dass es sich bei dem Mädchen nicht um Annabella handelte, verursachte ihm weiche Knie. Annabella war erst sechs.
»Chief, hier stimmt etwas nicht«, sagte einer der Männer, der neben dem Jungen kniete. Sofort wandte sich jeder zu ihm um. Der Polizist deutete auf den Arm des Jungen.
»Was bei allen Teufeln?«, fluchte der angesprochene Sergeant fassungslos und bekreuzigte sich. Die Männer raunten einander zu, doch Payne verstand nicht, was sie sagten. Er starrte auf den Arm des Jungen. Er bestand gänzlich aus Metall.
Die Polizisten kamen in Bewegung und schauten sich nun auch das Mädchen genauer an. Sie wurden schnell fündig. Das linke Kniegelenk war ebenfalls mechanisch. Die messingfarbenen Metallplatten waren mit Rost überzogen. Dort, wo die Haut auf das Metall traf, konnte man grässliche Verwachsungen und Entzündungen sehen. Dunkelrote Adern bildeten ein groteskes Netz auf der bläulichen Haut.
Payne hatte genug gesehen und erhob sich. Cecilia stand etwas abseits stocksteif da und war kreidebleich im Gesicht. »Es ist nicht Annabella«, sagte er zu ihr, worauf sie nickte und nach seiner Hand griff. Ihre Finger krallten sich in seine Haut.
»Officer, holen Sie Dr. Hastings«, hörten sie den Sergeant befehlen. »Und danach benachrichtigen Sie Commissioner Lovett. Er ist wieder da.«
Ende des 1. Teils