Читать книгу Frost & Payne - Die mechanischen Kinder Die komplette erste Staffel - Luzia Pfyl - Страница 22

5.

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Das verwinkelte Backsteingebäude des Observatoriums hob sich stark von den Gerippen der kahlen Bäume ab. Die Anhöhe, auf der es stand, überragte die marine Universität von Greenwich und den Park dazwischen. Die schwarze Kuppel in der Mitte des Observatoriums beherbergte das Planetarium, in das täglich Besucher strömten. Sie alle wollten die Wunder des Universums entdecken.

Cecilia ließ das imposante Haus links liegen und ging über den Vorplatz zum zweiten Gebäude auf der Anhöhe. Auch dieses hatte eine Kuppel, jedoch mit weiß gemalten Stahlplatten, die sich mechanisch öffnen und schließen ließen. Dies war das eigentliche Observatorium, denn in der Kuppel befanden sich das riesige Teleskop und feinste Messgeräte.

Tief in Gedanken versunken achtete Cecilia nicht darauf, was sich vor ihr auf dem Boden befand. Mit lautlosen Lippenbewegungen ging sie im Kopf einen Ablauf von Formeln durch. Als sie bemerkte, dass sie daran vorbeigelaufen war, hielt sie inne und ging zurück.

Die schnurgerade Linie aus Metall durchschnitt die Steinplatten des Platzes ungeachtet deren Ausrichtung. Cecilia ging zurück zum Anfang der Linie und setzte ihren Fuß darauf. Schritt für Schritt ging sie auf der Linie, dem Nullmeridian, entlang, bis sie die Uhr erreichte, die auf einem Steinsockel vor dem Gebäude stand. Das Ziffernblatt zeigte die akkurateste Uhrzeit der Welt. Es war zweiunddreißig Minuten nach zehn.

An ihrem ersten Arbeitstag in Greenwich, als sie zum ersten Mal die Anhöhe hinaufgeschritten war und das Observatorium zum ersten Mal gesehen hatte, war sie die Linie ebenfalls abgegangen. Der Gedanke, dass sie in diesem Moment genau auf der Mitte der Erde stand, hatte sie enorm fasziniert. Seither ging sie jeden Tag, wenn sie zur Arbeit kam, auf der Linie entlang. Es war ihr kleines Ritual. Für wenige Minuten stand sie auf dem Mittelpunkt der Welt, ihre Gedanken sammelten sich auf dieser schmalen Linie im Boden, und das Universum verlor für diese kurzen Augenblicke an Bedeutung.

Die Tatsache, dass sie ihr Ritual heute beinahe vergessen hätte, erschütterte Cecilia. Es wäre das erste Mal in über zwei Jahren gewesen, dass sie nicht auf der Linie gegangen war. Auch wenn sie vor allem am Anfang den Spott ihrer Kollegen hatte ertragen müssen, war es ihr nie in den Sinn gekommen, damit aufzuhören. Diese kurzen Momente auf der Linie gehörten nur ihr allein.

Sie war einfach über den Meridian getreten, ohne es zu bemerken. Cecilia drehte sich vor der Uhr um und schaute zurück. Hinter den Bäumen erhob sich das rote Backsteingebäude mit der schwarzen Kuppel und den verwinkelten Erkern. Sie war zu tief in Gedanken gewesen, folgerte sie. Auch wenn sie die Formeln für das Projekt, an dem sie gerade arbeitete, durchgegangen war, so beschäftigte sie doch etwas ganz anderes, auf einer viel tieferen Ebene.

Cecilia hatte das Gefühl, Jackson kaum wiederzuerkennen. Sie fühlte, dass er sich immer mehr von ihr zurückzog, und sie wusste nicht, was sie dagegen tun konnte. Sie war immer die rationale Seite ihrer Ehe gewesen, kalkulierend, kontrolliert, logisch, loyal. Jackson hatte das immer mit seiner Leidenschaft, seinem Mitgefühl und seiner Sturheit ausgeglichen. Aber jetzt gab es einen Bruch in der Formel, und Cecilia wusste nicht, wie sie die Gleichung lösen sollte.

Eine zweisitzige Kutsche bog um die Ecke und wendete auf dem Platz. Das Pferd warf den Kopf auf und ab und tänzelte auf der Stelle, als der Fuhrmann an den Zügeln zog.

»Mrs. Payne?«

Cecilia hob den Kopf und straffte die Schultern. Sie schob die drückenden Gedanken beiseite und ging auf die Kutsche zu. »Ja?« Sie erkannte den Kutscher als einen der Stallmeister der Universität.

»Sir Christie schickt mich. Ich soll Sie abholen, Ma'am.«

Cecilia runzelte die Stirn. Sir Christie wurde erst morgen von seiner Reise zurückerwartet. »Hat er gesagt, worum es geht? Ich habe sehr viel zu tun.«

Der Kutscher lächelte. »Er hat gesagt, dass Sie das sagen würden, Ma'am. Sir Christie wünscht Sie zu sprechen, es sei wichtig.«

Sie konnte sich zwar kaum vorstellen, was wichtiger war als ihre Arbeit, aber Sir William Christie war Astronomer Royal und damit ihr direkter Vorgesetzter. Sie konnte seine Bitte nicht abschlagen, wenn sie ihre Arbeit behalten wollte.

Cecilia raffte die Säume ihrer Röcke und stieg in die offene Kutsche. Sir Christie arbeitete meist im Universitätsgebäude unten an der Themse, wenn er nicht gerade auf Reisen war.

Der Kutscher schnalzte mit der Zunge, und das Pferd setzte sich in Bewegung. In einem leichten Trab ging es die Anhöhe hinab und hinunter in den weitläufigen Park, der die Universität vom Observatorium trennte. Normalerweise ging Cecilia den Weg von der Anlegestelle an der Themse hinauf zur Sternwarte zu Fuß, was sie meist genoss. Mit der Kutsche ging es jedoch viel schneller.

Cecilia fand Sir Christie in seinem Büro, doch statt wie üblich hinter dem Schreibtisch zu sitzen, tigerte er unruhig im Raum auf und ab. Als sie sich räusperte, drehte er sich zu ihr um.

»Ah, Cecilia«, sagte er und bedeutete ihr, näherzukommen. »Gut, dass Sie kommen konnten.«

Als hätte sie eine andere Wahl gehabt – doch sie behielt den Gedanken für sich. Sir Christie sah von der Reise mitgenommen aus, aber seine Haut war gebräunt, und seine Haare waren eine Spur heller. »Wir haben Sie erst morgen zurückerwartet, Sir. Wie war Gibraltar?« Sie faltete die Hände vor dem Körper und lächelte freundlich.

»Ein Stück Felsen umgeben von Wasser und zu viele Marineoffiziere, die sich wie die Affen auf dem Felsen verhalten.« Christie machte eine ungeduldige Handbewegung, womit das Thema für ihn abgeschlossen war. Mit wenigen Schritten stand er hinter dem Schreibtisch, auf dem sich ein Berg Post befand. Einen der Briefe, die bereits geöffnet waren, nahm er zur Hand und legte ihn auf die andere Seite des Tisches. »Lesen Sie das.«

Cecilia runzelte kurz die Stirn, kam seiner Aufforderung jedoch sogleich nach. Sie nahm den Brief zur Hand, und je mehr sie las, desto mehr schnürte sich ihre Kehle zu.

»Das ist nun schon der dritte Brief dieser Art«, sagte Christie und konnte seinen Ärger kaum noch verbergen. »Diese Bastarde denken wohl, sie kämen damit durch.«

»Sie meinen, dies ist bereits die dritte Drohung gegen das Observatorium? Und Sie informieren mich erst jetzt darüber?« Cecilia legte den Brief zurück auf den Tisch. Die aus Zeitungsschnipseln zusammengeschusterten Worte sahen grotesk aus.

»Als ich den ersten Brief bekommen habe, dachte ich, es handle sich um einen üblen Scherz«, gab Christie zu. »Außerdem wollte ich Sie nicht unnötig beunruhigen, Cecilia.«

»Ist es einer der Studenten?«

Christie schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, nein. Vermutlich christliche Fanatiker, die sich nicht damit abfinden können, dass die Erde rund ist und sich um die Sonne dreht.«

Unweigerlich musste Cecilia lächeln, doch gleichzeitig fuhr es ihr eisig über den Rücken. Sie erinnerte sich an einen Vorfall vor einem Jahr, als mehrere Männer das Planetarium besetzten und damit drohten, es zu zerstören, weil es das Werk Satans sei. Ob es mit dieser neuen Drohung einen Zusammenhang gab?

»Wir haben es natürlich sogleich der Polizei gemeldet, doch die können nichts tun, solange es nur bei diesen anonymen Drohungen bleibt.«

»Sie meinen, wir sollen warten, bis jemand das Observatorium mit der angedrohten Bombe sprengt«, meinte Cecilia abschätzig und schnaubte. Ihre Erfahrungen mit der hiesigen Polizei waren weniger berauschend. Scotland Yard hatte sie bisher nur enttäuscht.

»Ich bin mir sicher, dass es sich nur um eine leere Drohung handelt, um uns zu erpressen«, versuchte Christie sie zu beruhigen.

Cecilia ging zum Fenster und betrachtete das Gebäude gegenüber. Unter den weißen Säulen gingen Studenten umher. Ob sie Jackson von den Drohungen erzählen sollte? Vielleicht konnte er etwas in Erfahrung bringen. Etwas in ihr weigerte sich jedoch, ihn zu involvieren. Das hier war ihr Arbeitsplatz.

»Cecilia, wenn Sie es wünschen, kann ich ein paar zusätzliche Sicherheitsleute um das Observatorium positionieren. Ich möchte, dass Sie sich sicher fühlen.«

Cecilia nickte. »Danke, Mr. Christie, das ist sehr zuvorkommend von Ihnen.« Unten auf dem Hof strömten Studenten zusammen und gingen in Richtung Themse. Einige gestikulierten aufgeregt. »Sir?«

Christie trat neben sie ans Fenster und runzelte die Stirn. »Was ist das für ein Aufruhr?« Er sah es nicht gerne, wenn auf dem Universitätsgelände Tumult herrschte. »Und wo ist Mr. Haverfort?«

Er drehte sich auf dem Absatz um und stürmte aus dem Büro. Cecilia folgte ihm hinaus auf den Vorplatz. Mr. Haverfort, ein junger Mann in Tweed, kam ihnen aufgeregt entgegen, als sie die Stufen hinuntergingen. Haverfort war der Präsident der Studentenverbindung und eigentlich dafür zuständig, dass auf dem Campus Ordnung herrschte. Cecilia erkannte sofort, dass er auf verlorenem Posten stand.

»Was geht hier vor?«, verlangte Christie zu wissen und marschierte an Haverfort vorbei, so dass dieser beinahe rennen musste, um mit ihm Schritt zu halten.

»Sir, ich bitte um Verzeihung«, haspelte Haverfort. »Die Polizei ist hier. Jemand hat eine Leiche entdeckt.«

»Eine Leiche?« Christie blieb stehen und starrte den Studenten ungläubig an. Cecilia vermutete, dass dies die erste Leiche war, die man in der Universität fand. Christie jedenfalls war außer sich.

»Es ist keiner unserer Studenten, Sir«, beeilte sich Haverfort zu sagen, worauf Christie sichtlich mit Erleichterung reagierte. Das Schlimmste, was ihnen nebst der Drohung, das Observatorium zu sprengen, passieren konnte, war, die Leiche eines von Greenwichs Studenten zu finden. Die Presse würde sich darauf stürzen wie Geier auf ein Stück Aas. »Die Polizei schätzt sein Alter auf fünfzehn, Sir, womit er zu jung ist.«

Sie hatten den Pier erreicht. Links befanden sich die Anlegestelle für die Fährboote nach London und das alte Bootshaus. Direkt vor ihnen ging der Platz in breite Stufen über, die bis ins Wasser hinabreichten. Die Studenten saßen hier gern während ihrer freien Stunden. Ein Boot der Polizei lag vertäut an der Anlegestelle, doch die Schar an Studenten verdeckte jeglichen Blick auf die Männer in Uniform.

»Aus dem Weg, aus dem Weg!« Christie und Haverfort schoben die jungen Leute beiseite, um zum Wasser zu gelangen. Cecilia folgte ihnen. Unter den versammelten Studenten befanden sich auch einige ihrer eigenen Schüler. Normalerweise hätte sie sie ermahnt, doch als die Menge sich vor ihr teilte und den Blick freigab auf das Bündel am Ufer, vergaß sie es völlig.

Sie hatte erst vor ein paar Tagen zwei sehr ähnliche Bündel gesehen, schoss es ihr durch den Kopf. Das Entsetzen, welches sie an jenem Abend empfunden hatte, drohte sie erneut zu übermannen.

»Meine Herren, ich bin Astronomer Royal William Christie. Ich verlange zu erfahren, was hier vorgeht.« Christie legte seine ganze Autorität in seine Stimme. Die angesprochenen Polizisten wandten sich alle ihm zu und nahmen Haltung an.

»Ein paar Ihrer Studenten haben diesen armen Tropf hier entdeckt, Sir«, sagte der Sergeant. »Der junge Mann trieb auf dem Wasser.«

»Wer ist er?«

»Das wissen wir noch nicht, Sir. Mir wurde allerdings versichert, dass es sich nicht um einen Ihrer Studenten handelt.«

Cecilia machte ein paar Schritte auf das Bündel zu. Die Strömung hatte die Verschnürung gelöst, so dass das Leinentuch den Jungen nicht mehr vollständig umwickelte. Sein Gesicht war wächsern und ein wenig aufgedunsen, Schlamm und Algen verklebten seine braunen Haare.

»Bringt die Frauen hier weg«, verlangte Christie, worauf Haverfort und zwei der Polizisten anfingen, die weiblichen Studenten wie Schafe zurück zur Universität zu treiben. »Sie auch, Cecilia. Das ist kein Anblick, den Sie sich antun sollten.«

Cecilia schüttelte den Kopf und schaute dabei wie gebannt auf den Jungen im Tuch. Etwas hatte ihre Aufmerksamkeit erhascht. »Was ist das?«, fragte sie den Sergeant und deutete auf den Arm des Jungen.

Der Sergeant ging neben der Leiche in die Hocke und hob deren Arm an. »Eine Metallplatte. Sie scheint irgendwie am Arm festgemacht zu sein, denn wir konnten sie nicht lösen. Die Haut auf beiden Seiten sieht stark entzündet aus. Haben Sie so etwas schon einmal gesehen, Ma'am?«

Cecilia wollte Ja sagen, doch es schnürte ihr die Kehle zu. Vor ihrem inneren Auge sah sie wieder die beiden Kinder im Kies des Themse-Ufers liegen, eingewickelt in Lumpen, mit wächsernen, toten Gesichtern. Sie sah das mechanische Knie des Mädchens und den metallenen Arm des Jungen vor sich, die entzündeten Wucherungen und entstellenden Narben.

»Nein«, hauchte sie und machte einen Schritt rückwärts. »Bitte entschuldigen Sie mich.« Sie drängte sich durch die Studenten und eilte zurück in die Universität. Niemand hielt sie auf oder folgte ihr. Unter dem Säulengang hielt sie inne und lehnte sich schwer atmend an die kalte Rundung.

Jetzt waren es schon vier, schoss es ihr durch den Kopf. Vier Leichen von Kindern und Jugendlichen. Sie alle wurden innerhalb weniger Tage aus der Themse gefischt. Und sie alle hatten diese entsetzlichen mechanischen Körperteile.

»Jackson«, entfuhr es Cecilia. Dieses Mal musste sie mit ihm reden. Sie wollte, dass er herausfand, wer diese armen Kinder verstümmelte und ermordete – ja, ermordete, denn für Cecilia stand es außer Zweifel, dass jemand dafür verantwortlich war.

Eine plötzliche Eile trieb sie dazu an, mit schnellen Schritten zu den Stallungen zu gehen. Sie brauchte eine Kutsche, die sie nach Southwark oder zumindest zum nächsten Fähranleger brachte. Eine nagende Stimme in ihrem Hinterkopf fragte immer wieder, ob als nächstes Annabella aus dem Fluss gefischt werden würde.

Frost & Payne - Die mechanischen Kinder  Die komplette erste Staffel

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