Читать книгу Frost & Payne - Die mechanischen Kinder Die komplette erste Staffel - Luzia Pfyl - Страница 25

8.

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Payne sah die Faust nicht kommen. Er stand vor dem Büro von Newman, Lord Greysons Sicherheitschef, und wartete darauf, dass man ihn einließ. Zwei Männer saßen neben der Tür auf einer Holzbank und kauten Tabak. Payne registrierte die Ausbuchtung unter ihren Jacken und befand, dass die beiden Männer Holster und Waffen trugen. Sein Kontaktmann hatte entweder hohen Besuch oder brauchte selbst solchen Schutz. Für einen kurzen Augenblick fragte Payne sich, warum.

Einer der Männer betrat auf ein unsichtbares Kommando hin das Büro, schloss die Tür hinter sich und kam gleich darauf wieder heraus. Das war der Moment, in dem die Faust geflogen kam. Heißer Schmerz explodierte in Paynes Kiefer, und sein Kopf schrammte an der Wand, an die er sich gelehnt hatte, entlang. Die halb gerauchte Zigarette flog in weitem Bogen durch den Flur und landete auf dem Boden, wo sie der zweite Mann mit dem Stiefel austrat.

Payne wartete mit zusammengekniffenen Augen auf den zweiten Schlag, doch als der nicht kam, richtete er sich vorsichtig auf. Der Mann, der ihm die Faust verpasst hatte, stand direkt vor ihm und starrte ihn feindselig an. Er war etwas kleiner als Payne und hatte sich seit mindestens vier Tagen nicht mehr rasiert. Payne roch den Kautabak und den alten Schweiß, der am speckigen Halstuch klebte.

Jemand erschien hinter dem Mann in der Tür des Büros. Es war Newman, wie immer in einen tadellosen Anzug gekleidet. Er lehnte sich an den Türrahmen und fing in aller Seelenruhe an, seine Pfeife neu zu stopfen.

»Mr. Payne«, sagte er wie beiläufig, »ich dachte schon, Sie hätten uns vergessen.«

»Der Kratzer hat mich etwas mehr als erwartet außer Gefecht gesetzt.«

»Ich bin sehr enttäuscht von Ihnen.«

»Ich kann alles erklären.«

Der Mann im Anzug hielt im Stopfen seiner Pfeife inne und gab mit einem Blick seinen zwei Wachhunden zu verstehen, dass sie beiseitetreten sollten. Payne wischte sich mit der Hand über den Mund und rückte seine Kleidung zurecht. Er konnte bereits jetzt den blauen Fleck spüren, der spätestens morgen früh seinen Kiefer zieren würde. Die Blicke der Wachhunde bohrten sich in seinen Rücken, als er Newman ins Büro folgte.

»Sie haben nicht zufälligerweise das Buch dabei, das Sie uns zurückbringen sollten?«, fragte Newman und kramte in seiner Jackentasche nach Streichhölzern. Er bot Payne keinen Platz an.

»Nein«, gab Payne zerknirscht zu. Die Sache mit dem Folianten, den Frost gestohlen hatte und den er eigentlich ihr abnehmen sollte, war ziemlich kompliziert. Newman würde ihm wohl kaum ein Wort glauben.

»Und wieso nicht? Ich dachte, ich hätte Ihnen einen klaren Auftrag erteilt.« Als Payne schwieg, fixierte Newman ihn mit einem wütenden Blick. »Erklären Sie mir bitte, warum ich erfahren musste, dass Sie nun sogar gemeinsame Sache mit der Schlüsselmacherin machen? Angeblich arbeiten Sie jetzt für sie. Wie hat sie Sie um den Finger gewickelt, hm?« Newman redete sich in Rage. »Sie arbeiten für mich, verdammt! Sie hatten einen Auftrag, den Sie vermasselt haben, und ich will verdammt noch mal eine Erklärung dafür.«

Payne steckte die Hände in die Hosentaschen und bemühte sich darum, eine gelassene Haltung zu wahren. Innerlich brodelte er jedoch. Ja, Newman war zurecht wütend, und er hätte früher hierherkommen sollen, um die Sache zu erklären. Dennoch konnte er nun nichts mehr daran ändern.

»Es war nicht der Russe. Sie hat für die Chinesen gearbeitet.«

Newman runzelte die Stirn. »Die Dragons? Herrgott noch mal, Payne. Was haben Sie sich dabei gedacht, mit denen gemeinsame Sache zu machen?«

»Hm, ich weiß nicht, vielleicht, weil man mehrere Male versucht hat, mich umzubringen?«

»Sparen Sie sich Ihren Sarkasmus.« Newman paffte wütend seine Pfeife. »Sie sind gefeuert.«

Damit hatte er gerechnet, also nickte er nur. Wenn er ehrlich war, hätte er selbst gekündigt, wenn Newman ihn nicht rausgeworfen hätte. Auch wenn es Wahnsinn war, die beste Quelle für den Londoner Untergrund zu verlassen. Wie sollte er nun ohne Newmans Ressourcen den Russen ausfindig machen?

Payne nickte und machte Anstalten, das Büro zu verlassen, als Newman ihn zurückhielt. »Da fällt mir ein, vor ein paar Wochen hat sich ein Amerikaner in einer von Lord Greysons Reedereien nach einem Pinkerton erkundigt. Es wurde mir lediglich gemeldet, weil der Mann darauf bestanden hatte, die Passagierlisten zu sehen und dabei sehr ausfallend geworden ist. Ein Freund von Ihnen?«

Payne runzelte die Stirn. Was hatte Frost erzählt? Beim Mann, der sie direkt vor der Agentur angegriffen hatte, waren amerikanische Dollars gefunden worden. Ob das derselbe Mann war?

Für einen kurzen Moment veränderte sich das Gefüge des Raumes, und Paynes Herz begann zu rasen. Hastig kniff er die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. Nein, niemand wusste, dass er die Staaten verlassen hatte. Sie konnten ihn nicht gefunden haben. Es gab bestimmt noch mehr Pinkertons in London. Es musste ein Zufall sein. Oder?

»Mr. Payne, ich habe heute noch sehr viel zu tun.«

Der Raum kam zurück in den Fokus, und Payne schluckte hart. Seine Kehle war staubtrocken. Dann nickte er und verließ Newmans Büro.

Der alte Mann saß an einem Ecktisch im Pub und nippte an einer Tasse Tee, als Inspektor Jones und Constable Manju sich zu ihm setzten.

»Inspektor Welsh, vielen Dank, dass Sie uns treffen konnten«, fing Jones an, doch der alte Mann winkte ab.

»Ich bin schon zu lange in Rente, um noch Inspektor genannt zu werden, Inspektor.« Er machte eine kurze Pause und musterte dabei Manju. »Ich habe gehört, dass sie nun auch Frauen ins Yard lassen.«

»Constable Nilima Manju, Sir. Es ist mir eine Ehre. Ich habe schon viel von Ihnen gehört.« Manju lächelte. Ihre vielen Armreife klimperten, als sie die Hände auf der Tischplatte faltete.

»Sie sagten, es geht um einen meiner alten Fälle?«

Jones schmunzelte. Man hatte ihn gewarnt. Basil Welsh war kein Mann für Höflichkeitsfloskeln und Smalltalk. »Das tut es, Sir.« Er holte die vergilbte Akte aus seinem Mantel und schob sie zu Welsh über den Tisch.

»Ah«, sagte er, als er seine eigene Handschrift darauf sah. »Ich hatte schon fast damit gerechnet, dass jemand aus dem Yard damit zu mir kommt. Die Zeitungen sind voll davon, seit sie die ersten beiden aus der Themse gezogen haben.« Seine Hände bebten, als er nach der Tasse griff. »Schreckliche Sache.«

»Inspektor … Mr. Welsh, gibt es etwas, das Sie uns erzählen können, was nicht in der Akte steht?«

Welsh blickte auf. »Jones war der Name, nicht? Wie lange sind Sie schon im Yard?«

Jones blinzelte überrascht. Was hatte das mit dem Fall zu tun? »Nächstes Jahr sind es 15 Jahre, Sir. Davor war ich sechs Jahre in Edinburgh stationiert.«

»Und haben Sie schon jemals so etwas gesehen?«

»Nein, Sir.«

Welsh brummte etwas. Seine wässrigen Augen schienen einen Punkt auf der Tischplatte zu fixieren. Manjus Armreife klapperten, als sie unruhig auf dem Stuhl herumrutschte.

»Ich war damals schon seit über 20 Jahren im Yard. Erfahren, sicher, selbstbewusst. Ich war auf der Krim. Ich dachte, ich hätte alle menschlichen Abgründe gesehen.« Welsh machte eine Pause. Seine von Arthritis geplagten Finger griffen nach der Mappe. Es fiel ihm sichtlich schwer, sie aufzumachen. »Ich… Wir waren zu langsam. Das Yard steckte in einer Krise, wir hatten keine Ressourcen und zu wenig Männer.« Nachdenklich betrachtete er den obersten der ausgeschnittenen Zeitungsartikel. »Sie sind über uns hergefallen wie die Aasgeier.«

»Commissioner Lovett hat eine Informationssperre verhängt, was den Fall angeht«, sagte Jones. »Sir, ich habe die Akte von hinten bis vorne studiert. Hatten Sie wirklich keinen Verdacht, wer es sein könnte? Nicht einmal ein Bauchgefühl?«

Welsh brummte erneut. »Ich war mir beinahe sicher, dass es ein Arzt war. Oder ein Medizinstudent. Jemand, der sich mit dem menschlichen Körper sehr gut auskennt.«

Das war auch Dr. Taylors Meinung. Jones holte sein Notizbuch aus dem Jackett und schrieb zwei Sätze hinein. »Was glauben Sie, ist es derselbe Mann?«

Welsh zuckte mit den Schultern. »Es sind fast 20 Jahre vergangen. Warum er damals so abrupt aufhörte, konnte ich mir nie erklären. Vielleicht ist etwas schiefgegangen. Vielleicht haben wir ihn verscheucht. Kann sein, dass er so viele Jahre auf etwas warten musste, um weiterzumachen. Wer weiß das schon?«

»Wir werden es herausfinden«, meinte Manju selbstbewusst. »Und wir werden ihn diesmal schnappen.«

Jones räusperte sich vernehmlich. »Danke für Ihre Zeit, Mr. Welsh.« Er warf Manju einen warnenden Blick zu und nahm die Mappe an sich.

»Was?«, fragte sie, als sie wieder auf der Straße standen.

»Sie hätten dem alten Mann keine Versprechen machen sollen, die sie nicht halten können.«

»Aber, Sir, ich wollte doch nur …«

Jones blieb stehen und baute sich vor seiner jungen Partnerin auf. »Wir machen keine Versprechen, was das Einfangen von Mördern und Verbrechern angeht, haben Sie mich verstanden, Manju? Was, wenn der Nächste, dem Sie so ein Versprechen geben, damit gleich zum Herald rennt? Wie blöd stehen wir und das gesamte Yard dann da, wenn wir das Versprechen nicht halten können?«

Manju schluckte ihre Erwiderung hinunter und nickte dann. »Ich verstehe.«

»Gut. Sie sind neu im Yard und müssen noch viel lernen. Und jetzt sollten wir zurück. Dr. Taylor erwartet uns bereits mit dem Opfer aus Greenwich.«

Payne setzte sich in die nächste Kneipe und leerte das erste Pint in einem Zug, worauf er gleich das nächste bestellte. Auf dem Nachbartisch lag eine Zeitung. Es war die aktuellste Ausgabe, die jeweils kurz vor Mittag überall in der Stadt von Zeitungsjungen verkauft wurde. Auf der Titelseite prangte in großen Lettern »Erneut verstümmelte Leiche in der Themse gefunden! Greenwicher Studenten in Aufruhr!«, darunter befand sich ein Bild des Universitätsgebäudes. Im Hintergrund konnte man eine Traube Menschen, vermutlich Studenten, und einige Polizisten ausmachen. Hastig überflog Payne den Artikel, aber es standen keine neuen Informationen darin. Das Wichtigste hatte Cecilia ihm bereits berichtet.

Payne legte die Zeitung beiseite. Cecilias Bitte ging ihm wieder durch den Kopf. Er wollte ihr helfen, doch Frost hatte recht. Es war Sache der Polizei. Außerdem hatten sie nur noch weniger als zwei Tage Zeit, um die verschwundene Waffe zu finden. Falls der Mörder bis dahin nicht gefasst war, konnten sie sich immer noch des Falles annehmen.

Trotzdem nagte es an ihm. Was, wenn die nächste Leiche tatsächlich Annabella war? So ziemlich alles sprach jedoch dagegen. Die Jugendlichen schienen nirgendwo hinzugehören, niemand vermisste sie. Annabella war erst halb so alt. Außerdem war da die Visitenkarte, die er in ihrem Zimmer gefunden hatte, in der Nacht nach ihrem Verschwinden. Er glaubte immer noch, dass der Russe etwas damit zu tun hatte.

Nein. Erst die Waffe, dann alles andere.

Die Kellnerin brachte ihm das dritte Bier und warf einen Blick auf die Zeitung, die vor ihm auf dem Tisch lag. »Schreckliche Sache, nicht? Diese armen Kinder!« Sie schüttelte den Kopf.

Payne schaute auf. »Hat die Polizei den Übeltäter schon gefasst?«

Die Kellnerin schnalzte mit der Zunge. »Diese Nichtsnutze vom Yard können oft nicht mal links von rechts unterscheiden. Was glauben Sie?«

Payne musste lächeln und bedankte sich für das Bier. Dann nahm er die Zeitung wieder zur Hand und blätterte durch den Rest. Beim Namen Greyson blieb er hängen. Es war ein kurzer Bericht über die Fabrikeröffnung in York.

Ein Gedanke setzte sich in seinem Kopf fest. Auch wenn er sich wohl wieder eine Faust einfing, vielleicht würde es sie weiterbringen. Das Risiko war es wert.

Payne legte Geld auf den Tisch und eilte aus dem Pub. Kurz darauf stand er wieder vor Newmans Büro. Die beiden Wachmänner standen langsam auf, als sie ihn kommen sahen, und starrten ihn an.

»Der Boss meinte, dass Sie nicht mehr willkommen sind«, sagte der eine. Er schob den Kautabak von einer Wange in die andere.

»Diesmal ist es geschäftlich«, erwiderte Payne gelassen. »Sagen Sie Newman, dass ich ihn sprechen muss.«

Die Männer warfen sich einen skeptischen Blick zu, dann drehte sich der eine um und betrat das Büro. Gleich darauf tauchte er wieder auf und deutete mit einem Kopfnicken an, dass Payne eintreten sollte.

»Ich dachte, wir hätten alles geklärt, Mr. Payne«, begrüßte ihn Newman ohne Umschweife. Im Zimmer hing der herbe Geruch des Pfeifentabaks. Newman schlug ein Buch zu und legte den Füller, mit dem er darin geschrieben hatte, daneben auf den Tisch.

»Ich habe eine Frage. Kennen Sie einen Mr. Sanderson? Er arbeitet für eine Waffenfabrikation in Southwark. Eine von Greysons Fabriken, wenn mich nicht alles täuscht.«

Newman runzelte die Stirn. »Sanderson … Sanderson … Ja, ich kenne einen Sanderson. Er ist einer von Mr. Greysons Sekretären und in dessen Abwesenheit verantwortlich für die Fabrik.«

Paynes Mundwinkel zuckten zufrieden. »Mr. Newman, Sie als Kopf von Greysons Sicherheitskorps, was können Sie mir über Sanderson erzählen?«

»Nennen Sie mir einen Grund, warum ich das tun sollte.« Newman lehnte sich zurück und hob das Kinn. »Worum geht es hier?«

»Miss Frost und ich arbeiten an einem Fall«, antwortete er nur und setzte ein Grinsen auf. »Mehr darf ich Ihnen leider nicht sagen, Sie verstehen.«

»Hat er etwas angestellt, worüber ich Bescheid wissen sollte?« Der Sicherheitschef runzelte die Stirn.

»Sie werden es frühzeitig erfahren, sollte Sanderson tatsächlich etwas mit unserem Fall zu tun haben.«

Newman schaute Payne abschätzig an. Dann stand er auf und ging zu einem Aktenschrank, wo er ein schmales Buch herauszog und darin zu blättern anfing. »Eric Sanderson, seit drei Jahren als Privatsekretär angestellt und mit der Aufsicht über eine der Fabriken in Southwark betreut. Tadellose Buchführung, äußerst zuverlässiger Mann.«

»Was hat er gemacht, bevor er bei Greyson Industries eingestiegen ist?«

»Lassen Sie mich sehen. Royal Navy, Marineoffizier. Mehr wissen wir nicht über den Mann.« Newman klappte das Buch zu und stellte es zurück ins Register.

Also daher kam die steife Art des Sekretärs, dachte Payne. Sanderson war bei der Marine gewesen. In seinem Unterbewusstsein rastete etwas ein, doch er bekam den Gedanken nicht zu fassen. »Danke. Und entschuldigen Sie die erneute Störung. Das war dann auch die letzte für heute.«

»Ihr Amerikaner habt einen wundervollen Sinn für Humor«, gab Newman mit gebleckten Zähnen zurück.

Payne schlenderte grinsend an den Wachhunden vorbei. Jetzt musste er nur noch Frost finden, die irgendwo bei den Docks war. Vermutlich bei ihren Freunden von der chinesischen Mafia.

Der Gedanke gefiel ihm nicht, doch wenn es half, den Prototypen schneller zu finden, so sollte es ihm recht sein. Solange nicht wieder auf ihn geschossen wurde.

Frost & Payne - Die mechanischen Kinder  Die komplette erste Staffel

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