Читать книгу Frost & Payne - Die mechanischen Kinder Die komplette erste Staffel - Luzia Pfyl - Страница 29
12.
ОглавлениеCecilia mochte Samstage in Greenwich. Keine lärmenden Studenten rannten zwischen den Gebäuden der Universität und in den Gängen des Observatoriums herum. Überall herrschte wunderbare Stille, und sie war weit und breit der einzige Mensch. Sie wusste zwar, dass sie nicht die einzige war, die an den Wochenenden in der Universität arbeitete, doch sie stellte sich gerne vor, dass sie der einzige Mensch auf der Erde war. Die Vögel vor ihrem Fenster zwitscherten die Vorboten des Frühlings, der an manchen Tagen bereits in der Luft zu hängen schien.
Cecilia reckte sich und stand auf. Sie brauchte eine Pause. Ein Spaziergang durch den Park würde ihre Hirnwindungen wieder in Gang bringen.
Weil sie die einzige im Observatorium war, ließ sie die Türen hinter sich offen. Weit und breit war niemand zu sehen, die Anhöhe, auf der die Sternwarte und das Planetarium gegenüber standen, lag verlassen.
Die Melodie von Bachs »Air« summend, schlenderte sie den Hügel hinab und weiter durch den weitläufigen Park. Obwohl ein kalter Wind über die Wiese zwischen dem Wäldchen, das die Anhöhe umgab, und dem Universitätsgebäude zog, setzte sie sich auf eine Parkbank und schaute in die Wolken hinauf.
Ihre Gedanken wanderten wie von selbst zu dem grausigen Moment, als man die Leiche praktisch auf den Stufen der Universität entdeckt hatte. Wie schon so oft in den letzten beiden Tagen. Cecilia hoffte, dass Jackson und Miss Frost etwas unternahmen. Sie wollte nicht, dass die nächste Leiche, die man fand, Annabella war. Das würde sie nicht ertragen. Jackson ging es ähnlich, das hatte sie in seinen Augen gesehen. Er würde die Sache aufklären und den Mörder finden, da war sie sich sicher.
Cecilia zwang sich, die unruhigen Gedanken beiseitezuschieben und rezitierte dazu ein paar Formeln. Das half ihr immer, sich zu konzentrieren. Eine Weile dachte sie an die Arbeit, an der sie gerade schrieb und bei der sie nicht weiterkam. Vielleicht sollte sie nächste Woche Professor Jacobs konsultieren.
Ein Rufen durchbrach die Stille im Park. Cecilia schaute auf, doch sie konnte niemanden sehen. Sie beschloss, zurück ins Observatorium zu gehen. Der Wind wurde ihr nun doch ein wenig zu kalt.
Schon von Weitem konnte sie den immer noch offenen Haupteingang des Gebäudes sehen. Links von ihr lag das Planetarium, und sie wollte schon daran vorbeigehen, als sie jemanden im Garten sah.
Einen Mann. Er verschwand soeben um die Ecke hinter das Haus. Cecilia runzelte die Stirn. Es war Samstag, niemand sollte hier sein. Die Mitarbeiter des Planetariums arbeiteten nie am Wochenende, das wusste sie mit Sicherheit. Ein Student vielleicht?
Sie hatte einen Schlüssel zum Planetarium an ihrem Bund. Kurz lauschte sie, doch sie hörte nichts. Was auch immer dieser Mann hier machte, er war nicht befugt, das Gebäude zu betreten. Und wenn es sich um einen Studenten handelte, so würde sie nicht zulassen, dass man üble Streiche spielte. Es wäre nicht das erste Mal, dass die Studenten dachten, sie seien auch nur im Entferntesten lustig.
Entschlossen ging Cecilia auf das Planetarium zu. Der Kies knirschte unter ihren Schuhen. Sie schloss die schwere Eichentür auf und betrat den dunklen Flur. Wieder lauschte sie. Alles war still.
Ob sie sich geirrt hatte? Vielleicht war es auch nur einer der Gärtner gewesen. Nein, sie musste nachsehen. Sie würde keine Ruhe haben, bis sie wusste, dass hier alles in Ordnung war.
Ihre Schritte hallten durch den weiten Raum. Das Echo war ein wenig unheimlich in der Düsternis, doch Cecilia schüttelte das Gefühl ab. Sie erforschte die Weiten des Universums. Ein leeres Haus jagte ihr keine Angst ein.
Ein Geräusch ließ sie herumfahren. »Hallo?«, rief sie. Keine Antwort. Wieder hörte sie das Geräusch. Es hörte sich an, als ob jemand schwere Kisten umstellte. Dann glaubte sie, Stimmen zu hören.
Die Doppeltür zum eigentlichen Planetenraum stand einen Spalt offen. Und jemand befand sich darin. Cecilia ging auf die Tür zu, stieß sie auf und blieb mitten in der Bewegung stehen.
»Was machen Sie hier?«, fragte sie. Ihre Augen flackerten zwischen den beiden fremden Männern hin und her. Ihre Gesichter sahen jung aus, ihre Kleider waren die eines Fabrikarbeiters, und auf dem Kopf trugen sie speckige Mützen. Die Männer starrten Cecilia an. Sie hatte sie überrascht.
Cecilia blickte auf die Apparatur, an der die Männer offensichtlich gearbeitet hatten, als sie in den Raum geplatzt war. Sie sah eine helle Masse, die wie Knete aussah, Kupferkabel, eine Taschenuhr.
Ihr Kopf war wie leergefegt, als sie erkannte, was das alles bedeutete. Die Worte des Drohbriefes tauchten vor ihrem inneren Auge auf.
Sie machte einen Schritt rückwärts und tastete blindlings nach dem Türknauf, doch sie stolperte über den Saum ihres Kleides. Sofort begann ihr Herz zu rasen, und der Drang, laut zu schreien, wurde beinahe unerträglich. Aber niemand hätte sie gehört, sie war ganz alleine.
Die beiden Männer warfen sich einen kurzen Blick zu, dann zückte einer ein Messer.
Frost nestelte nervös am Saum ihres Mantels. Sie stand unter einem der Baldachine, die man um die Wiese herum aufgestellt hatte, und schaute dem bunten Treiben zu. Bedienstete des royalen Haushalts deckten Tische für die hohen Gäste. Andere stellten Heizpilze in die Zelte, denn das Wetter hatte über Nacht beschlossen, dem nahenden Frühling zu trotzen. Es war Ende Februar, doch es war eisig kalt, und die dunklen Wolken am Himmel drohten mit Schnee.
Frost hatte von Baxter gehört, dass Lord Greyson den Vorschlag gemacht hatte, wegen des Wetters die ganze Veranstaltung zu verschieben oder wenigstens ins Innere eines Hauses zu verlegen, doch der Duke hatte darauf bestanden, alles so zu belassen. Ein Seemann ließ sich nicht von ein bisschen Kälte abschrecken, hatte der Duke gesagt.
Helen trat neben Frost und reichte ihr eine dampfende Tasse Tee. Frost hatte sie heute Morgen in alles eingeweiht und sie um ihre Hilfe gebeten, nach einem potenziellen Attentäter Ausschau zu halten. Acht Augen sahen mehr als sechs. Außerdem wäre Dr. Baxter abgelenkt, sobald er die Prototypen präsentieren musste.
»Es wird schon alles gut werden, Miss«, sagte Helen zuversichtlich und lächelte Frost an, während sie sich an ihre eigene Tasse klammerte. Sie schien innerlich zu glühen, denn sie freute sich sehr, Frost bei einem Fall helfen zu können.
»Das hoffe ich.« Frost mochte sich nicht ausmalen, was geschehen würde, wenn der Attentäter erfolgreich war. »Wo steckt Mr. Payne, Helen?«
»Er unterhält sich mit dem Gentleman dort drüben.« Sie deutete auf ein Zelt in der Nähe.
Frost kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Rauch von den Heizpilzen waberte zwischen den Zelten. Payne stand neben einem Mann mit kräftigem Backenbart. Der Mann trug einen auf den Leib geschneiderten Anzug aus Wolle und Brokat, darüber einen dunklen Mantel. Den Zylinder hatte er fest auf den Kopf gedrückt. Wer war der Mann? Kannten er und Payne sich?
»Mische dich unter die Angestellten«, sagte sie leise zu Helen und schaute sich verstohlen um. Sie wollte nicht, dass jemand sie belauschte und am Ende entweder den Attentäter warnte oder Panik verbreitete. Der Duke durfte nichts davon erfahren. Er würde die Sache am Ende vielleicht doch noch abblasen, und sie hätten keine Chance mehr, den Verbrecher zu schnappen. »Halte Augen und Ohren offen. Wenn dir jemand besonders nervös vorkommt oder wenn jemand stark schwitzt, ohne sich anzustrengen, dann kommst du sofort zu mir. Egal, ob es sich dabei um einen Dienstboten oder um den Duke höchstpersönlich handelt, verstanden?«
Helen nickte pflichtbewusst. »Jawohl, Miss.« Ihre Mundwinkel waren angespannt, doch Frost konnte das aufgeregte Funkeln in ihren blauen Augen sehen.
»Ah, Miss Frost, hier sind Sie«, rief Baxter und trat unter den Baldachin. Fröstelnd stellte er sich unter einen der Heizpilze und rieb sich die Hände. Dann fiel sein Blick auf Helen. »Guten Tag, Miss.« Galant hob er den Hut kurz an, und Helen machte einen höflichen Knicks.
»Dr. Baxter, dies ist Helen Liddle, meine Gehilfin. Helen, das ist Dr. Finnley Baxter, der brillante Wissenschaftler, von dem ich dir erzählt habe«, stellte Frost die beiden einander vor. Vergnügt stellte sie fest, dass Baxter knallrot im Gesicht wurde und sich verlegen den Nacken rieb.
»Na, ich weiß nicht, ob ich so brillant bin, wie Miss Frost sagt, aber ich gebe mein Bestes.«
Helen lächelte. »Miss, ich mache mich dann mal besser an die Arbeit.«
»Sie wollten mich sprechen?«, fragte Frost, als Helen aus dem Zelt gehuscht war.
Baxter nickte. »Es ist soweit alles vorbereitet, wie wir es besprochen haben. Mr. Payne wird sich während der Präsentation unter die Zuschauer mischen. Inspektor Jones und Constable Manju sind ebenfalls unter den Zuschauern. Ich selbst werde jedoch keinen guten Beobachter abgeben, sobald es losgeht.«
Frost tätschelte ihm den Arm. »Helen ist eingeweiht und hält mit uns die Augen offen, Baxter. Konzentrieren Sie sich lieber auf die anderen drei Prototypen. Nicht, dass Sie selbst aus Versehen den Duke noch vor dem Attentäter abschießen.«
»Das ist nicht komisch, Miss Frost.«
Sie lachte auf. »Verzeihen Sie. Galgenhumor hilft mir, in solchen Situationen die Ruhe zu bewahren.«
»Was tun wir, wenn der Attentäter zuschlägt? Ich bin nur ein Wissenschaftler.« Baxter sah aus, als wäre ihm schlecht. Dafür, dass er Waffen konstruierte, war er ein ziemlicher Hasenfuß, befand Frost.
»Das überlegen wir uns, wenn es soweit ist«, antwortete sie. Sie wollte noch etwas hinzufügen, doch eine gemischte Gruppe aus Männern in dunklen Mänteln und Frauen in grellen Kleidern, die soeben über den Kiesweg geschritten kamen, lenkte sie ab. »Entschuldigen Sie mich, Dr. Baxter.«
Frost ließ den Tüftler stehen und ging der Gruppe entgegen. »Was machst du denn hier?«, fragte sie laut, und Michael Cho, der an der Spitze der Gruppe ging, blieb verwundert stehen. Seine dunklen Augen musterten Frost eingehend.
»Ich könnte dich das gleiche fragen, Lydia. Aber wenn du es genau wissen willst, mein Vater und Lord Greyson waren alte Freunde. Greyson hat mich eingeladen, und ich habe ihm versprochen, ein paar nette Damen zur Unterhaltung der Gäste mitzubringen.« Er grinste bis über beide Ohren, als Frost sich zur Seite beugte und die grell geschminkten jungen Frauen betrachtete. Unter ihren Mänteln trugen sie traditionelle Seidenkleider, ihre Haare waren kunstvoll hochgesteckt. Kichernd hielten sie sich buntbemalte Papierfächer vor ihre roten Münder.
»Ich nehme an, Madame Yueh lässt auf diese Weise Grüße ausrichten«, meinte Frost sarkastisch.
Michael schnalzte mit der Zunge und schüttelte in belustigter Missbilligung den Kopf. Dann bot er Frost den Arm an, damit sie gemeinsam weiterschlendern konnten. »Gehe ich recht in der Annahme, dass du wegen deines Auftrags hier bist?«
»Das ist korrekt.«
»Lass mich raten. Es wird, sobald die Präsentation losgeht, ein Attentat auf den Duke oder auf Greyson geben.« Als Frost überrascht zu ihm hochschaute, grinste er wieder. »Du darfst mir ruhig zutrauen, dass ich eins und eins zusammenzählen kann, meine Liebe.«
Frost unterdrückte einen Seufzer und presste die Lippen zusammen. Natürlich hatte Michael recht. Sie hatte ihm noch nie etwas vormachen können. Und sein messerscharfer Verstand war etwas, das sie an ihm bewunderte.
»Dein amerikanischer Freund redet mit Newman, Greysons Sicherheitschef. Alte Bekannte?«
Payne stand tatsächlich noch immer neben dem Mann mit dem exzentrischen Backenbart. Ob die beiden sich kannten, fragte Frost sich ebenfalls zum wiederholten Male. Wie Michael jedoch amerikanischer Freund betont hatte, hatte sie sehr wohl gehört. War er etwa eifersüchtig?
Ein tiefes Dröhnen kam auf, ein Schatten fiel auf die Zelte. Frost und Michael schauten gleichzeitig in den Himmel.
Der Zeppelin des Dukes schwebte so tief, dass manche sich instinktiv duckten. Er überflog den kleinen Park und machte über der Häuserreihe gegenüber eine halbe Drehung. Die Rotoren dröhnten auf, als die Piloten das Luftschiff abbremsten und langsam seitlich an einen schmalen Turm lenkten. Der Turm diente den Passagieren als Landungsbrücke. Seile wurden auf das Dach des Gebäudes hinuntergeworfen, Arbeiter zurrten sie dort fest.
»Es geht los«, sagte Frost und löste ihren Arm aus Michaels Ellbogen. »Ich geh dann mal an die Arbeit. Wir sehen uns später.«
Michael beugte sich zu ihr herab, um sie auf die Wange zu küssen. Frost ließ es zu. Sie bemerkte, dass Payne zu ihr herüberschaute.
»Bist du bewaffnet?«, fragte Michael leise und schaute ihr dabei eindringlich in die Augen.
Frost nickte und schluckte den Kloß in ihrer Kehle hinunter. Sie hoffte, dass sie ihren Revolver nicht einzusetzen brauchte. »Im Notfall hat es genügend Sicherheitspersonal und Polizei hier, um eine ganze Gang unschädlich zu machen«, scherzte sie. Zudem war sie sich sicher, dass auch Michael und seine Leute gerüstet waren. »Mir passiert schon nichts.«
Sie verabschiedete sich von Michael und ging über die Wiese zu Payne. Er zündete sich gerade eine Zigarette an. »Sie kennen Greysons Sicherheitschef?«, begrüßte sie ihn.
»Und Sie verkehren wieder mit der chinesischen Mafia«, gab Payne zurück. »Sie mögen chinesisches Essen also doch nicht ohne Grund.«
»Das hat nichts damit zu tun.« Frost musterte den Pinkerton. Wenn er nervös war, so gab er es mit nichts zu erkennen. Vermutlich hatte er viel mehr Erfahrung mit solchen Wartespielen und Attentätern als sie. Sie hingegen spürte nun, als sie wieder auf den Zeppelin blickte, die Anspannung sehr deutlich. Ihr Magen kribbelte, sie atmete flach. »Kann ich einen Zug haben?«, fragte sie ungeniert.
Payne hob die Augenbrauen und schaute verwundert auf sie herab, hielt ihr dann aber wortlos die Zigarette hin. Frost sog den Rauch tief ein und spürte das Brennen in ihren Lungen. Sie musste husten, doch das hielt sie nicht davon ab, noch einen Zug zu nehmen. »Danke«, murmelte sie und gab den Glimmstängel zurück.
Oh, sie hasste diese Warterei.