Читать книгу Frost & Payne - Die mechanischen Kinder Die komplette erste Staffel - Luzia Pfyl - Страница 8

5.

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Das Haus, vor dem Payne stand, sah aus wie jedes andere in der Gegend um Whitechapel. Backsteinmauern, vergilbte Vorhänge hinter schmutzigen Fensterscheiben, und neben der Eingangstür stapelten sich Unrat und Schmutz. Payne wartete, bis ein mit Säcken beladener Karren an ihm vorbeigerattert war, und überquerte die Straße. Die Haustür stand offen – hatte er etwas anderes erwartet? Das Treppenhaus roch nach altem Tabak und Pisse. Aus einer Wohnung im Erdgeschoss drang das Weinen eines Kleinkindes.

Payne stieg die knarrende Treppe hinauf in den ersten Stock. Vor der Tür mit der Nummer vier blieb er stehen und drehte den Knauf. Abgeschlossen. Er zog ein schmales Etui aus dem Mantel und zwei metallene Stifte daraus hervor. Ohne sich um das Geschrei aus der Erdgeschosswohnung zu kümmern, ging er in die Hocke. Das billige Schloss gab sehr schnell auf.

In der kleinen Wohnung herrschte diffuses Dämmerlicht. Payne schloss die Tür hinter sich und blieb reglos stehen. Der Lärm der Straße drang dumpf durch die Fenster. Irgendwo tropfte Wasser. Es roch nach verbrannter Kohle und abgestandener Luft.

»Na, dann wollen wir mal sehen, wo du sie versteckt hast, Granger.« Payne schmunzelte und streifte lederne Handschuhe über.

Er durchwühlte die Papiere auf dem überladenen Schreibtisch, zog Schubladen heraus und leerte sie auf dem Boden aus. Mit der Kommode neben dem armseligen Kamin verfuhr er ebenso. Dann wandte er sich dem Schlafzimmer zu. Im Schrank fand er nur ein paar Kleidungsstücke, die fürchterlich nach Mottenkugeln müffelten. Dann fiel sein Blick auf das Bett und die Matratze. Mit einer Hand stemmte er die Matratze hoch, in der anderen hielt er ein Klappmesser. Der Inhalt der Matratze quoll ihm stinkend entgegen, als er die Hülle aufschlitzte. Doch auch hier fand er nichts.

Payne unterdrückte einen Fluch und ging zurück in den größten Raum. Seine Arbeit hatte ein mächtiges Durcheinander hinterlassen. In einer Ecke stand ein niedriger Tisch mit Flaschen darauf. Payne schenkte sich ein Glas Single Malt ein und schwenkte das Glas nachdenklich. Das war ein teurer Whisky. Wie konnte sich Granger den leisten?

Payne räumte den Sessel frei, drehte ihn so, dass er die Wohnungstür direkt im Blick hatte, und setzte sich hin. Irgendwann musste Granger nach Hause kommen. Payne hatte Zeit.

Lange musste er nicht warten. Sein Glas war noch nicht ganz leer, als er Schritte auf der Treppe hörte. Gleich darauf klirrten Schlüssel, der Türknopf drehte sich.

»Was zur Hölle …?!«

Ein schlaksiger Mann blieb mit offenem Mund in der Tür stehen und starrte auf das Chaos in seiner Wohnung.

»Hallo, Granger.«

Der Mann zuckte zusammen und machte einen leichten Satz. Entsetzen schlich sich in seine grauen Augen, als er Payne erblickte und erkannte.

»Sind das neue Schuhe?« Payne leerte gemächlich das Glas.

»Mr. Payne, was soll das? Ich verlange eine Erklärung, auf der Stelle!« Granger plusterte sich auf, als er den ersten Schreck verdaut hatte. Sein Gesicht lief rot an. Die Farbe biss sich mit dem Rot seiner Haare. Mit einer Handbewegung deutete er auf die Unordnung in der Wohnung.

Payne stand auf und reckte sich. Granger wich einen halben Schritt vor ihm zurück. »Wo sind die Pläne?«, fragte Payne gelassen und stellte das leere Glas auf den Schreibtisch.

»Pläne? Welche Pläne? Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen.« Er hob die Hände. Payne bemerkte zufrieden, dass der Mann zu schwitzen begann.

»Die Pläne, die du aus Mr. Greysons Büro gestohlen hast, natürlich. Als sein Assistent müsstest du das eigentlich wissen.«

Er wich erneut einen Schritt zurück. Payne bemerkte, wie er seinen Körper anspannte. Mit der linken Hand tastete der Mann beinahe unauffällig nach dem Brieföffner, der auf dem Schreibtisch unter Papieren begraben lag. Paynes Mundwinkel zuckte. Es war beinahe lächerlich.

Mit einer blitzschnellen Bewegung packte er Grangers Hinterkopf. Der Rothaarige krachte mit dem Gesicht voran auf die Schreibtischplatte und jaulte auf. Payne hörte das unmissverständliche Knirschen einer brechenden Nase. »Wo sind die Pläne, Granger?«, fragte er noch einmal und presste den Assistenten auf den Tisch.

»Ich … Ich habe sie verkauft!«, heulte er und versuchte, das Blut zurück in die Nase zu schniefen.

»An wen?« Als er nur die Augen zusammenkniff, aber nicht antwortete, seufzte Payne auf. »Du hast drei Sekunden.« Das Klicken eines Revolvers war zu hören. Granger bebte am ganzen Körper und wimmerte. »Drei …«

»Die werden mich umbringen, wenn ich es Ihnen sage!«

»Zwei.«

»Payne, bitte!«

»Eins.«

»Okay, okay, warten Sie!« Der Körper des Assistenten entspannte sich ein wenig. »Der Russe. Ich habe sie an den Russen verkauft.«

Payne ächzte auf. Damit hätte er rechnen müssen. »Ich will den Namen und die Adresse. Wie hast du ihn kontaktiert?«

»Ich kenne keine Namen. Ich bekam jeweils ein Telegramm mit einem wechselnden Treffpunkt, wo ich das Geld vorfand und meine Ware hinterlegen sollte. Ich habe den Mann nie persönlich getroffen!«

Dieses Schema war ihm bekannt. Der Russe war zu vorsichtig. Aus dem Assistenten würde er nichts Informatives mehr herausbekommen.

»Lassen Sie mich gehen, Payne, ich bitte Sie!«

»Hm …« Payne lockerte den Griff ein wenig. Dann drückte er den Revolver an Grangers Schläfe, worauf dieser sofort wieder zu wimmern begann. »Mr. Newman lässt dir ausrichten, dass du gefeuert bist, Granger.«

Der Schuss knallte laut in der engen Wohnung. Payne ließ vom leblosen Körper auf dem Schreibtisch ab und steckte den Revolver zurück in das Holster unter seinem Mantel. Mit der Flasche Whisky in der Hand verließ er die Wohnung.

Der Russe war ein Problem.

Jackson Payne stand im opulenten Flur des Henley Gentlemen Clubs in der Oxford Street und wartete darauf, dass sein Kontaktmann ihn empfing. Ein dicker roter Teppich schluckte alle Geräusche. An den getäfelten Wänden hingen Portraits der Königsfamilie, und vergoldete Leuchter hüllten alles in warmes Aetherlicht. Aus der geschlossenen Flügeltür zu seiner Rechten drangen gedämpft Gespräche und Gläserklirren. Es war Freitagabend und der Club vollbesetzt. Die Gentlemen kamen gewöhnlich bereits zum Tee und blieben bis weit nach Mitternacht. Sie nahmen ihre Mahlzeiten hier zu sich, sie lasen Zeitung, rauchten Zigarren, tätigten nebenbei ihre Geschäfte, tranken teuren Brandy und sprachen mit ihren Freunden.

Der Mann hinter dem Tresen beäugte ihn argwöhnisch. Payne bedachte ihn mit einem unbeteiligten Blick, während er eine Zigarette drehte. Er war sich bewusst, dass seine Kleidung und sein Auftreten nicht den Gepflogenheiten eines Gentlemenclubs entsprachen. Er konnte sich glücklich schätzen, hatte man ihn überhaupt bis ins Foyer eingelassen. Sie hätten ihn draußen in der Kälte warten lassen können. Aber es war ihm herzlich egal. Das Wichtigste im Augenblick war, dass er mit seinem Kontaktmann sprechen konnte.

Payne steckte die Zigarette hinters Ohr und holte ein zerknittertes Lichtbild aus der Innentasche seines Jacketts. Das Mädchen darauf lachte ihm entgegen. Annabella. Payne strich mit dem Finger über ihr fröhliches Gesicht und steckte das Bild zurück in die Tasche.

»Payne, was zum Teufel suchen Sie hier?«

Payne schaute auf. Mr. Newman, Sicherheitschef bei Greyson Industries und sein Kontaktmann, kam energisch auf ihn zu und war sichtlich nicht amüsiert, ihn zu sehen. »Ich dachte, ich vergleiche das lokale Establishment mit dem New Yorks. Scheint mir genauso versnobt zu sein.«

»Ihre Scherze sind wie immer unangemessen.« Newman, ganz elegant im Smoking gekleidet, warf einen Blick auf den naseweisen Empfangsmann hinter dem Tresen. Er nahm Payne am Arm und führte ihn ein paar Schritte weg. »Was ist so dringend, dass Sie nicht wie jeder andere morgen früh in mein Büro kommen konnten?«

Payne verkniff sich eine sarkastische Bemerkung und kam stattdessen gleich auf den Punkt. Je eher er die Sache hinter sich brachte und diesen Schuppen verlassen konnte, desto besser. »Granger war der Maulwurf.«

Newman hielt inne und hob die buschigen Augenbrauen. »Granger, sagen Sie? Der Assistent?« Payne nickte. »Das ist unglücklich. Der Mann war gut, wir waren nie unzufrieden mit seiner Arbeit. Wer hätte das gedacht?«

»Und trotzdem hat er Sie und Ihre Leute hintergangen, und Sie haben nichts davon bemerkt«, erwiderte Payne. »Haben Sie ihn derart schlecht bezahlt?« Er dachte an die schäbige Wohnung und Grangers einfache Kleidung. Die neuen Schuhe und den teuren Whisky hatte er sich garantiert nicht von seinem Gehalt gekauft.

Newman warf ihm einen scharfen Blick zu. »Sie sollten sich nicht zu sehr aus dem Fenster lehnen, Payne. Was ist mit den Plänen?«

»Er hat sie verkauft.«

»Ich will Ihnen nicht alles aus der Nase ziehen müssen, Mann. Reden Sie.«

»Granger hat die Pläne an den Russen verkauft. Für wie viel, weiß ich nicht. Aber er wird keine Probleme mehr machen.«

Newman nickte und schien zufrieden. »Sie bleiben an der Sache dran, nehme ich an.«

Payne zog die Zigarette hinter dem Ohr hervor und zündete sie mit einem Streichholz an. »Sie wissen anscheinend nicht, mit wem Sie es zu tun bekommen haben. Der Russe wird auch der Sammler genannt. Niemand weiß, wer er ist, und niemand stellt sich zwischen ihn und etwas, das er haben will.«

»Ich habe die Geschichten über ihn gehört, Mr. Payne. Angeblich hat er ein halbes Jahr lang New York terrorisiert, weil er ein ganz bestimmtes Bild wollte.«

Es war Die Anatomie des Dr. Tulp von Rembrandt gewesen, erinnerte sich Payne. Erst war das Kunstmuseum beinahe gesprengt worden beim Versuch, es zu stehlen, dann hatte man die Witwe, der das Gemälde gehörte, entführt, um ihre Familie zu erpressen. Payne war mit seinem Partner auf den Fall angesetzt worden, doch sie hatten weder die Entführer noch den Mann hinter den Kulissen zu fassen bekommen. Auch das Bild hatten sie nicht zurückbringen können. Die Sache war ein gefundenes Fressen für die Presse gewesen, um die Pinkertons schlecht dastehen zu lassen.

»Lord Greyson täte gut daran, die Pläne zu vergessen und neue zu machen«, meinte Payne. »Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich rede. Hat uns drüben ziemliche Probleme bereitet. Aber wenn Sie wollen, dass ich an der Sache dranbleibe …« Er stieß den Rauch durch die Nase aus und musterte sein Gegenüber. Falls Newman ihn nun vom Fall abzog, wäre die Möglichkeit dahin, mehr über den Russen zu erfahren. Dann wären die letzten Monate völlig umsonst gewesen.

»Das möchte ich, in der Tat. Lord Greyson duldet keine Spinner wie diesen Russen, die sich in seine Geschäfte einmischen.«

Payne nickte und setzte sich den Hut auf. Der Sammler war garantiert kein Spinner, so viel wusste er, aber das brauchte er Newman nicht auf die Nase zu binden. Er tat dies alles hier nur, um Annabella zu finden.

Er wandte sich gerade zum Gehen, als Newman ihn zurückhielt. Der Empfangsmann überreichte dem Sicherheitschef ein Telegramm, welches er hastig überflog. »Ich hoffe, Sie haben heute nichts mehr vor.«

Payne legte den Kopf schräg. »Nur eine Verabredung mit einer Flasche Whisky.«

Newman schnaubte und zerknüllte dabei das Stück Papier in seiner Hand. »Sparen Sie sich die dummen Scherze. Der Russe hat soeben erneut zugeschlagen.«

»Sind Sie sicher, dass er es ist?« Payne trat näher. Ob das die heiße Spur war, nach der er schon so lange suchte?

»Dies ist ein Telegramm von Mr. Nelson Bingham, einem sehr guten Freund von Lord Greyson.« Newman wedelte mit dem zerknüllten Papier. »Vor einer halben Stunde wurde ein wertvoller Foliant aus seinem Haus gestohlen. Angeblich ist das Buch einzigartig – etwas, das der Russe mit Sicherheit haben will.«

»Aber das ist kein Beweis, dass es der Russe war.«

»Mr. Bingham identifizierte die Diebin. Sie ist im Untergrund als die ‚Schlüsselmacherin’ bekannt. Sie arbeitet nur auf Auftrag und gehört zu den Besten ihres Fachs.« Newman musste als Sicherheitschef von Lord Greysons Stahlimperium über alle wichtigen Personen des Londoner Untergrunds Bescheid wissen. Das war auch der Grund gewesen, dass Payne sich von ihm hatte anheuern lassen.

Payne runzelte die Stirn. »Klingt, als wäre sie jemand, den der Sammler anwerben würde. Ich sehe mir die Sache mal an. Was ist mit Scotland Yard?«

»Sind bereits vor Ort, doch Mr. Bingham wünscht, dass wir uns darum kümmern. Wir haben die besseren Ressourcen, wie Sie bestimmt wissen.« Newman machte eine kurze Pause und sah Payne dabei scharf an. »Sehen Sie sich die Sache an, Payne. Und seien Sie vorsichtig.«

Payne nickte und tippte sich zum Gruß an den Hutrand. Die Sache wurde interessant. Endlich schien der Russe in greifbare Nähe zu kommen. Aber nur beinahe. Er musste sich beeilen.

Draußen auf der Straße schlug ihm die Kälte entgegen. Dichter Schneefall hüllte die Stadt ein. Die Straßenlaternen vermochten die Dunkelheit kaum zu verdrängen. In der Nähe knisterte und blitzte das blaue Licht einer vorbeifahrenden Straßenbahn.

Mit dem Hut tief in die Stirn gezogen, eilte Payne an den wenigen Passanten, die bei dem Wetter noch unterwegs waren, vorbei zur Station. Belgravia lag von hier nur einen Katzensprung entfernt. Er würde sich das Haus ansehen und diesem Bingham ein paar Fragen stellen. Und dann konnte er sich hoffentlich der Flasche Whisky widmen, die in seiner Bleibe auf ihn wartete.

Im White Stag war es rappelvoll. In einer Ecke spielte eine Truppe Musiker Seemannsweisen, und jeder einzelne Gast im Pub schien lauthals mitzusingen. Payne saß in der hintersten Ecke am Fenster und starrte hinaus auf die verschneite Straße. Die Musik und der Gesang prallten an ihm ab, als befände er sich in einem abgeschotteten Raum. Das Lichtbild des Mädchens lag neben dem halb leeren Bierglas auf dem Tisch.

Im Haus von Mr. Bingham hatte er kaum verwertbare Spuren gefunden. Eine umgestoßene Lampe, eine leere Vitrine und Mr. Binghams riesige Beule, mehr nicht. Allerdings hatte Bingham ihm ein paar interessante Dinge über die Diebin erzählt. Sie wurde Schlüsselmacherin genannt, weil sie angeblich jede Tür öffnen konnte. Wie sie das machte, hatte er ihm nicht sagen können. Doch weil sein Butler ihn darauf aufmerksam gemacht hatte, dass sie wenige Stunden zuvor um das Haus geschlichen war und sogar unter falschem Vorwand hatte eindringen wollen, hatte er das Schloss an der Hintertür auswechseln lassen.

Das hatte ihr den Fluchtweg abgeschnitten. Trotzdem hatte sie mit dem Buch fliehen können, wie Binghams Beule bewies. Payne hatte gehofft, mehr zu erfahren. Doch eine im Untergrund bekannte Diebin sollte nicht so schwer zu finden sein. Er würde morgen einigen Leuten ein paar Fragen stellen müssen. Für heute hatte er allerdings die Nase voll, und er wollte sich nur noch betrinken.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite rannte ein kleines Mädchen durch den Schnee. Die Kapuze fiel ihm in den Nacken und enthüllte braune Locken. Payne richtete sich auf, und sein Herz machte einen Sprung. Annabella?

Doch als das Mädchen sich umdrehte und auf seine Eltern wartete, die soeben in Paynes Blickfeld erschienen, sackte er zurück in den Stuhl. Dummkopf, schalt er sich und nahm einen kräftigen Schluck Bier. Jetzt sah er schon in jedem Mädchen mit braunen Haaren seine Tochter. Wieder starrte er auf das Lichtbild. Es war zerknittert und abgegriffen, doch Annabellas Gesicht strahlte noch immer genauso wie an dem Tag, als sie das Bild gemacht hatten. Payne war gerade frisch aus New York eingetroffen, und Cecilia hatte darauf bestanden, dass sie zum Lichtgraphen gingen. Er hatte seine Familie zwei Jahre lang nicht gesehen. Das war vor einem halben Jahr gewesen – bevor Annabella spurlos verschwand und er auf eigene Faust nach ihr zu suchen begann.

Payne wünschte sich, dass Cecilia niemals die Stelle in London angenommen hätte. Sie hätte New York nicht verlassen sollen, dann wäre Annabella heute noch hier. Er hätte früher nach London reisen sollen, dann hätte er sie beschützen können.

Er seufzte und schaute abermals aus dem Fenster. Die Stimme in seinem Kopf machte ihm bittere Vorwürfe. Als hätte er die Sache in den letzten zwei Monaten nicht schon hundert Mal hin- und hergedreht. Er war vor sechs Monaten in London eingetroffen und hatte seine Familie endlich wiedergesehen. Und dann war Annabella eines Tages wie vom Erdboden verschluckt. Ihr Bett war an jenem Morgen leer gewesen, doch niemand hatte gesehen, wie sie das Haus verlassen hatte. Sie hatten die ganze Nachbarschaft und die umliegenden Parks, in denen sie oft spazieren gegangen waren, abgesucht. Selbst die Polizei hatte ihnen nicht helfen können. Von Annabella fehlte jede Spur. Cecilia hatte sich in die Arbeit gestürzt und Payne mit seiner Verzweiflung alleine gelassen.

Dieses verdammte London, fluchte Payne innerlich. Aber er würde nicht aufgeben, bis er Annabella gefunden hatte. Er war zwar kein Pinkerton mehr, doch seine Arbeit hatte er deswegen nicht verlernt.

Er steckte das Lichtbild nach einem letzten liebevollen Blick zurück in die Innentasche seiner Weste und leerte das Glas. Dann winkte er der Kellnerin.

»Noch ein Bier, love?«, fragte diese, als sie Paynes Glas an sich nahm.

»Ich könnte etwas Stärkeres vertragen.«

»Harter Tag?« In ihrer Stimme schwang ein Hauch Mitleid mit. Sie bedachte ihn mit einem Lächeln.

»Kann man so sagen«, gab Payne zurück und legte einen Geldschein auf den klebrigen Tisch. »Bring am besten die ganze Flasche.« Für das Geld bekam er etwas Besseres als die Pulle billigen Whiskys, die oben in seinem Zimmer stand.

Die Kellnerin spitzte die Lippen und nahm wortlos den Schein entgegen. Sie schlängelte sich zwischen den vollbesetzten Tischen hindurch. Eine Gruppe Männer drängte sich in der Mitte des Schankraumes zusammen. Jemand grölte etwas, und gleich darauf wurde der ganze Raum von einem hellen Blitz erleuchtet. Payne kniff geblendet die Augen zusammen und fluchte.

»Vielen Dank, meine Herren! Wunderbar!«, rief ein Mann, der soeben unter dem schwarzen Tuch eines transportablen Lichtbildapparats hervorkam. Die Gruppe löste sich auf, und die Musik fing wieder an zu spielen.

Die Kellnerin kam zurück und stellte ein frisches Glas sowie eine Flasche Scotch vor Payne auf den Tisch.

»Was war das eben?«, fragte Payne und deutete mit dem Kinn auf den Lichtbildgraphen, der dabei war, seine Sachen zusammenzupacken.

»Ach, die Dartstruppe hat anscheinend ein Turnier gewonnen. Der Reporter ist vom Evening Standard.«

Payne murrte und schenkte sich den Whisky ein. Zeit, sein schlechtes Gewissen zu betäuben. Zum Glück hatte er es nicht weit bis zu seiner Wohnung. Sie lag genau über dem Pub.

Als er die stockdunkle Treppe hinaufwankte, war es längst nach Mitternacht. Er war, wie so oft, der letzte Gast gewesen. Er brauchte eine Weile, bis er das Schlüsselloch zu seiner Wohnung fand. In der Flasche, die er in der Hand hielt, befand sich ein kleiner Rest Whisky. Er schaffte es gerade noch bis zum Bett, dann sackte er zusammen.

In den frühen Morgenstunden wurde die Old Castle Street in Whitechapel unsanft aus dem Schlaf gerissen. Im Haus des White Stag-Pubs ereignete sich eine heftige Explosion. Alle Fenster barsten. Scherben und die Reste des ersten Stockwerkes regneten auf die Straße vor dem Pub.

Frost & Payne - Die mechanischen Kinder  Die komplette erste Staffel

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