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Die Bell Labs

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Das Scientific Management hatte die Zusammenarbeit in den Fabriken und Verwaltungen der Unternehmen rund um die Welt definiert. Ein gnadenloser Konkurrenzkampf um Märkte und Kunden forderte von allen Markteilnehmern ähnlich harsche Rationalisierungsbemühungen. Nur wenige konnten den Zwängen entkommen: kleinere Büros und Firmen, die in geschützten Märkten mit weniger Wachstumsdruck konfrontiert wurden; dazu die staatlichen Verwaltungen und Behörden, Universitäten, freiberufliche Praxen und Kanzleien, wohlhabende Kaufleute und Immobilienbesitzer. Aber auch einige Privatunternehmen, die aufgrund ihres Geschäftsmodells oder ihrer technologischen Bedingungen eine besondere Stellung einnahmen, konnten sich den Luxus leisten, zumindest in Teilen ihrer Organisationen andere Managementpraktiken zu verfolgen. Eines dieser Unternehmen in den USA war die American Telephone & Telegraph Company, kurz AT&T. Hervorgegangen war AT&T aus der Bell Telephone Company, die im Jahr 1877 von Alexander Graham Bell gegründet wurde. AT&T war mit dem Ausbau des Fernsprechnetzes um die Jahrhundertwende zu einem riesigen Monopol herangewachsen. Mehrere Unternehmen, darunter die New England Telephone Company, Pacific Bell und Western Electric zählten zu ihrem Konglomerat. Viele Jahrzehnte hinweg war AT&T sogar die größte Telefongesellschaft der Welt.

Dieser Erfolg basierte hauptsächlich auf zwei Faktoren. Zum einen besaß AT&T Jahrzehnte lang ein vom Staat geschütztes Monopol, das dem Unternehmen eine kontinuierlich wachsende Einnahmequelle aus den Telefonabonnements amerikanischer Haushalte bescherte. Jeder Amerikaner, der ein Telefon besaß, zahlte in AT&Ts Kasse ein. Der zweite Erfolgsfaktor war ihre außerordentliche Innovationsfähigkeit. Man muss sich bewusst machen: Als man damals die Bell Telephone Company gründete, war das Telefon nur eine vage Idee einiger Erfinder und Tüftler. Alles, was es zu einem Telefonnetz brauchte: Telefonapparate, Verbindungstechnik, Relaystationen, Dispatcher, kilometerlang im Boden verlegte Kabel, Verstärker, die die Signale über weite Strecken übertragen konnten etc., musste erst noch mühsam entwickelt werden. AT&T nutzte dafür seine immensen finanziellen Ressourcen und investierte massiv in Forschung und Entwicklung. Während es sich als Mutterunternehmen um Ausbau und Betreibung des Netzes kümmerte, oblag der Tochtergesellschaft Western Electric die Entwicklung der dafür notwendigen Technologie. Und sie war darin sehr erfolgreich. Unzählige Erfindungen und Entwicklungen stammen aus ihrem Hause. Um nur einige der bedeutendsten aufzuzählen: der Transistor, der die Grundlage der heutigen Computerchips bildet; die ersten passiven und aktiven Satelliten; die Grundsätze der Informationstheorie; das Radar und Sonar; die Sendetechnik für Radio- und Fernsehapparate; die Programmiersprache Unix; das moderne Glasfaserkabel und sogar die Grundlagen unserer heutigen Mobilfunktechnologie.

Diese und viele weitere technische Erfindungen wurden binnen weniger Jahrzehnte nur von einem einzigen Unternehmen geschaffen. Undenkbar, dass so viel konzentrierte kreative Energie in den hiesigen white-collar factories entstanden sein sollte. Es musste vielmehr auf dem Verstand genialer Denker beruhen, die unter völlig anderen Arbeitsbedingungen ihren Erfindergeist ausleben konnten. Die Frage lautet: Wie sah die besondere Arbeitsumgebung bei AT&T am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts aus?

Es begann in New York City, auf der West Street, im Stadtviertel Greenwich Village. Dort besaß Western Electric ein großes Gebäude. Im Inneren dehnten sich offene Hallen aus, in denen alle paar Meter mächtige Säulen die schwere Decke stützten. Auf mehreren Etagen, an langen Tischreihen, arbeiteten Männer in schwarzen Anzügen und weißen Hemden. Damals gab es noch handbetriebene Fahrstühle, mit denen man von Stockwerk zu Stockwerk gelangte. Die Mehrheit der Arbeiter waren Ingenieure. Im Laufe der Zeit kamen aber auch immer mehr theoretisch arbeitende Wissenschaftler dazu. Als den Unternehmenslenkern bewusst wurde, dass der Erfolg von AT&T mit der Entwicklung der Technologie eng verschmolzen war, gründete man 1924 ein eigenständiges Unternehmen, die Bell Telephone Laboratories Inc., kurz die Bell Labs. Man verteilte die Zuständigkeiten: Die Bell Labs sollten ausschließlich forschen und entwickeln, Western Electric würde daraufhin die neu entwickelten technischen Anlagen bauen und AT&T das Netz betreiben. Finanziert wurde das Ganze über die Einnahmen der Telefonabonnements des Mutterunternehmens. Zu Beginn stellte man den Bell Labs über 12 Millionen Dollar zur Verfügung (entspricht heute ca. 150 Millionen Dollar). Unter der neuen Firma sollten bald Hunderte von Wissenschaftlern aus der Physik, Chemie und Metallurgie in interprofessionellen Teams zusammenarbeiten. Die Bell Labs verfolgten damit einen völlig neuen Ansatz: Bis dato hatte sich die Entwicklungsarbeit von Unternehmen auf die angewandte Wissenschaft beschränkt. Man scheute die hohen Ausgaben für Forschung und Entwicklung, wenn keine konkreten Produkte zu erwarten waren. Die Bell Labs waren das erste Industrie-Entwicklungslabor, das den Willen, den langen Atem und die Weitsicht besaß, sich eine intensive Grundlagenforschung zu leisten. Theoretische Wissenschaftler waren bei ihnen genauso gefragt und angesehen, wie Ingenieure, die an der Verwirklichung von konkreten Produkten arbeiteten. Der erste Präsident der Bell Labs, Frank Jewett, erklärte in einem Vortrag die grundlegende Idee seiner neuen Firma:

An industrial lab is merely an organization of intelligent men, presumably of creative capacity, specially trained in a knowledge of the things and methods of science, and provided with the facilities and wherewithtal to study and develop the particular industry with which they are associated. In short, modern industrial research was meant to apply science to the „common affairs“ of everyday life. It is an instrument capable of avoiding many of the mistakes of a blind cut-and-try experiment.1

Es waren Wissensarbeiter, die beauftragt wurden, an völlig neuen Ideen und Visionen zu arbeiten, statt sich nur mit der Verbesserung von bestehenden Produkten und Technologien zufriedenzugeben. Das Management erkannte, dass es dazu aber auch eines anderen Führungsstils bedurfte. Menschen zu managen, ist etwas vollkommen anderes, als Ideen zu managen. Mit dieser Einsicht nahmen die Bell Labs damals eine Sonderstellung ein. Erst viele Jahrzehnte später, als sich Innovationsfähigkeit branchenübergreifend zum wichtigsten Wettbewerbsvorteil heraus kristallisierte, sollten dies auch andere Unternehmen erkennen und dem Weg der Bell Labs folgen.

Mitte der 1920er Jahre war die Mitarbeiterschaft der Bell Labs derart angewachsen, dass das alte Gebäude an der West Street drohte, aus allen Nähten zu platzen. Frank Jewett entwickelte daraufhin Pläne, einen neuen Standort aufzubauen. Vieles sprach für einen Auszug aus Manhattan in den ruhigen Vorort Murray Hill in New Jersey, der etwa 25 Meilen vor NYC liegt: Da gab es zum einen die verbesserten Testbedingungen. Die Bell Labs forschten zu jener Zeit intensiv an Radiowellen. Das wurde in der Innenstadt zu einem Problem, da zu viele Interferenzen und Störungen immer wieder die Testergebnisse verfälschten. Man hatte aus diesem Grunde in den 1920er Jahren begonnen, einige Forschungsteams in entlegenere Gebiete auszusiedeln. Mit den neuen Räumlichkeiten wollte man nun wieder alle Mitarbeiter an einem Ort zusammenbringen. Räumliche Nähe zwischen den Mitarbeitern und ausreichend Platz waren aber nicht die alleinigen Beweggründe von Jewett. Ihm ging es auch darum, auf dem neuen Gelände von Anfang an die bestmöglichen Arbeitsbedingungen für seine Wissensarbeiter zu schaffen. Das, woran sich ein Forschungslabor misst, ist die Häufigkeit und Güte an Innovationen, und Jewett wollte alles daran setzen, eine Umgebung maximaler Kreativität und Innovationsfähigkeit zu erschaffen. Rekapitulieren wir noch einmal: Zu einer Zeit, als das Scientific Management die Arbeit für die meisten Menschen in den Industrienationen in ein enges, innovationshemmendes Korsett zwängte, war man dabei, eine einzigartige Forschungsstätte aufzubauen, in der Wissensarbeit optimal ablaufen konnte. Jewett und sein Kollege Oliver Buckley nahmen ihr Vorhaben nicht auf die leichte Schulter. Sie wollten mit dem Neubau die höchsten akademischen Standards setzen. Um sich einen Überblick über die Möglichkeiten zu verschaffen, reisten sie quer durch die USA und Europa, um die renommiertesten Forschungslabore und Hochschulen zu inspizieren. Die besondere Atmosphäre an den Universitäten mit ihren weitläufigen Grünanlagen machte den größten Eindruck auf das Duo. Sie sollte später als Vorbild für ihre eigene Forschungsstätte dienen. Allerdings mit einem entscheidenden Unterschied: Statt einen Campus mit separaten Fakultäten anzulegen, sollten alle Forschungseinrichtungen miteinander verbunden werden: „surroundings more suggestive of a university than a factory“…“no attempt has been made to achieve the character of a university campus with its separate buildings… On the contrary, all buildings have been connected so as to avoid fixed geographical delineation between departments and to encourage free interchange and close contact among them.“2

In den neuen Räumen würden Hunderte von Wissenschaftlern und technischen Mitarbeitern zusammenarbeiten. Niemand sollte sich in seinem Büro oder Labor verkapseln können. Man hatte in der West Street in Manhattan bereits verstanden, dass der Schlüssel zum Erfolg in der interprofessionellen Zusammenarbeit lag. Innovationen würden immer weniger von Einzelgängern, sondern von Teams mit unterschiedlichen Berufen und Fähigkeiten erwartet. Die Mitarbeiter sollten daher auch so oft wie möglich untereinander in Kontakt treten; offiziell und zufällig. So plante man beispielsweise die Anordnung der Büro-, Labor- und Aufenthaltsräume jeweils ans andere Ende eines langen Korridors. Technische Mitarbeiter würden so gezwungen sein, mehrmals täglich zwischen ihren Büro- und Laborplätzen hin und her zu wechseln. Zufällige Begegnungen wären dadurch unvermeidlich. So war es praktisch unmöglich, nicht ins Fachgespräch oder gemeinsames Grübeln über ein neues Problem zu geraten: „Walking down that impossibly long tiled corridor, a scientist on his way to lunch in the Murray Hill cafeteria was like a magnet rolling past iron filings.“3 Dieses Gestaltungsprinzip war im Grunde genommen das, was man später im Interieur Design unter nudging, oder serendipity encounters verstand.

Der erste Gebäudekomplex von Murray Hill wurde 1942 offiziell eingeweiht. Die Fassade bestand aus Kalkstein und Ziegel. Das kupferfarbene Dach nahm über die Jahre eine grüne Patina an und verschmolz so mit dem Grün der umgrenzenden, großzügig gestalteten Gartenanlage, in die die Mitarbeiter sich zum Entspannen zurückziehen konnten. Da sich die Laborsituation und Konstellation der Teams ständig änderte, verzichtete man im Inneren weitestgehend auf feste Wände. Stattdessen verwendete man schalldämpfende Trennwände, die man je nach Bedarf in einem Raster von zwei Metern umsetzen konnte. Vorinstallierte Rohre an der Decke versorgten jeden Raum nicht nur mit Strom und Wärme, sondern auch mit Druckluft, destilliertem Wasser; wenn nötig sogar mit Sauerstoff, Wasserstoff, Stickstoff und Vakuum. Über 900 Wissenschaftler und technische Mitarbeiter wurden in dem vierstöckigen Gebäude untergebracht.

Bereits kurz nach Inbetriebnahme der Einrichtung begannen Vertreter anderer Unternehmen, Universitäten und Forschungseinrichtungen den Bell Labs einen Besuch abzustatten. Man wollte sich einen Eindruck von der besonderen Architektur und der Zusammenarbeit der Wissenschaftler verschaffen. Die Bell Labs wurden zu einem Referenzmodell moderner Zusammenarbeit. Manche Unternehmen versuchten, eigene Industrielabore nach dem Vorbild der Bell Labs nachzuahmen.

Mervin Kelly, einer der bedeutendsten Mitarbeiter und Manager der Bell Labs wurde zu jener Zeit der neue Executive Vice President. Noch mehr als Jewett, war Kelly die interprofessionelle Zusammenarbeit seiner Mitarbeiter wichtig. Er suchte überall auf der Welt nach den fähigsten Physikern, Chemikern, Metallurgen und Ingenieuren und stellte unterschiedlich zusammengesetzte Teams zusammen. Darüber hinaus kombinierte er Mitarbeiter, die theoretisch, experimentell oder angewandt arbeiteten, um einen maximalen Wissenstransfer zu gewährleisten. Mindestens einmal die Woche trafen sich die Teams, um gemeinsam Ergebnisse, Ideen und Gedanken auszutauschen. Man stellte sich gegenseitig Experimente vor, die erfolgreich verliefen, oder missglückten, und beriet sich anschließend. In besonders wichtigen Projektphasen konnten die Treffen täglich stattfinden und von morgens bis tief in den Nachmittag gehen. Selbst in der Mittagspause führte man die Gespräche in der Cafeteria fort. Manchmal stieg man auch ins Auto und fuhr zu einem Hamburger-Restaurant namens Snuffy’s, um dort während der anhaltenden Debatte ein erfrischendes Bier zu genießen; etwas, was in den Augen der Mitarbeiter in der Cafeteria von Murray Hill noch zu ihrem perfekten Glück fehlte.4

In den Bell Labs herrschte eine besondere Unternehmenskultur. Einige Verhaltensweisen, die in anderen Unternehmen für eine Abmahnung oder sogar für einen Rauswurf gesorgt hätten, wurden großzügig übersehen, während andere Dinge unverzichtbar waren. Mit exzentrischem Verhalten der Mitarbeiter konnte man leben, auch mit dem weniger strikten Dresscode arrangierten sich die Manager. An heißen Tagen sah man den ein oder anderen Kollegen barfuß durch die Räume gehen. Viele Mitarbeiter tüftelten an Apparaten, Spielzeugen, irgendwelchen Gadgets, selbst wenn diese offensichtlich wenig mit dem Telefongeschäft zu tun hatten. Man duldete es, solange die Mitarbeiter auch ihren eigentlichen Projekten treu blieben und Ergebnisse lieferten.

Von anderen Dingen hielt man dagegen deutlich weniger: von verschlossenen Türen zu den Büros oder der Abweisung Hilfe suchender Kollegen. Wenn jemand nicht weiter wusste, oder den Rat eines anderen Fachmanns benötigte, konnte er damit rechnen, dass ihm ohne Widerwillen Unterstützung angeboten wurde. Jemanden abzuweisen, selbst wenn er in der Hierarchie unter einem stand, galt als Affront. Teamgeist stand über den Befindlichkeiten des Einzelnen. Die Rolle eines Vorgesetzten war die eines Mentors, anstatt eines Aufsehers, der über die Arbeit seiner Schützlinge wacht und einseitig entscheidet: „to use the lightest touch and absolutely never to compete with underlings.“5, war die gebotene Verhaltensregel. Teamarbeit, interprofessionelle Zusammenarbeit und Networking waren die Grundzutaten für die Kreativität und den Erfindungsgeist bei den Bell Labs. John Pierce, einer der renommiertesten Physiker der Bell Labs und Begründer der Informationstheorie, brachte es viele Jahre später, am Ende seiner Karriere, die er als Dozent am California Institute of Technology ausklingen ließ, einmal auf den Punkt: „I didn’t adapt well to Cal Tech“. Nach jahrelanger Prägung der Zusammenarbeit in den Bell Labs, fremdelte er mit dem beschaulichen Universitätsleben. „No one can tell a professor what to do, on the one hand. But in any deep sense nobody cares what he’s doing, either.“ Es war der fehlende Netzwerk-Gedanke, das ständige Austauschen mit seinen Kollegen, was er vermisste. „People cared about everything.“6, äußerste er, in Gedanken an seine Zeit in den Bell Labs.

Die Frage, welche Rolle Teamarbeit bei der Entstehung von Innovationen spielte, wurde bei den Bell Labs oft diskutiert. Beruhten bahnbrechende Innovationen auf individuellem Genie oder waren sie das Ergebnis enger Kooperation? Sollte man eher Einzel- oder Gruppenarbeit fördern? Viele Entdeckungen und Erfindungen wie etwa der erste Transistor oder die Informationstheorie basierten ohne Zweifel auf den zündenden Ideen einzelner Köpfe. Andererseits gab es andere große Entwicklungen, so z.B. das Telefonnetz, das Radar oder die ersten Satelliten, die ohne intensive Zusammenarbeit undenkbar gewesen wären. Was sich in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts als offensichtlich heraus kristallisierte, war eine starke Tendenz zur interprofessionellen Zusammenarbeit: „Things are much more complex than they were, when Mendel was breeding peas, in which case you would put them in a pot and collect the fruits, and then cover up the blossoms and have that suffice“7, erklärte William Shockley, ein weiterer Mitarbeiter der Bell Labs, der für seine Arbeiten am Transistor viele Jahre später mit dem Nobelpreis geehrt werden sollte. Wer zukünftig weiter innovativ bleiben wollte, musste auf Teamarbeit setzen und dafür die entsprechenden Voraussetzungen schaffen. Nicht ohne jedoch auch dem einzelnen Individuum ausreichend Freiheit und Entfaltungsmöglichkeit einzuräumen, denn oft kam von ihm die zündende Idee, die erst anschließend vom Team aufgegriffen und zur Reife gebracht wurde: „It is the mind of a single person, that creative ideas and concepts are born.“, resümierte der damalige Chef der Bell Labs.8

Mervin Kelly beschrieb seine Bell Labs oft als living organism. Eine kritische Masse von Wissensarbeitern wäre ein essentieller Bestandteil hoher Innovationsfähigkeit, aber erst der permanente Austausch aller Mitarbeiter vor Ort mache den Unterschied aus: „It’s the interaction between fundamental science and applied science, and the interface between many disciplines, that creates new ideas.“ Man befragte Kelly oft nach dem Erfolgsrezept seiner Bell Labs. Die zentrale Frage lautete: Was befähigt ein Forschungs- und Entwicklungsinstitut dazu, so unablässig viele Innovationen hervorzubringen? Kelly war davon überzeugt, dass es mehr als nur bloßer Zufall war oder einfach an günstigen Ausgangsbedingungen liegen sollte. Vielmehr ließen sich Innovationen überall systematisch hervorrufen, solange das Management für bestimmte Faktoren sorgte. Dann könnte jede Entwicklungsabteilung auf der Welt vergleichbar viel erreichen. Er fasste die Kriterien einmal im Rahmen eines Vortrages zusammen:9 Zuerst bedarf es (1) einer ausreichend großen Menge talentierter Mitarbeiter. Diese müssten sich (2) permanent weiterbilden. Ein Wissensarbeiter bräuchte ständig geistige Nahrung und Herausforderungen. Es dürfe ihm auch nicht an Arbeitsmitteln und Werkzeugen fehlen, um seine Ziele erreichen zu können. Ebenso wichtig wäre (3) die räumliche Nähe der Mitarbeiter und der freie Austausch von Gedanken und Erkenntnissen. Das Institut müsse (4) einen stetigen Zufluss finanzieller Mittel erhalten, um auch längere Phasen der Ergebnislosigkeit überstehen zu können. Natürlich braucht es auch (5) Märkte für die neu entwickelten Produkte. Entweder wären diese bereits vorhanden oder müssten durch die neue Innovation geschaffen werden. Dafür braucht es auch eine gewisse Weitsicht und ein gesundes Bauchgefühl. Jede größere Innovation (6) führt zu weiteren Innovationen, die schließlich ebenso verfolgt und angegangen werden müssten.

Fast über die gesamte erste Hälfte des 20. Jahrhunderts produzierten die Bell Labs eine Innovation nach der nächsten. Als Ende der 1970er Jahre dann aber das Monopol von AT&T zerbröckelte, hatten sich die Aussichten für die Bell Labs verschlechtert. Von Jahr zu Jahr verringerten sich ihre finanziellen Mittel. Notgedrungen konzentrierte man sich auf die angewandte Produktentwicklung, beschränkte die Forschungsbudgets und entließ einen Großteil der Belegschaft. Am Ende blieb nicht mehr viel vom einstigen Glanz übrig. Unterdessen hatten sich anderswo Innovationszentren und Netzwerke gebildet, die mit neuen Ideen und Produkten auf sich aufmerksam machten. Ihre Technologien würden die Welt schneller verändern als jemals zuvor. Einen Grundstein im organisatorischen Gemäuer hatten ohne Zweifel die Bell Labs gelegt. Und in technischer Hinsicht schuf die Erfindung des Transistors die Voraussetzung für die wichtigste Schlüsseltechnologie unserer Zeit.

Von alten und neuen Bürowelten

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