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[30]Modernisierung des Rechts

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Die These von einer bedenklichen Kluft zwischen den Postulaten des islamischen Gesetzes und der tatsächlichen Rechtspraxis in den meisten Staaten mit einer muslimischen Bevölkerungsmehrheit ist möglicherweise eher eine Frage der Wahrnehmung als eine Beschreibung der Wirklichkeit. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat der bedeutendste Jurist Ägyptens, ‘Abdul Razzaq Sanhuri, große Anstrengungen unternommen, das islamische Gesetz mit den westlichen Rechtssystemen in Einklang zu bringen, die unter den kolonialen und postkolonialen Regierungen in den muslimischen Staaten eingeführt worden waren. Wenn radikale Muslime fordern, die Scharia solle in ihrer Gesamtheit »wiedereingeführt« werden, erkennen sie nicht an, wie viel an Gemeinsamkeiten zwischen vormals konkurrierenden Rechtssystemen durch das Werk dieses Mannes, das in die einheimische Gesetzgebung zahlreicher muslimischer Staaten Eingang gefunden hat, zutage gefördert worden ist. In der Praxis zielen Forderungen nach »Wiederherstellung« der Scharia zumeist auf bestimmte Aspekte des Strafrechts ab, und zwar besonders auf die körperlichen Züchtigungen, wie sie im Koran und der frühen muslimischen Überlieferung für sexuelle Straftaten und bestimmte Formen des Diebstahls ausdrücklich aufgeführt werden. In manchen Teilen der Welt haben die Strafen für hudud – Überschreitungen der »Grenzen« oder »Schranken«, die von Gott im Koran gezogen worden sind, mit genau genannten Sanktionsmaßnahmen wie der Amputation bei Diebstahl oder der Auspeitschung für außereheliche geschlechtliche Beziehungen – gerade deshalb diese symbolische Bedeutung erlangt, weil man in ihnen ein Mittel sieht, um den Freizügigkeiten Einhalt zu gebieten, die angeblich auf das schlechte Vorbild des »dekadenten« Westens zurückzuführen sind. Weniger umstritten ist das traditionelle islamische Verbot von riba, worunter alle Formen von Geldverleih gegen Zins zu verstehen sind. [31]Hier hat der althergebrachte Bann zu einigen kreativen Experimenten islamischer Banken geführt, was die Verteilung des finanziellen Risikos und die Gewinnbeteiligung nach Billigkeitsgrundsätzen angeht. Die Banken versuchen dabei, die Risiken für Gläubiger und Schuldner gerechter zu verteilen, als das vom herkömmlichen Bankwesen geleistet wird. In diesem Fall stellt das islamische Anliegen, in Geschäftsbeziehungen nach dem Grundsatz der Billigkeit zu verfahren, eine Herausforderung an eine durch die Finanzkrise unlängst erschütterte nachchristliche Welt dar, in der die Gier der Konzerne oft auf Kosten der Bedürfnisse des Einzelnen oder der Familie zunimmt. Im Allgemeinen sind die Forderungen nach einer »Wiederherstellung« der Scharia jedoch als ein Teil dessen zu begreifen, was der aus Algerien stammende inzwischen verstorbene Gelehrte Mohammed Arkoun als die »soziale Vorstellungswelt«7 der Muslime bezeichnete: die »Sammlung von Bildern« in einer Kultur über sie selbst und über andere Kulturen, wobei diese Bilder dazu führen, Analyse und objektive Selbstreflexion auszuschalten und gleichzeitig wahnhaften Vorstellungen Nahrung zu geben, die auf ahistorischen Visionen einer romantisch verklärten Vergangenheit beruhen.

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