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[46]2 Der Koran und der Prophet
ОглавлениеBis zur Mitte des 20. Jahrhunderts wurden Muslime oft Mohammedaner, die Religion des Islam Mohammedanismus genannt. Dass dieser Sprachgebrauch mittlerweile aufgegeben worden ist, hängt zum Teil mit den politischen Veränderungen zusammen, die sich seit den Zeiten vollzogen haben, als die meisten Länder der islamischen Welt unter europäischer Kolonialherrschaft standen. Vor allem im südlichen Asien sahen die Europäer den Respekt, den Muslime ihrem Propheten erwiesen, als gleichbedeutend mit Gottesverehrung an. Die Muslime bezeichneten sich selbst für gewöhnlich nicht als Mohammedaner (außer um sich im Gespräch mit Europäern selbst zu beschreiben), weil die Verwendung eines solchen Begriffs die Vorstellung nahelegen würde, dass sie Muhammad ebenso verehrten, wie die Christen Christus anbeteten. Orthodoxe Muslime mussten eine derartige Implikation als im höchsten Maße anstößig empfinden. Muslime beten Gott an, nicht Muhammad. Der Gesandte war ein Prophet und nicht ein Gott oder eine in Menschengestalt auf die Erde herabgestiegene Gottheit. Anderslautende Andeutungen würden eine Bresche in die Trennmauer zwischen Gott und der Menschheit schlagen und die Grenze zwischen dem Schöpfer und seiner Schöpfung verletzen. In theologischer Hinsicht ist die Verteidigung dieser Grenze der zentrale Glaubensartikel des Islam. »Es gibt keine Gottheit außer Gott. Muhammad ist der Gesandte Gottes.«
Das soll nicht bedeuten, dass Muhammad als in irgendeinem Sinne gewöhnlich angesehen würde oder dass ihm bei der Herausbildung des Islam eine weniger ausschlaggebende Rolle zukäme als Christus bei der Entstehung des Christentums. Eher ist das Gegenteil richtig. Weil der islamische Kanon so umfangreich ist, gibt es viel mehr Taten, Sprüche und Gedanken, die Muhammad zugeschrieben werden, als das für Jesus der Fall ist. Der Unterschied liegt nicht in seiner historischen Bedeutung oder [47]der Faszination begründet, die er auf das Denken seiner Anhänger ausübte, sondern vielmehr in dem anderen Status, der seinen Äußerungen zuerkannt wurde. Muslime aller Glaubensrichtungen trennen zwischen den Aussprüchen, die Muhammad in seiner Funktion als Prophet oder Verkünder der göttlichen Offenbarung zugeschrieben werden – diese Äußerungen sind im Koran (Quran; in seiner ursprünglichen Bedeutung ›der Diskurs‹ oder ›die Rezitation‹) gesammelt –, und jenen mit niedrigerem Status, die von seinen Zeitgenossen in einem Korpus nachgeordneter Schriften, den sogenannten Hadithen (›Überlieferungen‹), niedergelegt sind. Obwohl es eine gewisse Kontroverse um die beiden Textkategorien gibt, sind sich im Allgemeinen muslimische wie nichtmuslimische Kommentatoren einig, was den beschriebenen Unterschied im Status betrifft.