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Der Islam als Glaube
ОглавлениеDie klassischen Autoritäten unterscheiden zwischen dem islam, wie ihn der Muslim bekennt, einerseits und iman oder Glaube des Mu’min (Gläubigen) andererseits. In den Kriegen der Anfangszeit, in denen die arabische Halbinsel geeint wurde (s. Kap. 2), war die Selbsthingabe oder Unterwerfung unter Gott eine Folge äußerer Einwirkung durch den Propheten und seine Gefolgsleute. Der amerikanische Historiker Fred Donner6 weist daraufhin, dass sich viele Botschaften des Koran eher an »Gläubige« als an Muslime richten: Das Wort »Gläubige« kommt darin [25]etwa 1000-mal vor im Gegensatz zu weniger als 75 Verwendungen der Bezeichnung »Muslime«. Die Begriffe sind jedoch nicht austauschbar: islam und muslim beziehen sich auf Hingabe oder Unterwerfung wie im Falle der Beduinenstämme, die sich Muhammad in Arabien ergaben. »Der Begriff Glaube hat offensichtlich eine andere (und positivere) Bedeutung als Hingabe (islam), deshalb können wir den Gläubigen nicht einfach mit dem Muslim gleichsetzen, auch wenn einige Muslime durchaus als Gläubige zu bezeichnen sind.«
Der Koran enthält eine Anspielung auf einen Vorfall um eine Gruppe arabischer Beduinen, die behaupten, Gläubige geworden zu sein, worauf Gott ihnen durch den Propheten mitteilt: »Ihr glaubet [noch] nicht; sprechet vielmehr: ›Wir haben uns [dem äußeren Anschein nach] ergeben‹; denn der [wahre] Glauben ist noch nicht eingekehrt in eure Herzen« (Sure 49,14). Der Glaube war demnach eine Folge der Hingabe an den muslimischen Propheten, die innere Überzeugung dagegen beruhte auf der Ausstrahlung seines göttlichen Charismas. Im Laufe der Zeit wurde der vom Gläubigen zu fordernde Grad an innerer Überzeugung zum strittigen Thema theologischer Debatten. Die puritanischen Kharijiten (›Abtrünnige‹) zogen die Grenzen sehr eng und verweigerten Gläubigen mit schweren Sünden das Recht, sich Muslime zu nennen. Dieselbe puritanische Tendenz ist unter heutigen militanten Gruppen wieder aufgelebt, die nachlässige oder nominelle Muslime von ihrer Definition der umma als weltweiter Gemeinschaft der Gläubigen ausschließen. Die Kharijiten folgen der als Isti‘rad bezeichneten Lehre, die ihnen erlaubte, auch die Frauen und Kinder der von ihnen als Ungläubige Betrachteten zu töten. Sie können daher als die ursprünglichen Terroristen gelten. Die als die Murji‘a bekannten Gegner der Kharijiten gestanden es demgegenüber fast jedem zu, sich als Muslim zu betrachten, solange er oder sie die shahada verkündeten, das öffentliche Glaubensbekenntnis, das in die Formel gefasst ist: »Ich bezeuge, dass es keine Gottheit außer Gott gibt und [26]dass Muhammad der Gesandte Gottes ist.« Die meisten klassischen Autoritäten teilten diese weiter gefasste Definition. Abu Hanifa, dessen Name einer der vier Rechtsschulen des sunnitischen Islam gegeben wurde, stellte fest: »Alle, die sich zum Gebet in die Richtung von Mekka wenden, sind wahre Gläubige, und nichts, was sie tun, kann sie vom Glauben entfernen.« Mit der Zeit gelangte die Mehrheit der Muslime zu der Ansicht, dass iman und islam die inneren und äußeren Aspekte religiöser Bindung darstellten, also den Glauben und die Werke. Die exoterischen oder »nach außen gerichteten« Manifestationen des Glaubens – Befolgung der rituellen Vorschriften und Einhalten der Gesetzesvorschriften der Scharia – verliehen dem Muslim seine Bestimmung im Angesicht der äußeren Welt, aber was wahre Frömmigkeit betraf, bildete sich bei vielen die Überzeugung heraus, dass diese nur in den esoterischen Dimensionen des Glaubens zu finden sei, die nur einer geistlichen Elite vertraut waren. Da es keine »Kirche« im Sinne einer formal konstituierten Hierarchie gab, wurden die Mitglieder dieser Elite durch ihre Kenntnisse der religiösen Disziplinen und ihre Beherrschung geistlicher oder asketischer Praktiken bekannt, die der Mehrheit normalerweise verschlossen blieben. Innerhalb der schiitischen Minderheit war die geistliche Elite durch ihre verwandtschaftliche Nähe zum Propheten Muhammad und seiner Familie gekennzeichnet. Esoterik einschließlich des Forschens nach verborgenen Bedeutungen in den Schriften und geheimen oder unkonventionellen religiösen Praktiken wurde zum Erkennungszeichen von Bewegungen, die mit ihrer politischen Linie oder ihren religiösen Gepflogenheiten von der Mehrheit abwichen. Die breite Toleranz, mit der sich der Islam exoterisch definierte, indem er auf islam und nicht auf iman Bezug nahm, ließ eine Vielzahl der verschiedensten spirituellen Gewächse blühen und gedeihen, ohne dass es darüber zu inneren Erschütterungen gekommen wäre. Zwar schmückten politisch Machthungrige sich genauso eifrig mit religiösen Symbolen, wie das im [27]Westen vor der Moderne der Fall war, und die Verfasser von Streitschriften bezichtigten einander routinemäßig der Häresie. Aber wie sehr die Geschichte des Islam auch von Gewalt geprägt sein mag, ist sie doch in bemerkenswertem Maße frei von der religiösen Intoleranz, die in den mittelalterlichen Ketzerverfolgungen und der spanischen Inquisition zum Ausdruck gekommen ist. In modernen Zeiten hat das Gefühl einer inneren Verpflichtung den Gläubigen in einer persönlichen Beziehung mit Gott verbunden, die über die äußerlichen Ge- und Verbote des Ritus und des Religionsgesetzes hinausweist. Allen gegenteiligen Eindrücken zum Trotz hat dies in hohem Maße zu einer Privatisierung und Säkularisierung des Glaubens beigetragen.
Keine Religion könnte nicht nur überleben, sondern blühen und gedeihen, wie das der Islam bis in unsere Zeiten getan hat, wenn sie nur durch die äußerlichen oder allgemein verständlichen Formen der strikten Einhaltung ihrer Regeln zusammengehalten würde. Der Islam enthält im gleichen Maße wie andere moderne und erfolgreiche Religionen ein reiches Repertoire der verschiedensten Konzepte, Symbole und geistlichen Disziplinen, mit deren Hilfe Gläubige ihre Identität behaupten und sich das Gefühl bewahren können, in der Welt zu sein und zugleich Kontakt zu Gott zu halten. Wenn viele Muslime sich heute einer Adaptionskrise an die Wirklichkeit der modernen Welt gegenübersehen, so liegt das nicht an einem dem Islam notwendig innewohnenden Mangel an Flexibilität auf dem Gebiet der Ideen. Im Laufe seiner Geschichte hat der Islam eine enorme Anpassungsfähigkeit bewiesen, als es darum ging, verschiedene kulturelle Systeme seinem Rahmen einzupassen: die abrahamische Religionsfamilie des westasiatischen Monotheismus, zu der neben dem Islam das Judentum sowie das Christentum gehören.
Die Krise des modernen Islam – und kaum jemand würde bestreiten wollen, dass es diese Krise gibt – ist nicht so sehr eine »geistige Krise« als vielmehr eine Krise der Autorität, und zwar [28]in politischer, intellektueller, rechtlicher wie auch geistiger Hinsicht. Das »beste Gemeinwesen«, von Gott zu dem Zwecke geweiht, »einzufordern, was richtig, und zu verbieten, was falsch ist« (ein Gemeinwesen, das seit Jahrhunderten ohne Einmischung von außen erfolgreich die eigenen Angelegenheiten regelt), verlangt nach Führerschaft. Außerhalb der Tradition der schiitischen Minderheit ist jedoch von einer Führung mit breitem Rückhalt unter den Gläubigen auffallend wenig zu sehen.