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[38]Ein religiöses Erwachen?

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Mögen auch die Fachleute noch so uneins sein, was die langfristigen politischen Implikationen des Wiederauflebens islamischer Strenggläubigkeit betrifft, so kann doch deren wachsende Bedeutung für das tägliche Leben nicht bezweifelt werden: Die Moscheen sind besser besucht, und die Fastengebote während des Ramadan werden von immer mehr Menschen befolgt. Hinzukommt eine Zunahme religiöser Publikationen in den Print- wie den audiovisuellen Medien und eine verstärkte Betonung »islamischer Kleidung«, vor allem für Frauen, in vielen Teilen der Welt. Zwei der am häufigsten angeführten Erklärungsfaktoren für dieses Phänomen sind zum einen der beispiellose Grad an Urbanisierung und zum anderen das Versagen des postkolonialen Staates, der die eigenen Versprechungen nicht eingehalten hat. Landflucht und Zuzug in die Städte bedeutet sowohl den Verlust des Lebens in der dörflichen Gemeinschaft, in der das Netzwerk der Großfamilie tradierte soziale Werte bewahrte und stärkte, als auch die Konfrontation mit dem modernen städtischen Leben und seinen verwestlichten Sitten. Auf politischer Ebene lässt der Zusammenbruch des Kommunismus und das Scheitern des Marxismus, der das Stigma des »Atheismus« nie loswerden konnte, viele im Islam eine attraktive ideologische Waffe im Kampf gegen postkoloniale Regime sehen, die sie als korrupt, autoritär und manchmal tyrannisch empfinden. In Ländern ohne funktionierende demokratische Institutionen kann die Moschee und das sie umgebende Netzwerk diverser Aktivitäten eine gewisse Immunität genießen. Sollten die Regierungen es dennoch wagen, die Moscheen solcher »Rebellen« zu schließen, bestärken sie nur ihre Gegner darin, sie als Ungläubige zu brandmarken.

Die explosionsartige Ausbreitung der Informationstechnologie und besonders die Revolution in der audiovisuellen Kommunikation untergräbt die Autorität der älteren gebildeten Eliten, die zur Befürwortung weltlicher Werte und Lebensstile [39]tendierten, und setzt gleichzeitig mehr und mehr Menschen den Bildern der westlichen Unterhaltungs- und Werbeindustrien aus – Bildern, die Grenzen verletzen und nicht selten obszön sind. In vielen Ländern hat ein exponentieller Wachstumssprung in der Urbanisierungsrate das kulturelle und demographische Gleichgewicht zwischen städtischer und ländlicher Bevölkerung nachhaltig verändert und in den Städten ein riesiges neues Proletariat aus Landflüchtigen entstehen lassen, das – kaum urbanisiert – dann empfänglich für die Botschaften populistischer Prediger und Demagogen ist. In Ländern wie Ägypten ist es den islamistischen politischen Bewegungen mit ihren Wohlfahrtsorganisationen gelungen, die Lücken zu füllen, die sich durch das Versagen der Regierung bei der Bewältigung von Armut und Wohnungsnot sowie anderen durch übereilte Urbanisierung entstandenen sozialen Problemen aufgetan haben. In jüngerer Zeit sind diese demographischen Entwicklungen durch eine neue Generation von Städtern überlagert, die mit den sozialen Medien geschickt umzugehen weiß. Das führt zur Entstehung von etwas, das manchmal als »Facebook-Revolution« des Nahen Ostens bezeichnet wird. Das Verhältnis zwischen zwei gesellschaftlichen Kräften – der ländlichen oder erst seit kurzem urbanisierten Bevölkerung, die meist an den traditionellen Normen des Islam festhält, auf der einen Seite und der Generation der Absolventen höherer Schulen und Universitäten, die sich mehr an säkularen Werten orientieren, auf der anderen Seite – scheint sich derzeit zugunsten der letzteren zu verschieben. Unlängst wies eine Studie auf den markanten Schwund an Religiosität in der arabischen Welt hin. Der Anteil von Menschen, die von sich behaupten, nicht religiös zu sein, stieg von 11 Prozent in den Jahren 2012–14 auf 18 Prozent im Jahr 2019. Diese Entwicklung ist vermutlich das genaue Gegenteil zur wachsenden Religiosität vieler Muslime in der westlichen Diaspora, wo Überzeugungen, die mit dem Salafismus in Verbindung stehen (wie etwa die Verschleierung und das Tragen von Bärten), als [40]Identitätsmerkmale innerhalb der zweiten und dritten Generation muslimischer Einwanderer ständig an Bedeutung zunehmen. Es sind aber auch anti-islamistische Tendenzen erkennbar, und zwar vor allem dort, wo die islamistischen Strömungen mit der Ausübung von Gewalt und Macht einhergingen. Der bereits genannten Studie zufolge ist das Vertrauen in die islamistischen Bewegungen wie etwa die Hamas, Hisbollah und Muslimbruderschaft noch geringer geworden als das in die religiösen Oberhäupter. In Tunesien etwa ist das Zutrauen zur Bruderschaft und ihre Anhänger seit 2011 um 24 Prozent gesunken, in Jordanien um 21 Prozent seit 2012 und in Marokko um 20 Prozent seit 2013. Wenn die Verteilungsmuster hinsichtlich der Religiosität im Nahen Osten und in Nordafrika sich in den westlichen Diasporas so fortsetzen, wie es in der Vergangenheit geschehen ist, wird sich diese Entwicklung voraussichtlich in Europa wiederholen.

Zum Zeitpunkt der Abfassung des vorliegenden Buches lässt sich noch nicht beurteilen, ob das Verhältnis zwischen den beiden gesellschaftlichen Kräften – der ländlichen und erst kürzlich urbanisierten Bevölkerung, und der Generation von Universitätsabsolventen – ausgewogen bleibt. Da sich bislang keine in den Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft verankerte Opposition formiert hat, besteht wohl weiterhin die Gefahr, dass sich die Macht auf die Armee oder die islamistischen Bewegungen mit ihren Netzwerken von Aktivisten und organisatorischen Fähigkeiten konzentriert.

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