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Der Islam als politische Ideologie
ОглавлениеDas Wort »fundamentalistisch« wird manchmal dazu verwendet, jene Muslime zu bezeichnen, die mit allen Mitteln einen islamischen Staat errichten oder wiederherstellen wollen. Ihrer Ansicht nach ist es die Aufgabe des islamischen Staates, die Befolgung des geoffenbarten Gesetzes des Islam, der Scharia, zu erzwingen. Wegen des christlichen Ursprungs ist die Verwendung des Begriffes »fundamentalistisch« nicht unproblematisch: Ursprünglich war der Fundamentalismus eine Bewegung, die gegen die liberale oder modernistische Theologie zielte, wie sie in den protestantischen Priesterseminaren Amerikas gelehrt wurde. Im Mittelpunkt der Angriffe standen dabei besonders solche Lehrmeinungen, die ein wörtliches Verständnis bestimmter übernatürlicher Ereignisse in Frage stellten, sei es die Erschaffung der Welt in sechs Tagen, die jungfräuliche Geburt oder die körperliche Wiederauferstehung und bevorstehende Wiederkunft Christi. Muslimische Autoren und Ideologen, die als »fundamentalistisch« gelten, haben sich dagegen allesamt die eine oder andere modernistische oder allegorische Auslegung des Koran zu eigen gemacht, während praktisch alle gläubigen Muslime – nicht nur die als Fundamentalisten bezeichneten – im Koran das ewige und unmittelbar empfangene Wort Gottes sehen. Für die Muslime, die den Islam gegen die vermeintlich korrumpierenden Einflüsse des modernen Säkularismus und »des Westens« verteidigen [21]wollen, steht das Handeln im Mittelpunkt, nicht der Glaube. Dieser Grundsatz entspricht im Allgemeinen altüberlieferten historischen Mustern, auch wenn die Verfahren, ihm zur Durchsetzung zu verhelfen, neu sein mögen (und sogar terroristische Methoden beinhalten können). In der Geschichte des Glaubens hat sich die Definition dessen, was islamische Rechtschaffenheit sei, immer eher an der Glaubenspraxis und weniger an Doktrin und Dogma orientiert. Muslime, die von der Mehrheit in Fragen der Führerschaft und der Theologie abwichen, wurden für gewöhnlich toleriert, sofern ihr soziales Verhalten im Einklang mit allgemein anerkannten Maßstäben stand. Wenn muslimische Radikale oder Aktivisten sich die »Wiedereinführung« des islamischen Gesetzes mit Hilfe staatlicher Macht zum Ziel setzen, geht es eher um die Durchsetzung konformen Verhaltens (Orthopraxis) als um Übereinstimmung in Fragen der Glaubenslehre (Orthodoxie).
Ehe die weitverbreiteten Demonstrationen des Arabischen Frühlings 2011 große Teile des Nahen Ostens in politischen Aufruhr versetzten, wurden unterschiedliche Mittel eingesetzt, um dieses Ziel zu erreichen – je nach Ausprägung der politischen Institutionen des jeweiligen Landes. In manchen Ländern, zum Beispiel in Jordanien, saßen muslimische Radikale als Volksvertreter im Parlament. In Ägypten konnten sie trotz des Verbots der Muslimbruderschaft als Unabhängige oder Mitglieder anderer verbündeter Parteien fungieren. Im Anschluss an den Zusammenbruch der Mubarak-Regierung 2012 eröffnete dort die Wahl von Mohammed Mursi, einem Mitglied der Muslimbruderschaft, die Aussicht auf einen verfassungsgestützten Weg zu einer gewählten Regierung unter der Führung der Bruderschaft. Doch Mursis eigenes politisches Unvermögen und das Ausbleiben einer Unterstützung durch Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate bewirkten, dass Mursi nach nicht einmal einjähriger Amtszeit durch den Verteidigungsminister General Abd al-Fatah al-Sisi gestürzt wurde. Dieser folgte Mursi im Amt des Präsidenten. Die nachfolgenden Repressionen, wie [22]zum Beispiel das Massaker an ungefähr tausend Demonstranten auf dem Rabaa-al-Adawiya-Platz in Kairo im August 2013, waren ungemein schärfer als die während des Mubarak-Regimes. Indem Ägypten modellhaft ein ähnlich hartes Durchgreifen des Militärs nach öffentlichen Demonstrationen, Aufständen und Auseinandersetzungen einführte, war die Aussicht auf einen geordneten Weg zu einer islamischen Regierungsform nicht nur umstritten, sondern auch schwer realisierbar. Selbst wenn, wie in Jordanien und Tunesien, eine quasi-demokratische Option zum Zuge kommen mag, wird die Demokratie nach westlichem Vorbild weiterhin von radikalen Islamisten abgelehnt oder einem System untergeordnet, das ausschließlich dem Islam verpflichtete Kandidaten zur Wahl als Repräsentanten zulässt. Die meisten Muslime militanter Ausrichtung stellen die Grundlagen der internationalen Ordnung in Frage: In den Worten ihres einflussreichsten Mentors, Sayyid Abul ‘Ala Maududi (1903–79) ist es ihr Ziel, die Souveränität des Volkes, wie sie sich in der parlamentarischen Gesetzgebung manifestiert, durch die »Souveränität Gottes« zu ersetzen, die in vollkommener und endgültiger Form im Gesetz der Scharia geoffenbart worden ist.
Kritiker dieses Ansatzes – und davon gibt es nicht wenige – konzentrieren sich auf zwei seiner Hauptargumente. Sie weisen darauf hin, dass es geschichtlich betrachtet niemals eine islamische Gesellschaft gegeben hat, die ausschließlich nach dem islamischen Religionsgesetz regiert wurde, noch nicht einmal während der Blütezeit der islamischen Zivilisation. Zwischen den De-jure-Formulierungen der Rechtsgelehrten und der politischen Macht, wie sie de facto ausgeübt wurde, hat immer eine Lücke geklafft. Überdies wurde angesichts der enormen kulturellen Unterschiede und geographischen Entfernungen zwischen muslimischen Gesellschaften das islamische Gesetz überall zwangsläufig durch örtliches Gewohnheitsrecht ergänzt. Rechtshistorisch betrachtet, ist die Scharia niemals in übergeordneter Weise Wirklichkeit geworden.
[23]Der zweite und schwerwiegendere Vorwurf der Kritiker an die Adresse jener, die auf einer Politisierung des Islam bestehen, lautet auf Verfälschung der Tatsachen. Die Ideologie oder Ideologien, die von den Islamisten propagiert werden, seien weit davon entfernt, ihrem Gehalt nach ausschließlich »islamisch« zu sein; vielmehr handele es sich dabei in Wahrheit um hybride Formen, die islamische Ansätze und Denkzusammenhänge mit sowohl liberalen als auch totalitären Ideen des 20. Jahrhunderts vermischten. Die Begründer des modernen politischen Islam – Maududi, Sayyid Qutb (1906–66) sowie der Ayatollah Khomeini (1902–89) – waren von eben jenen politischen und intellektuellen Kulturen des Westens zutiefst geprägt, die sie laut eigenen Erklärungen ganz entschieden bekämpften. So ist Maududis Kritik am Materialismus und an der moralischen Dekadenz des Westens nachhaltig von den faschistischen Angriffen auf die Demokratie und der Bewunderung für die Diktatoren der dreißiger Jahre geformt worden. Qutbs Fanal zum Kampf gegen die Barbarei (jahiliya) kann sich keineswegs auf einen »althergebrachten« Islam stützen, sondern ist durch und durch modern, tritt es doch für eine handlungsorientierte, quasi »existentialistische« Selbstverpflichtung ein. Was seine Behauptung betrifft, Demokratie und soziale Gerechtigkeit hätten ihren Ursprung im Islam, so wird sie von verschiedener Seite für irreführend gehalten, da sie auf einem ahistorischen Verständnis der heiligen Schriften des Islam beruhe. (Sogar der virulente Antisemitismus, den er im Gefolge des arabisch-israelischen Konflikts vertrat, ist zum Teil ein von europäischem Gedankengut beeinflusster Import.) Entsprechend handelt es sich bei der »islamischen« Verfassung, die Khomeini 1979 im Iran eingeführt hat, um eine Mischung aus westlichen und islamischen Elementen und nicht um eine im eigentlichen Sinne »islamische« Verfassung, die eine ungehinderte Durchsetzung der staatlichen Privilegien auf der Basis des aus Europa importierten (und ungeprüften) jakobinischen Modells beinhaltet. Wie Khomeini deutlich [24]machte, war der islamische Staat als Nachfolger des Propheten Muhammad dem islamischen Recht keineswegs unterworfen, sondern hatte vielmehr die Macht, sich sogar in so fundamentalen Punkten wie Gebet, Fasten und Pilgerfahrt über die Scharia hinwegzusetzen.
Angesichts der zahlreichen muslimischen wie auch nichtmuslimischen Kritiker eines politischen Islam sollte zwischen dem Islam als Religion und der politischen Ideologie dieses Namens unterschieden werden. Letztere als »Fundamentalismus« zu bezeichnen, ist nicht bloß irreführend, sondern arbeitet unnötigerweise den Vertretern eines politischen Islam zu, weil eine solche Bezeichnung impliziert, dass die Verteidigung der »fundamentalen Werte« des Islam immer und überall politisches Handeln erfordere. Muslime, die diese Sicht nicht teilen, vertreten dagegen die Meinung, dass eine Regierung so lange nicht als un- oder gar anti-islamisch bezeichnet werden könne, wie sie die Gläubigen nicht daran hindere, ihren religiösen Pflichten nachzukommen.