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Erfolge und Misserfolge des islamischen Staates

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Die soziale Vorstellungswelt oder besser das soziale Gedächtnis bildet das Herz der kollektiven Bestrebungen, die sich auf ein Goldenes Zeitalter zurückbeziehen, als dar al-islam (die islamische Einflusssphäre, in der islamischen Rechtsüberlieferung unterschieden von dar al-harb, der Zone des Krieges) noch [32]expandierte und die muslimischen Gemeinwesen auf allen Gebieten einer Zivilisation, in den Künsten wie in den Wissenschaften, Hervorragendes leisteten. Es steht völlig außer Zweifel, dass auf der Ebene der zivilisatorischen Errungenschaften im dar al-islam mehrere Jahrhunderte vor der europäischen Renaissance ein bis dahin ungekanntes Niveau an Wissen, ein hoher Entwicklungsstand und herausragende Leistungen erreicht worden sind. Auch wurden, wie viele Gelehrte festgestellt haben, die Fundamente für große Teile des naturwissenschaftlichen und philosophischen Gedankengebäudes, das dann im Westen vollendet werden sollte, in muslimischen Ländern gelegt. Eine kurze Einführung wie die vorliegende vermag nicht annähernd die Leistungen der Muslime auf den Gebieten, auf denen sie sich ausgezeichnet haben, zu würdigen – in der Architektur und im Design, in der Schmiedekunst und der Keramik, in der Dichtung und Philosophie ebenso wie in den »schwierigeren« Naturwissenschaften einschließlich der Mathematik, Optik, Astronomie und Medizin. Auch wenn genug Raum zur Erörterung dieses Themas vorhanden wäre, bliebe allerdings die heikle Frage, inwieweit derartige kulturelle Errungenschaften in dem Sinne als »islamisch« betrachtet werden können, als sie direkt oder indirekt dem Islam als Religion zugeschrieben werden dürfen, und in welchem Umfang sie auf den Leistungen vorhergehender (vor allem griechischer und persischer) Zivilisationen aufbauten und sie fortsetzten. Der amerikanische Historiker Marshall Hodgson hat zwischen dem »Islamischen« (das die Religion an sich betrifft) und dem »Islamisierten« (also allem, was sich auf den weiten gesellschaftlichen und kulturellen Rahmen bezieht, von dem die Religion ein Teil ist und über den sie, so könnte man sagen, Aufsicht führt) differenziert.8 Die Unterscheidung ist nützlich, [33]obwohl sie sich nicht allgemein durchgesetzt hat und wahrscheinlich genauso viele Fragen aufwirft, wie sie beantwortet.

Wesentlich wichtiger für das zentrale Thema dieses Buchs ist das Problem von Macht und Autorität. Wie die Christenheit, die historische Rivalin, strebt auch die islamische Welt nach Universalität. Es bedarf kaum einer Erklärung, dass dar al-islam es nicht fertiggebracht hat, sich die anfängliche Stoßkraft zu bewahren und sich den ganzen Erdkreis einzuverleiben, besonders wenn die Beschränkungen durch die vorneuzeitliche Technologie in Rechnung gestellt werden. Für eine Zeit, in der ein Mensch pro Tag selbst unter den günstigsten Bedingungen höchstens fünfzig bis fünfundsechzig Kilometer zurücklegen konnte, ist es mehr als erstaunlich, wie ungeheuer groß die Gebiete waren, die von den Arabern in der ersten Invasionswelle unterworfen wurden. Allerdings war gerade die Geschwindigkeit und Reichweite jener ersten Expansion die Ursache für politische Probleme, die auch nach dreizehn Jahrhunderten immer noch auf eine Lösung warten. Anfänglich wurde die Ausbreitung des Islam auf den Schwingen des Tribalismus getragen. Unterwerfung unter »Gott und seinen Propheten« bedeutete zuerst einmal, sich einer siegreichen Beduinenarmee zu ergeben. Von Anfang an stand die Botschaft der sozialen Gerechtigkeit und Gleichheit aller Menschen (also auch der Frauen, was wesentlich problematischer war) vor Gott, wie sie von Muhammad in seinen Predigten verbreitet und im Koran festgeschrieben wurde, gegen die ganz reale Macht des Stammes und der Dynastie. Als dann innerhalb von einer Generation nach dem Tode des Propheten 632 die Bürgerkriege ausbrachen, als es zur Spaltung in Sunniten und Schiiten kam, als das arabische Reich zerfiel und eine politisch fragmentarisierte islamische Welt hinterließ, legten diese historischen Ereignisse Zeugnis für ein unvollendetes Projekt ab: die Errichtung einer Herrschaft Gottes auf Erden.

Da es weder eine Kirche noch eine Priesterschaft gab, lag die Vollendung des Projekts in den unberechenbaren Händen von [34]Laien, die sich für die Sache begeisterten. Die Führung wurde dabei von zwei Elementen übernommen, die nicht selten im Widerstreit standen. Auf der einen Seite ging sie auf die Stammesführer über, für die der Islam – manchmal auch in den heterodoxesten messianischen Formen – der Zement war, der die Stämme geschlossen zusammenhielt und die ideologische Stoßrichtung lieferte, um Energien, die sich zuvor in internen Kämpfen verbraucht hatten, nach außen auf die Eroberung umzulenken. Auf der anderen Seite wurden die ‘ulama zu Führern: jene Laien, die das Gesetz auslegten und respektierte Hüter der Überlieferung waren, die aber über keinerlei exekutive Macht verfügten und sich für die Durchsetzung von Gottes Geboten auf Außenseiter (nicht selten Sklaven aus fernen Ländern) verlassen mussten. Ein wackliger Kompromiss zwischen diesen beiden Handlungsträgern, den militärischen Herrschern und den ‘ulama, führte zu einem mehr schlecht als recht austarierten konstitutionellen Gleichgewicht an der Spitze dessen, was als die vielleicht erste »internationale Zivilisation« in der Geschichte bezeichnet worden ist. Wie Marshall Hodgson ebenso leidenschaftlich wie überzeugend dargelegt hat, trug das »Unternehmen Islam«9 viel dazu bei, die Bedürfnisse der Menschen in den urban geprägten Gebieten zwischen den Strömen Nil und Oxus (heute: Amudarja) zu befriedigen. Es begünstigte die Herausbildung eines gemeinsamen Handelsraumes, in dem Geschäfte auf der Grundlage gemeinsamer Werte wie Gerechtigkeit und angemessenem Umgang mit Gott abgewickelt werden konnten.

Dieser historischen Leistung – die ohne allzu große Verzerrung im sozialen Gedächtnis der Muslime als ein Goldenes Zeitalter wiederauftaucht – stand als Gegengewicht ein auffälliges Versagen auf der machtpolitischen Ebene gegenüber. Nach einer ersten Phase der Expansion implodierte das arabische Reich. Die zentrale Institution des Islam, das Kalifat, war zuerst [35]Gegenstand heftiger Kämpfe rivalisierender Gruppen, verlor aber nach und nach in dem Maße an Legitimität, wie der Kalif, der »Schatten Gottes auf Erden«, zum Gefangenen der Palastgarde wurde, die sich aus Soldaten der Stämme rekrutierte. Das soziale Gedächtnis konzentriert sich bei den Kalifen auf einige überlebensgroße Gestalten, auf die Vier Rechtgeleiteten Kalifen – Abu Bakr (Regierungszeit 632–634), ‘Omar (634–644), ‘Othman (644–656) und ‘Ali (656–661) – sowie den großen Harun al-Rashid (786–809), den idealen Monarchen, der durch die Geschichten aus Tausendundeiner Nacht unsterblich geworden ist und zu einer Zeit herrschte, da das arabische Reich auf dem Höhepunkt seiner Macht stand. Noch immer sind sich die Gelehrten uneins, ob das frühe Kalifat ein religiöses oder politisches Amt war oder eine Kombination aus beidem, und falls ja, mit welchen Anteilen. Der Begriff ist genauso zweideutig wie das Amt, das er bezeichnet. Im Koran wird er für Adam verwendet, den ersten Menschen und Gottes stellvertretenden Herrscher auf Erden, und auch für David, der Prophet und König zugleich ist. Das Amt als solches ist nach dem Tod des Propheten spontan entstanden, nachdem dieser weder einen eindeutigen Nachfolger bestimmt noch Regeln für die Nachfolge hinterlassen hatte. Den ersten vier Kalifen wurde das Amt gemäß dem Stammesbrauch durch Akklamation übertragen. Einige Juristen vertraten die Ansicht, dass nach jenen vier das wahre Kalifat erloschen und die folgenden Kalifen lediglich Monarchen oder Könige gewesen seien. Im orthodoxen Schrifttum bedeutet der Titel Kalif im Allgemeinen so viel wie Stellvertreter oder Nachfolger des Propheten Muhammad (so in der Formel khalifat rasul Allah – »Stellvertreter des Gesandten Gottes«). Die ersten Omayyaden-Kalifen und einige der ‘Abbasiden, die sie ablösten, verwendeten den Titel khalifat Allah – »Stellvertreter« oder »Vizeregent Gottes« (wie übrigens auch einige spätere muslimische Alleinherrscher, so zum Beispiel der Sultan von Jogjakarta auf Java). Klar scheint dabei zu sein, [36]dass bis zur Mitte des neunten Jahrhunderts der Kalif zusätzlich zu seinen politischen auch geistliche Funktionen erfüllte, indem er die Durchsetzung religiöser Konformität erzwang. Nach einer populistischen Reaktion gegen Bemühungen seitens des Kalifen al-Mamun, Regierungsbeamte durch mihna (die »Inquisition«) zur Anerkennung und Befolgung von Lehrsätzen zu zwingen, die zum Teil als rationalistisch beschrieben werden, wurde der Versuch jedoch aufgegeben, eine zentrale Kontrollinstanz zu schaffen. Hüter des wahren Glaubens wurden die ‘ulama.

Das Debakel des Kalifats hatte weitreichende Folgen, die deutlich werden, wenn die weitere Entwicklung islamischer Herrschaft mit der des Christentums im Westen verglichen wird. Dort wahrte die Kirche unter der entschlossenen Führung des Papsttums ihr Monopol in Fragen der christlichen Lehre und derjenigen Rituale, die Erlösung zusicherten. Obwohl das katholische Monopol letztlich zerschlagen wurde, hatte die langewährende Hegemonie der Kirche soziale Wandlungsprozesse in Gang gebracht, die über die verwandtschaftlichen Bande hinausführten. Im Okzident entstand der Staat, als die Kirche – ideale Körperschaft und Verkörperung der Person Christi – weltliche Nachkommen in Form von Städten und anderen öffentlichen Gebilden gebar. Im Gegensatz dazu hat der islamische Staat das prägende Schema des Stammesverbandes nie völlig überwunden. Die Implosion des arabischen Reiches verschlimmerte die Folgen noch, die das Versagen des Kalifats bei der Durchsetzung religiöser Konformität mit sich brachte. Von den Schiiten einmal abgesehen, die an der Idee einer transzendenten geistlichen Autorität festhielten, gab es im Islam keine zentrale Institution, der die religiöse Oberaufsicht übertragen worden wäre. Dieses Manko behinderte auch die Herausbildung eines Gegengewichts in Form des säkularen Staates. Das Gesetz entwickelte sich paradoxerweise unabhängig von den Institutionen weiter, denen seine Durchsetzung anvertraut worden [37]war, und so wurde die militärische Stammesherrschaft zur Regel. Wie Patricia Crone und Martin Hinds ausgeführt haben, »kann ein Herrscher, der keinerlei Mitspracherecht bei der Formulierung des Gesetzes hat, nach dem seine Untertanen leben wollen, diese Untertanen ausschließlich im rein militärischen Sinne beherrschen«.10 Um seinen Fortbestand zu sichern, musste ein solches Staatswesen von Außenseitern getragen werden, und der Gehorsam wurde seinen Herrschern als ebensolchen Außenseitern entgegengebracht, nicht als Repräsentanten der Gemeinschaft. Obwohl in dieser Beziehung ein gewisses Element des Konsenses vorhanden war, weisen Crone und Hinds darauf hin, dass dem Staat ein »institutioneller Apparat dahinter vollkommen fehlte […]. Dadurch wurde der Staat zu etwas, das sich an der Spitze der Gesellschaft befand, ohne in ihr verwurzelt zu sein. Durch die minimale Interaktion zwischen beiden war auch die politische Entwicklung entsprechend minimal: Dynastien kamen und gingen, doch was sich veränderte, war nur der Name des Herrscherhauses.«11 Diese Formulierung mag etwas überzogen wirken, was das Maß an politischer Unbeweglichkeit in den muslimischen Staaten betrifft, enthält aber eine wichtige Feststellung über die Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft in den muslimischen Ländern vor Beginn der Moderne, die dort grob gesagt mit dem 19. Jahrhundert einsetzt. Im vorigen Jahrhundert wurde den muslimischen Herrschern dann bewusst, dass sie nicht umhinkamen, gesellschaftliche Neuerungen einzuführen, wollten sie die militärische und ökonomische Herausforderung durch den Westen annehmen. Dennoch hat trotz des Niedergangs der Macht und religiösen Autorität des Kalifats die Idee als solche in Teilen der sunnitischen Mehrheit ihre Anziehungskraft bewahrt.

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