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Institutionalisierte Führerschaft
ОглавлениеIm Islam gibt es keine »Kirche« im Sinne einer förmlich eingesetzten Körperschaft zur Festlegung und Überwachung der religiösen Regeln, die eine »offizielle« islamische Position zum Ausdruck bringen könnte, wie das etwa das Papsttum oder die ernannte beziehungsweise gewählte Führung protestantischer Glaubensgemeinschaften tut. Mit dem Zusammenbruch des islamischen Vielvölkerstaats, der nach dem Tode des Propheten Muhammad gerade einmal zweihundert Jahre Bestand hatte, wurde die religiöse Autorität der ‘ulama (Sg.: ‘alim ›Gelehrter‹) anvertraut, einer Klasse von Schriftgelehrten, deren Rolle als Hüter und Deuter der Tradition der Funktion der Rabbiner im Judentum viel näher steht als der Rolle der christlichen Priesterschaft. Sie übten keine politische Macht aus, sondern bremsten die Macht der Herrscher, der Sultane (»oberste Instanzen«) und Emire (»Befehlshaber«), die meist durch Waffengewalt an die Macht gelangt waren. Die Gelehrten legten das göttliche Gesetz aus und wandten es an, wobei sie sich des komplexen Regelwerkes bedienten, das in den Akademien entwickelt worden war. Die berühmteste dieser Lehranstalten, Al-Azhar in Kairo, wurde im Jahre 971 gegründet und erhebt den Anspruch, die älteste Universität der Welt zu sein. Obwohl ihr Rektor, der Shaik al-Azhar, innerhalb der sunnitischen ‘ulama eine herausragende [29]Stellung einnimmt, sind seine Urteile für die anderen Gelehrten nicht bindend. Entsprechend ernennen zwar alle muslimischen Regierungen einen offiziellen Mufti, einen ‘alim mit der Befugnis, zu verschiedenen Punkten juristische Urteile abzugeben, doch haben seine Stellungnahmen lediglich beratende Qualität, soweit sie nicht durch den Gerichtsentscheid eines qadi, eines Richters, wirksam werden. Da es der Herrscher ist, der den Richter ernennt, steht zwar die Durchsetzung des Religionsgesetzes unter staatlicher Kontrolle, nicht jedoch seine Auslegung. Die Programme zur Massenbildung, die von den meisten postkolonialen Regierungen aufgelegt wurden, haben in dem Maße für die ‘ulama zu einem Verlust an Ansehen und Autorität geführt, wie Universitätsabsolventen mit einem zumeist säkularen Bildungshintergrund zu eigenen Interpretationen der heiligen Texte des Islam gelangten und damit die traditionelle Lehre und ihr Schrifttum einfach umgingen. Demgegenüber kann es in den Ländern, die den Einflüssen der Moderne seit jeher weniger ausgesetzt waren (wie zum Beispiel in Afghanistan oder den ländlichen Gegenden Pakistans), vorkommen, dass die gesamte oder einzelne aufstrebende ‘ulama versuchen, Macht unmittelbar selbst auszuüben, ohne sich um die komplexen Realitäten der modernen Welt zu scheren. In beiden Fällen ist die Krise der intellektuellen Autorität dieselbe: Die auf traditionelle Weise ausgebildeten ‘ulama haben es nicht geschafft, zeitgenössische modernistische oder reformistische Denkansätze in ihren Diskurs zu integrieren. Wenn Aktivisten heute versuchen, ihre Gesellschaften zu »islamisieren« und sie stärker auf eine Linie mit dem zu bringen, was sie unter dem islamischen Gesetz verstehen, ignorieren sie Hunderte von Jahren ausgewiesener und genauestens nuancierter Gelehrsamkeit, mit deren Hilfe die ‘ulama versucht haben, zwischen den Forderungen des göttlichen Gesetzes und den Realitäten politischer Macht sowie den Erfordernissen des täglichen Lebens zu vermitteln.