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Oder ein geistiges Vakuum?

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Vor dem Anbruch der Moderne, noch vor der Kolonialzeit, wurden islamische Gesellschaften nicht nur durch die Solidarität innerhalb von Familie und Sippe zusammengehalten, sondern auch durch die mystischen Bruderschaften der Sufis, denen die meisten erwachsenen männlichen Mitglieder der städtischen [41]Gesellschaft angehörten (s. dazu Kap. 4). Obwohl mit dem Wiederaufleben des Islam in gewissem Maße auch ein Wiedererwachen sufischer Praktiken einherging, hat doch die kombinierte Stoßkraft des postkolonialen, nationalistischen Kampfes und der modernistischen Bewegung insgesamt zu einem drastischen Bedeutungsverlust des Sufismus geführt. Von den Modernisierern wurde dieser für ein Kennzeichen von »Rückständigkeit« gehalten, während religiöse Puristen ihn ablehnten, da er in ihren Augen durch ketzerische Irrlehren oder, noch schlimmer, durch heidnische Einflüsse verdorben war. Da es jedoch eine Priesterschaft nicht gab, stellten die shaikhs (die »alten Männer«), die murshids (»geistlichen Leiter«) oder pirs (wie sie in persisch- oder urdusprachigen Gegenden genannt wurden) der Sufis eine Quelle geistlicher Autorität dar, welche die ‘ulama als intellektuelle Führungsinstanz ergänzte und bisweilen sogar verdrängte. Zwar spielten einige Sufi-Bruderschaften eine führende Rolle im Kampf gegen die Kolonialherrschaft, doch gab es auch andere, die mit den Kolonialbehörden zusammenarbeiteten. Letztere sahen in jenen Kollaborateuren Verbündete gegen die Modernisten und Reformer, die Pioniere der modernen, nationalistischen Bewegungen. Der Sufismus mit seiner »Vision von Vereinigung und Einssein«, seiner asketischen Hinwendung zu einer anderen Welt und der Beschäftigung mit den esoterischen Dimensionen des Glaubens lässt die banalen Einzelheiten der aktuellen Politik weit hinter sich und transzendiert sie ebenso wie die unvermeidliche Korruption durch die Macht. Der amerikanische Wissenschaftler Peter von Sivers sieht einen direkten Zusammenhang zwischen dem Aufstieg der modernen politischen Bewegungen im Islam und dem Niedergang des Sufismus, den viele als das spirituelle Herz und die Seele des Islam betrachten.12 Durch den Ausschluss des Sufismus aus der [43]Debatte zwischen weltlich orientierten Reformern und ihren religiös gesinnten Gegnern ist diese zu einer zunehmend fruchtlosen Konfrontation zweier unversöhnlicher Extrempositionen verkommen.


Die Ka‘ba (Haus Gottes), der würfelförmige Tempel mit dem heiligen schwarzen Stein im Zentrum des Ehrwürdigen Heiligtums in Mekka. Pilger umschreiten die Ka‘ba, und Muslime auf der ganzen Welt beten in ihre Richtung. Die Kiswa oder Abdeckung aus schwarzer Seide wird jedes Jahr erneuert. (© Popperfoto)

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