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Der Koran
ОглавлениеFür die überwältigende Mehrheit der Muslime ist der Koran die Rede Gottes, die so diktiert und vom Menschen nicht redigiert worden ist. Im Gefolge der katholisch anmutenden Mu‘tazili-Kontroverse (s. S. 94 f.) wurde der Koran als »nicht geschaffen« aufgefasst und war damit von der gleichen ewigen Dauer und Zeitlosigkeit wie Gott. Wie Wilfred Cantwell-Smith bemerkt, nimmt er für den gläubigen Muslim denselben Platz ein wie Christus für die Christen. Ein Muslim oder eine Muslimin soll den Text nur zur Hand nehmen, wenn er oder sie sich im Zustand ritueller Reinheit befindet. Die exakte Aussprache ist genauso wichtig wie die Bedeutungen; anders als bei den meisten arabischen Texten liefert die koranische Schrift das Zeichen für die Vokalkürze mit, um ein Höchstmaß an Genauigkeit sicherzustellen. Lesungen wird die Wendung vorausgeschickt: »Ich nehme Zuflucht bei Gott vor Satan, dem Verfluchten«, und sie schließen mit dem Satz: »Gott der Allmächtige hat wahr [48]gesprochen!« Die Eröffnungs- und Schlussformel errichten »mit Worten eine Art von ritueller Einfriedung um den rezitierten Text und schützen ihn so vor bösen Eingebungen oder Falschheit«.13 Bestimmten Versen werden heilende Kräfte zugeschrieben: Beispielsweise soll die erste Sure (Kapitel), die auch als »Die Eröffnende« bekannt ist, gegen den Stich eines Skorpions helfen; die letzten beiden, die Suren 113 und 114, taugen angeblich zur Heilung diverser Krankheiten.
Das Problem der Textzusammenstellung ist zum Gegenstand einer ausgedehnten Forschungskontroverse geworden. Mit wenigen Ausnahmen akzeptieren die meisten nichtmuslimischen Gelehrten, dass das geschriebene Buch Aufzeichnungen göttlicher Äußerungen enthält, die Muhammad im Laufe seines Dienstes im Amt des Propheten gemacht hat (Beginn um 610, Ende mit seinem Tod im Jahre 632). Verschiedenen Überlieferungen zufolge fiel Muhammad in einen tranceähnlichen Zustand, wenn ihn die Offenbarungen erreichten. Diese Überlieferung stimmt mit Berichten überein, die den Empfang von Offenbarungen bei Propheten in jüngerer Zeit schildern, so zum Beispiel bei Joseph Smith Jr., dem Begründer des Mormonentums, dessen Äußerungen in der als Lehre und Bündnisse bekannt gewordenen Schrift enthalten sind. Muslimische Geschichtsschreiber stimmen generell darin überein, dass manche oder auch alle dieser Äußerungen, die sorgsam von Muhammads »normaler« Rede, wie sie im hadith-Schrifttum festgehalten ist, unterschieden werden, zu seinen Lebzeiten niedergeschrieben worden sind. Jedem der vier »Rechtgeleiteten« Kalifen ist das Verdienst zuerkannt worden, die Zusammenstellung des Textes entweder initiiert oder befördert zu haben. Allerdings ist zwischen Historikern und Traditionalisten unumstritten, dass der offizielle Kodex unter dem dritten Kalifen ‘Othman [49](Regierungszeit 644–656) festgelegt wurde. Abweichende Lesarten wurden schließlich vernichtet, konnten aber nicht vollständig beseitigt werden: Die Aufgabe wurde durch die Beschaffenheit der frühesten arabischen Schrift erschwert, die keine diakritischen Punkte kannte, mit denen Konsonanten voneinander unterschieden werden konnten. In dem Maße, wie sich die Schrift weiterentwickelte, entstand mehr und mehr ein Standardtext, bei dem die variierenden Lesarten auf sieben reduziert worden sind, von denen jede als gleichermaßen gültig angesehen wird.
Die Öffnende
»Im Namen Allahs, des Erbarmers, des Barmherzigen!
Lob sei Allah, dem Weltenherrn,
Dem Erbarmer, dem Barmherzigen,
Dem König am Tag des Gerichts!
Dir dienen wir und zu Dir rufen um Hilfe wir;
Leite uns den rechten Pfad,
Den Pfad derer, denen Du gnädig bist,
Nicht derer, denen Du zürnst, und nicht der Irrenden.«
Sure 1,1–7
Zusammenfassung des Koran
»[Die Fatiha] enthält in kondensierter Form alle grundlegenden Prinzipien, wie sie im Koran niedergelegt worden sind: Das Prinzip von der Einheit und Einzigartigkeit Gottes; das Prinzip, dass er der Schöpfer und Erhalter des Universums ist, der Quell aller lebensspendenden Gnade, der Eine, demgegenüber der Mensch zuletzt verantwortlich ist, die einzige Macht, die wahrhaft führen und helfen kann, die Aufforderung zum rechtschaffenen Handeln im Leben dieser Welt; […] das Prinzip des Lebens nach dem Tode und der organischen Folgen aus dem Handeln und Verhalten des Menschen; […] das Prinzip der Anleitung durch die Gesandten Gottes […] sowie, daraus folgend, die Notwendigkeit, sein Selbst freiwillig dem Willen des Obersten Wesens hinzugeben und auf diese Weise nur Ihn allein anzubeten.«
Muhammad Asad: The Message of the Quran. Gibraltar 1980. S. 1.
Eine Seite aus dem Koran: ein Beispiel für die Naskhi-Schrift.
Zu lesen ist die letzte, die 114. Sure (Surat al-Nas – Die Menschen): »Sprich: Ich nehme meine Zuflucht zum Herrn der Menschen, Dem König der Menschen, Dem Gott der Menschen, Vor dem Übel des Einflüsterers, des Entweichers, Der da einflüstert in die Brüste der Menschen – Vor den Dschinn und den Menschen.«
(© World of Islam Festival Trust)
Das Buch ist in 114 Suren (wörtl. ›Reihen‹) oder Kapitel unterteilt, die mehr oder weniger ihrer Länge nach angeordnet sind, so dass die kürzeste Sure am Ende und die längste kurz hinter dem Anfang steht. Die wichtigste Ausnahme von diesem Schema bildet die Fatiha oder »Eröffnende«, eine Anrufung Gottes in sieben Versen, die von Muslimen bei jedem der fünf Gebete, zu denen sie alle vierundzwanzig Stunden verpflichtet sind, wiederholt werden. Die Fatiha wird gelegentlich als die »Mutter des Buches« bezeichnet und ist nach allgemeiner Auffassung die Quintessenz des Islam. Oft wird sie als Gebet verwendet.
[50]In den auf sie folgenden Suren wird dieselbe grundlegende Botschaft wiederholt, genauer herausgearbeitet, erweitert und mit Geschichten illustriert, wobei auf den jüdisch-christlichen Überlieferungsschatz, vermehrt um einige deutlich arabische Elemente, zurückgegriffen wird. Es begegnen also Adam und Noah, Abraham und Joseph, Moses und Jesus neben den der Bibel unbekannten arabischen Propheten und Weisen Hud, Salih und Luqman. Die Theologie des Textes vertritt einen absoluten und kompromisslosen Monotheismus. Wie im Alten Testament sind die Propheten gesandt, die Menschen vor dem Abweichen vom rechten Pfade und der Anbetung falscher Götter zu warnen. Als besonders abscheulich wird dabei die Sünde des shirk, die »Beigesellungssünde«, angesehen, bei der die Erhabenheit Gottes dadurch kompromittiert ist, dass er durch die Verbindung mit geringeren Göttern sozusagen kontaminiert wird. [52]Unaufhörlich wird in den Suren der Wille, die Majestät und schöpferische Macht Gottes betont und gepriesen. Allah – das arabische Wort für Gott – enthält bereits den bestimmten Artikel und bedeutet wörtlich »der Gott«. Anstatt sich in fruchtlosen Spekulationen über seine Eigenschaften zu ergehen, werden die Menschen angehalten, seine Gegenwart anzuerkennen und den Moralgesetzen sowie den Ge- und Verboten zu gehorchen, die ihnen, wie sie glauben, durch eine Folge von Gesandten und Propheten geoffenbart worden sind. Der Letzte in dieser Reihe ist Muhammad. Gott ist sowohl transzendent wie immanent, der Herr der Schöpfung und gleichzeitig Einer, der dem Einzelnen näher ist als seine »Drosselvene«.
Gottes Sprachrohr
»Muhammad ist das Sprachrohr des göttlichen Willens, der ihm von Gabriel mitgeteilt wird, und so steht er wie ein Beamter, der das Vertrauen des Königs genießt, auf der Grenzlinie zwischen dem königlichen Hof und den Untertanen. Untertan bleibt er immer. Manchmal empfängt er Botschaften, um sie an das Volk weiterzuleiten; manchmal wird er direkt als der Vertreter des Volkes angesprochen oder empfängt für das Volk bestimmte Gebote oder Ermahnungen; dann wieder werden besondere Ermahnungen und Anweisungen für sein eigenes Verhalten an ihn gerichtet; und zuweilen überschreitet er sozusagen die Grenze und überbringt dem Volk, indem er sich zu ihm umdreht, direkt die göttlichen Gebote und Ermahnungen.«
W. M. Watt: Bell’s Introduction to the Quran. Edinburgh 1970. S. 67
Dass im Koran Gott und nicht Muhammad spricht, wird schon durch das imperative »Sprich!« deutlich, das vielen Äußerungen vorangestellt und an Muhammad gerichtet ist. Gott spricht von [53]sich in der ersten Person Singular oder Plural, doch kommt es auch vor, dass der Prophet anscheinend vom Buch selbst angeredet wird und ihm als einer dritten Person von Gott berichtet wird. Neal Robinson, ein britischer Wissenschaftler, der den Stil des Koran detailliert untersucht hat, weist darauf hin, dass es sich bei dem plötzlichen Wechsel zwischen verschiedenen Pronomina um ein Wesensmerkmal der arabischen Rhetorik handelt und dass trotz der Verwendung verschiedener Pronomina »Gott der implizite Sprecher«14 des gesamten Koran-Textes sei:
Mit der ersten Person Plural drückt Er seine Macht, Erhabenheit und seinen Großmut aus. Mit der Verwendung der ersten Person Singular wahrt Er seine Einheit, schlägt einen vertraulicheren Ton an oder gibt seinem Zorn Ausdruck. In der dritten Person Singular richtet Er eine universale Botschaft an die Menschheit, und zwar in einer Sprache, die die Menschen weiterverwenden können.
Andere Gelehrte vertreten dagegen die Ansicht, dass manche Textpassagen eher als Aussprüche von Engeln oder des Engels Gabriel zu verstehen sind. Dies ist besonders in den Passagen am Anfang des Buches der Fall, von denen allerdings angenommen wird, dass sie in die Jahre in Medina, also die spätere medinensische Phase von Muhammads Prophetenamt, gehören. Diese Teile enthalten detaillierte Vorschriften über Ehe, Erbrecht und Strafen und stellen die bedeutsamste Quelle für das islamische Recht dar.
Leser, die mit der Bibel oder den Hindu-Epen vertraut sind, werden im Koran eine zusammenhängende Erzählstruktur vermissen. Robinson betont, dass es zwar besonders enge Parallelen zu den Paulusbriefen der Bibel gibt, nicht jedoch zu den [54]Schilderungen aus dem Leben Jesu in den Evangelien. In diesem Zusammenhang zitiert er die Ansicht des indischen Theologen Shah Wali-Allah aus Delhi, der im 18. Jahrhundert meinte, dass man sich den Koran nicht als ein Buch vorstellen darf, das sich mit seinen Themen systematisch befasst, sondern eher als eine Sammlung von Sendschreiben, die ein König für seine Untertanen im Hinblick auf die Erfordernisse einer bestimmten Situation verfasst hat. Zwar gibt es ein paar vereinzelte Erzählungen – hervorzuheben wären hier besonders die Geschichten über die Propheten, einschließlich der sogenannten »Bestrafungsgeschichten«, in denen in allen Einzelheiten das düstere Schicksal derer geschildert wird, die Gottes Gesandte zurückweisen –, doch sind diese historischen Diskurse thematisch statt chronologisch verknüpft. Die biblischen Erzählungen richten sich an Christen und Juden und werden nicht als neue Offenbarungen präsentiert, sondern als Erinnerung und Beteuerung früherer Offenbarungen. Jedoch werden in diesen Geschichten wichtige Differenzen in der theologischen Doktrin deutlich. Am bedeutsamsten ist dabei der Unterschied zwischen den Lehren vom Sündenfall. Satan wird für seine Weigerung bestraft, vor Adam das Haupt zu beugen, und obwohl Adam wie in der biblischen Geschichte sündigt, indem er von der verbotenen Frucht isst, bereut er hier und steht bald wieder in Gottes Gunst: Als sein Stellvertreter oder Vizeregent (khalifa) ist er der erste einer Reihe von Propheten, die in der Person von Muhammad ihren höchsten Punkt erreicht. In diesen Erzählungen begegnet weder die Lehre von der Erbsünde noch die Doktrin vom Sühneopfer, der für andere erlittenen Buße. Wo die Erbsünde fehlt, braucht es auch keinen Erlöser: Der koranische Jesus ist ein von einer Jungfrau geborener Prophet, aber er ist nicht die fleischgewordene Gottheit in Menschengestalt. Und wo es weder die Inkarnation noch den Erlöser gibt, kann es auch keine Kirche als »Braut« oder »mystischen Körper« Gottes geben. Es braucht auch keinen Ewigen Bund, um die Erlösung sicherzustellen. [55]Alles, was von den Menschen verlangt wird, ist, dass sie Gehorsam gegenüber Gottes Geboten üben und sich ihres Verstandes bedienen, um Wahres von Falschem zu unterscheiden, wobei sie den Koran als ihr Kriterium (furgan) nehmen. Gott offenbart sich den Menschen nicht in einer Person, sondern in Worten, aus denen ein Text wird, wobei in den Augen der meisten Muslime die einzelnen Wörter des Koran für sich genommen schon göttlicher Natur sind.
Die koranischen Suren sind in Verse unterteilt, die im Arabischen als ayas bekannt sind – das Wort bedeutet ›Zeichen‹ und wird im Koran häufig dazu verwendet, die Existenz Gottes aufzuzeigen. Diese ›Zeichen‹ dienen nicht nur dazu, die Aussprüche Gottes zu kennzeichnen; sie verweisen außerdem auf Gottesbeweise in der Natur. Dadurch ist die Theologie des Koran von einer Argumentation durchdrungen, die in der christlichen Theologie als »teleologischer Gottesbeweis« bekannt geworden ist. Das Lesen wird so selbst schon zu einem Akt der Andacht.
Obgleich Muhammad namentlich an mindestens vier Stellen genannt wird, liefert, von gelegentlichen Andeutungen abgesehen, der Koran für eine Biographie Muhammads oder eine Darstellung seiner Jahre im Amt des Propheten nur sehr wenig Material. Auf das Neue Testament bezogen, wäre es so, als seien nur die Paulusbriefe erhalten, nicht aber auch nur eines der vier Evangelien oder die Apostelgeschichte. Für den Koran sind die Ereignisse in Muhammads Leben genauso wenig von Interesse, wie es die Lebensgeschichte Jesu für Paulus war.
Zeichen und Verse
»Jeder Koranvers (ayah) ist zugleich ein Zeichen – im symbolischen oder semiotischen Sinn –, das auf eine andere Wirklichkeitsebene verweist, die wiederum die Botschaft der Offenbarung bestätigt. Der Gläubige, der danach strebt, ein Gefühl für das Heilige zu entwickeln, muss also zwei verschiedene Ebenen von ›Sprache‹ (langue) gleichzeitig lernen: den arabischen Text des Koran selbst und die ›Sprache‹ der Natur, die auch eine Manifestation der Sprache Gottes ist. Gott hat die Welt als ein Buch geschaffen; seine Offenbarungen sind auf die Erde niedergefahren und zu einem Buch kompiliert worden; folglich muss der Mensch lernen, die Welt als Buch zu ›lesen‹.«
Vincent J. Cornell. In: The Oxford Encyclopedia of the Modern Islamic World. Oxford 1995. Bd. 3. S. 388.
Der Stil des Koran ist elliptisch; der Text steckt voller Andeutungen und Anspielungen. Die Schrift richtet sich an Menschen, die mit einem Großteil des darin enthaltenen Stoffes bereits vertraut sind, und ist weit davon entfernt, aus sich selbst heraus verständlich zu sein. Man kann den Koran nur verstehen, indem man Material heranzieht, das außerhalb des Textes liegt. Eben diese Schwierigkeiten des Textes als historischer Quelle sind ein überzeugender Prima-facie-Beweis für seine Authentizität, [56]denn sicher würde doch ein auf irgendeine Weise redigiertes Werk mehr Merkmale erzählerischer Geschlossenheit aufweisen. Man gewinnt den Eindruck, dass Muhammads Worte (also jene, die er im prophetischen Sprachmodus von sich gegeben hat, wenn, wie vermutet wurde, der Engel oder Gott in ihn gefahren war) von Anfang an als heilige Artefakte angesehen wurden und wie Heiligenreliquien aufgezeichnet und aufbewahrt wurden. Anders als die Bücher des Alten und Neuen Testaments stellt sich der Koran selbst als unbearbeitetes »Rohmaterial« dar. Der narrative Kontext seiner Entstehung – der Lebensweg von Muhammad – war etwas, das erst rekonstruiert werden musste, wollte man seiner Bedeutungsvielfalt gerecht werden. In diesem Fall richtet sich sogar für den Skeptiker die Chronologie nach der Theologie. Genau wie »Gottes Rede«, wie sie der Engel vorträgt, in ontologischer Hinsicht einen höheren Stellenwert besitzt als die Aussprüche des Propheten, wie sie in den Hadith-Schriften aufgezeichnet sind, erscheint auch »das Leben des [57]Propheten« erst nach der Schrift, dem Zeugnis der göttlichen Offenbarung. Muhammad ist nicht nur weit davon entfernt, der »Autor« des Koran zu sein; vielmehr ist in literarisch-historischem Sinne der Koran der »Autor« von Muhammad.