Читать книгу Der Besitz - Mara Dissen - Страница 12
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Die riesigen, verglasten Tore, die in die Werkstatt führen, sind fest verschlossen. Es ist somit auf diesem Weg nicht möglich, zu den drei Hebebühnen dahinter zu gelangen. Wenn sich die Gäste unter dem Motto Backstage vorstellen sollten, einen Einblick in die Arbeit eines Automechanikers zu erhalten, so würden sie einer Fehleinschätzung unterliegen. Es gibt nicht mehr allzu viel zu zeigen und vorzuführen, es ist nur noch eine Hebebühne funktionsfähig. Für die zwei noch verbliebenen, festeingestellten Mechaniker ist sie als Arbeitsplatz ausreichend.
Man hat sich scheinbar eingerichtet.
Roswitha hat das Gebäude durch den Kundeneingang betreten. Verärgert tritt sie die klemmende Tür ins Schloss, schließt sofort hinter sich ab, sorgfältig darauf bedacht, dass ihr niemand gefolgt ist. Nur flüchtig schaut sie sich in dem Eingangsbereich um. Sie weiß, dass sie Herbert in diesem, von außen einsehbaren Raum, nicht vorfinden wird. Er sucht die Abgeschiedenheit, wenn er sich auf ungewohnte Situationen vorbereiten muss. Unschlüssig geht sie an den hohen, angeschlagenen, grauen Stahlschränken vorbei, lässt die Blechregale, vollgestopft mit Aktenordnern, links liegen und bewegt sich auf die Bürotür ihres Mannes zu.
Unmittelbar davor macht sie Halt, scheint es sich anders zu überlegen und geht zu einem Schrank, der etwas abseits in einer Ecke steht. Umständlich fummelt sie in der Tasche ihrer engen Jeans herum und befördert einen Schlüssel zu Tage. Suchend blickt sie nach allen Seiten, bevor sie die Schranktür öffnet. Mit einem schnellen Griff entnimmt sie aus dem obersten Fach eine griffbereit liegende einzelne Tablette, lässt die daneben liegende Tablettenpackung in ihrer Handtasche verschwinden, holt sie wieder hervor, betrachtet sie nachdenklich, legt sie in den Schrank zurück und schlägt die Tür mit einem lauten Knall zu. Quietschend fährt sie langsam wieder auf. Verärgert schiebt Roswitha den Schlüssel ins Schloss und dreht ihn zweimal um. Den breiten Spalt zwischen Tür und Füllung kann sie jedoch nicht verhindern. Durch mehrmaliges Ruckeln vergewissert sie sich, dass die Tür nicht wieder auffährt. Ihr skeptisches Kopfschütteln verdeutlicht, dass sie dem Schließmechanismus nicht traut.
Ich kann die Geräusche, die Roswitha im Nebenraum verursacht, nicht zuordnen. Vergeblich warte ich darauf, dass sie Angst bei mir auslösen. Getrennt durch eine Wand empfinde ich jedoch nichts, absolut gar nichts. Jetzt höre ich ihre Schritte, spüre förmlich, wie sie näherkommen. Und da ist sie, diese unaufhaltbare Angst, die sich wie ein Eisen um meine Brust spannt, mir die Luft zum Atmen nimmt, mir so vertraut ist, und ich doch kein Mittel finde, mich ihrer Kraft entgegenzustemmen.
„Herbert, bist du da drin?“, ruft meine Frau bereits auf dem Weg zu mir. Unerwartet leise und behutsam öffnet sie die Tür und macht nur zwei Schritte in den Raum hinein. Ich sitze auf meinem abgewetzten Schreibtischstuhl, die Arme auf der Tischplatte abgestützt, den Kopf in den Händen vergraben. Ohne sie im Blick zu haben, weiß ich, dass sie sich missbilligend in dem kleinen, vollgestopften Raum umsieht. Sie wird mit verächtlich heruntergezogenen Mundwinkeln als erstes den wackligen, hölzernen Registerschrank ins Auge fassen, sodann die altertümliche Schreibtischlampe auf meinem Tisch und zum Schluss ihren eigenen kleinen, billigen Stahltisch. Sie hat ihn ganz an die Wand in die Ecke gequetscht. Sie brauchte Platz für das einzig moderne und intakte Möbelstück in diesem Raum. Ihren Schreibtischstuhl. Wie ein Monster aus Stahl und grellblau bespanntem Tuch thront er mit hoher Rückenlehne und ausladenden Armlehnen in einem viel zu kleinen Raum, vor einem viel zu kleinen Tisch. Für meinen Schreibtisch interessiert sie sich schon lange nicht mehr.
Ich spüre, wie sie sich mir zuwendet. Sie hat ihr Begutachtungsritual beendet.
„Mensch Herbert, was machst du denn? Du musst rauskommen. Hast du dich von vorhin immer noch nicht beruhigt? Die Gäste, deine Gäste sind jeden Moment da. Wie sieht das denn aus, wenn du sie nicht empfängst? Karla und Sven haben auch schon nach dir gefragt. Sie haben die ganze Arbeit gemacht, und du hängst hier rum.“
„Ich hänge nicht rum. Ich überlege, nein, ich plane.“
„Ja, ja, das kannst du später machen. Hier nimm das.“ Roswitha hat sich mir genähert, legt fast fürsorglich eine Hand auf meine Schulter und reckt mir in der anderen Hand eine Pille entgegen.
„Ich habe meine Tablette schon genommen.“
„Da bin ich mir nicht so sicher, bei der Verfassung, in der du dich befindest. Stell dich nicht so an. Du hast die Tablette in letzter Zeit zuhause doch auch von mir bekommen, und ich halte es für besser, wenn ich dir regelmäßig auch hier bei der Arbeit deine Tabletten zuteile. Dann wissen wir wenigstens zuverlässig, dass du sie eingenommen hast.“
„Wie kommst du hier an meine Tabletten?“ Ich richte mich in meinem Stuhl auf und starre meine Frau verwirrt und ungläubig an.
„Ich habe einige davon zuhause abgezweigt und hier in meinem Schrank eingeschlossen. Dann kann ich nicht nur in unserer Wohnung, sondern auch hier darauf zurückgreifen. Ach, übrigens, ich werde einen neuen Schrank kaufen, einen, den man vernünftig abschließen kann. Hier kann man niemandem trauen, und du weißt doch am besten, wie sich Misstrauen anfühlt. In dem Schrottding möchte ich meine Sachen jedenfalls nicht länger deponieren, wenn ich dir auch zukünftig hier bei der Buchhaltung helfen soll. So, und nun nimm endlich die Tablette.“
„Ich habe sie schon genommen. Wie oft soll ich das denn noch sagen.“ Mir fällt auf, dass mein Ton fast flehend klingt. „Du brauchst doch gar keinen Schrank, kannst meinen mitbenutzen. Ein neuer Schrank kostet Geld und genau darüber muss ich mit dir reden. Schau dich doch mal um, wie das alles hier aussieht.“
„Wenn du meinst, schon eine Tablette genommen zu haben, dann nimmst du heute zwei. Das hilft dir vielleicht, endlich nach draußen zu kommen und den Tag zu überstehen,“ geht sie nicht auf meine Geldsorgen ein. „Du hast dieses Treffen doch immer gewollt und planst seit Wochen. Was soll das denn jetzt? Und vor allem, was machst du dir für Gedanken?“
„Vielleicht tauchen Kunden auf, die ich bis jetzt noch gar nicht richtig zu Gesicht bekommen habe. Warum kommen sie jetzt und waren bisher zu feige, sich mir zu zeigen? Was ist, wenn sich da Menschen einschleichen, die überhaupt nicht zu unserer Kundschaft gehören? Was wollen sie von mir? Ich muss wissen, wie ich mich verhalten soll.“ Warum habe ich sie nicht gefragt, wozu sie einen abschließbaren Schrank benötigt?
„Du willst mir immer verkaufen, dass du dieses Treffen veranstaltest, um deine Kunden zu halten. Blödsinn. Du machst den Mist, weil du Wissen über die Kunden brauchst, die sich dir im Alltag kaum zeigen. Nur dann kannst du dich ruhigstellen, deine Ängste vor ihnen etwas runterschrauben. Und jetzt bekommst du auf einmal Panik, dass sie vielleicht tatsächlich deiner Einladung folgen und live vor dir stehen. Ist das wieder mal die Angst vor dem Unbekannten oder deine Angst vor dir selbst? Das nimmt jetzt groteske Formen an. Du weißt, wohin das führen kann. Herbert, bitte schluck das jetzt.“
„Kommt er auch?“
„Wer?“
„Dein neuer Freund von heute Morgen.“
„Hör sofort auf damit. Das war Peter Faulhaber, ein alter Klassenkamerad. Ich habe dir vor langer Zeit von ihm erzählt. Du machst dir da vollkommen falsche Vorstellungen. Und hör auf, mir nachzuspionieren, sonst bin ich eines Tages verschwunden, und du wirst vergeblich nach Spuren von mir suchen. Mund auf.“
Gehorsam öffne ich den Mund und lasse mir die Pille auf die Zunge legen. Meine Frau nimmt sich nicht die Zeit, irgendeine Reaktion von mir abzuwarten. Das stimmt nicht. Ich habe bereits reagiert. Resignation würde sie das nennen. Sie hat gewonnen. Die Angst konnte sie mir jedoch nicht nehmen.
Mit wenigen Schritten ist Roswitha an der Tür.
„Kommst du?“ Sie dreht sich nicht noch einmal um.