Читать книгу Der Besitz - Mara Dissen - Страница 18

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Seit Stunden sitze ich wie betäubt, völlig kraftlos an meinem Schreibtisch oder ist erst eine Stunde vergangen, eine halbe vielleicht? Ich weiß es nicht, habe kein Zeitgefühl. Ralf wurde von mir frühmorgens wieder nach Hause geschickt. Es gibt keine Arbeit für zwei Monteure. Toni kann die Inspektion an dem Golf, der heute gegen Abend abgeholt wird, allein durchführen. Mein Anfall vor vier Tagen hat sich rumgesprochen. Termine wurden abgesagt, neue Anfragen gingen nicht ein und es war vorher schon nichts mehr los. Man vertraut einem Mann wie mir scheinbar nicht mehr sein Auto an. Ralf hat gar nicht nachgefragt, ob er den unverschuldeten Arbeitsausfall bezahlt bekommt. Natürlich weiß er um die prekäre Situation des Betriebes. Denkbar, dass er morgen gar nicht mehr erscheint, weil er eine andere Stelle angenommen hat. Gute Leute werden überall gesucht. Vielleicht sollte ich ihn anrufen und ihm vorschlagen, seinen Resturlaub zu nehmen. Bestimmt kommen wieder andere Zeiten, und dann brauche ich ihn. Von Paul Klann werde ich mich trennen. Er tut mir leid. Es wird schwierig für ihn sein, etwas Neues zu finden. Aber hier bei mir kauft kein Mensch mehr Zubehör. Ich kann mir diesen Verkäufer nicht mehr leisten, auch wenn er nur ein paar Stunden in der Woche für mich gearbeitet hat. Ich nehme mir vor, morgen mit Paul das Gespräch zu führen.

Meine Gedanken kreisen um mein missglücktes Kundenfest vor vier Tagen. Ich versuche, mich zu erinnern, Gedankenfetzen festzuhalten, die vor meinen Augen auftauchen, und ohne Konturen zu hinterlassen, wieder verschwinden. Mein fehlendes Erinnerungsvermögen stresst mich, und ich soll Aufregung vermeiden. Ich spreize mein Finger und presse die flache Hand auf die Tischplatte, versuche mich mit aller Kraft gegen das Vergessen zu stemmen. Es gelingt mir aber nicht, Bilder oder geschweige Szenen hervorzulocken. Meine Gefühle sind umso heftiger. Angst schnürt mir den Brustkorb ein, Wut steigt in mir hoch, warum Wut? Auf was? Auf wen? So schnell und brutal mich diese Emotionen besetzen, werde ich urplötzlich von Euphorie übermannt. Ein Gesicht taucht vor mir auf. Claudia? Ich kann mich an Jochens Frau Claudia erinnern? Das Gefühl tut gut. Lächelnd fahre ich mit der Hand über mein Gesicht, ziehe sie schnell wieder zurück, weil ich befürchte, die wohltuende Erinnerung wegzuwischen. Zu spät. Ich spüre nur noch den Schweiß, der meine Hand angefeuchtet hat. Und da ist sie wieder, diese alles beherrschende Angst. Wo kommen diese unvermittelt auftretenden Gefühlsschwankungen her?

Ich sollte aufhören, mich zu belügen, denn ich kann mich sehr wohl an mein Kundenfest erinnern, nur an sehr wenige Dinge, aber an die wesentlichen. Ich habe nach langer Zeit wieder einen Anfall bekommen, einen schrecklichen, verstörenden Anfall, habe meine letzten treuen Kunden vielleicht für immer verloren. Der Auslöser ist mir bekannt, verschwindet nicht vor meinen Augen, hat sich entsetzlich eingebrannt. Rudi, nur ein Name und doch Realität. Sven hat ihn ins Spiel gebracht. Ich kann mich aber nicht erinnern, in welchem Zusammenhang. Sven hatte damit nichts Gutes im Sinn, das spüre ich deutlich. Ich habe es vermieden, ihn darauf anzusprechen, genauso wie ich in den zurückliegenden Tagen versucht habe, den Menschen aus dem Weg zu gehen.

Zitternd starre ich an die gegenüberliegende Wand. Luft, ich brauche frische Luft. Röchelnd will ich mich aus meinem Schreibtischsessel quälen, als mein Blick an dem neuen Schrank neben Roswithas Tisch hängenbleibt. Eigentlich ist es kein Schrank. Dafür ist das Gebilde viel zu klein. Es sieht eher aus wie ein etwas größerer Safe. Dafür würde auch das Material aus stabilem Metall sprechen. Ein Lieferant hat das Ding heute Vormittag hier auf dem Boden einfach abgestellt. Wozu benötigt Roswitha einen Safe ähnlichen Schrank? Was will sie darin aufbewahren? Für Garderobe ist er nicht hoch genug. Warum sollte sie sich auch auf einmal umziehen wollen? Sie hilft nur stundenweise aus. Eine Handtasche, wichtige Akten und vielleicht meine Medikamente? Sie hat mir unmissverständlich klargemacht, dass sie zukünftig für die Vergabe zuständig ist. Dann müssen nicht nur zuhause Medikamente deponiert sein, sondern auch hier im Betrieb, während ihrer Arbeitszeit. Das eigenartige Möbelstück ist ungewöhnlich tief, weicht von der Standardnorm für Schränke ab. Und da schießt es mir siedend heiß durch den Kopf. Was ist, wenn Roswitha…? Nein, das kann nicht sein, das darf ich nicht einmal denken. Ich muss Roswitha fragen, was sie sich bei dem Kauf gedacht hat. Ich muss hier raus, muss irgendetwas tun.

Oft ist es mir gelungen, ruhiger zu werden, wenn ich mich an einem vertrauten Ort mit unscheinbaren Personen umgeben habe. Toni ist so eine harmlose Kreatur. Ich werde ihn in der Werkstatt aufsuchen. Da bin ich zuhause. Ich werde mich nach der Inspektion erkundigen. Vielleicht schaffe ich auch einen belanglosen Smalltalk mit ihm, was sich aber wahrscheinlich schwierig gestaltet. Mit Toni kann man nur über Autos reden. Dann verbeißt er sich derart in technische Fragen, dass er schnell zu Monologen übergeht.

Der Gedanke, auf meinem Weg Karla und Sven im Empfangsbereich zu begegnen, treibt meinen Puls weiter in die Höhe. Langsam nähere ich mich meiner Bürotür. Behutsam drücke ich die Klinke und ziehe vorsichtig die Tür auf. Zu meiner Überraschung hat sie kein Geräusch von sich gegeben, obwohl doch hier nahezu jeder Gegenstand knarzt und knackt. Ich mache zwei Schritte in den Raum hinein und stelle erleichtert aber auch gleichzeitig erstaunt fest, dass Karla nicht an ihrem Arbeitsplatz sitzt. Das kommt äußerst selten vor. Wahrscheinlich ist sie zur Toilette gegangen oder vertritt sich etwas die Füße. Auch für sie fällt nicht mehr viel Arbeit an.

Wachsam wandern meine Blicke durch den Raum. Verwundert nehme ich meinen Mitarbeiter Sven wahr, der vor dem alten Schrank meiner Frau steht und daran herumzuhantieren scheint. Er dreht mir den Rücken zu und zeigt keinerlei Reaktion, hat mich augenscheinlich nicht gehört. Auf Zehenspitzen schleiche ich mich näher an ihn heran. Und dann sehe ich es. In beiden Händen hält er einen großen Schraubendreher, den er in den breiten Spalt zwischen Tür und Rahmen geschoben hat. Kraftvoll und doch dynamisch schiebt er ihn Richtung Schloss.

„Was machst du da?“, brülle ich los. Sven fährt erschreckt herum. Der Schraubendreher poltert mit einem hohlen Knall auf die Steinfliesen. Seine Augen sind angsterfüllt weit aufgerissen. Aber schlagartig verändern sie sich, ziehen sich zusammen, geben seinem Gesicht etwas Hinterhältiges, Lauerndes. So kenne ich meinen Kollegen, versuche tagtäglich dagegen anzukämpfen, dass er mir zu nahekommt. Ich sehe ihm deutlich an, dass er nach einer Antwort sucht. Das dauert mir zu lange.

„Ich habe dich was gefragt.“

„Chef, es ist nicht das, wonach es aussieht.“ Seine Gesichtsmuskeln haben sich entspannt. Er fühlt sich wieder sicherer.

„Wonach sieht es denn aus?“

„Herbert, wollen wir uns doch nichts vormachen. Du glaubst, dass ich den Schrank aufbrechen möchte, klauen also.“

„Und? Willst du?“, unterbreche ich ihn seltsam gelassen.

„Der Schrank soll entsorgt werden. Ich wollte ihn ausräumen, damit ich ihn zerlegen kann.“

„Hat dir Roswitha den Auftrag erteilt?“

„Nein, aber der neue Schrank ist da, das alte Ding hier muss weg, und ich habe zurzeit nichts anderes zu tun, was du wüsstest, wenn du dich nicht in deinem Büro verkriechen würdest.“ Sven ist in die Rolle des Angreifers geschlüpft. Ich muss aufpassen.

„Warum hast du nicht gewartet, bis dir Roswitha den Schlüssel gegeben hat?“

„Mit dem Schlüssel klemmt das alte Monstrum doch auch ständig. Hast du nicht mitbekommen, wie Roswitha immer wieder mit Gewalt gegentreten muss, damit das Ding sich öffnet und sie ihre Reisetasche unterbringen kann?“

„Was für eine Reisetasche?“ Ich bin alarmiert. Die Reisetasche interessiert mich augenblicklich mehr als Svens versuchter Bruch. Er beobachtet mich triumphierend, hat geschickt von sich abgelenkt, hat die Oberhand gewonnen und das mit durchtriebenen Mitteln. Er weiß es, beherrscht seine hinterlistigen Spielchen perfekt. Verschwommen tauchen Bilder vom Kundenfest vor meinen Augen auf. Ohne Not hat er Markus auf Rudi angesetzt. Er war darauf aus, Zwietracht zwischen Karla und Markus zu säen. Versucht er jetzt dasselbe bei Roswitha und mir?

„Ich habe dich etwas gefragt.“

„Muss ich dir allen Ernstes berichten, was deine Frau so treibt? Wenn sie kommt, schließt sie die Tasche hier ein und wenn sie geht, holt sie das Ding wieder raus und nimmt es mit.“

Fassungslos wechselt mein Blick zwischen dem Schrank und meinem Angestellten hin und her. Ich versuche zu ergründen, ob seine Angaben der Wahrheit entsprechen und entdecke nur stoische Gelassenheit.

„Lass gut sein. Wir vergessen die ganze Sache, haben schließlich wichtigere Dinge zu erledigen. Ich gehe kurz in die Werkstatt zu Toni,“ grummele ich und drehe mich abrupt zur Seite. Svens siegesbewusstes Grinsen ist für mich unerträglich geworden.

Der Besitz

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