Читать книгу Der Besitz - Mara Dissen - Страница 14
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Ich habe es endlich geschafft. Im Zeitlupentempo verschließe ich hinter mir die Eingangstür und trete, von der Sonne geblendet, auf den Parkplatz.
Minutenlang habe ich im Werkstattbereich gelauert, bevor ich mich bis hierher vorgetraut habe. Verdeckt durch den hohen, verbeulten Werkzeugschrank konnte ich ungesehen die Szenerie auf dem Parkplatz beobachten. Es sind nicht viele Gäste erschienen. Jeden einzelnen Besucher habe ich aus meinem Versteck heraus taxiert. Alle sind mir ausnahmslos als Kunden bestens bekannt. Ich habe ihre individuellen Merkmale schon vor langer Zeit für mich gespeichert. Ich erkenne die unscheinbarsten Abweichungen. Sie können entscheidend sein, können etwas über die physische oder psychische Verfassung eines Menschen aussagen und verraten möglicherweise etwas über geplantes, zielgeleitetes Vorhaben der Person. Es war schwierig, durch die verdreckten Scheiben Feinheiten zu erkennen. Ich habe für mich notgedrungen entschieden, keiner Gefahr ausgesetzt zu sein. Es ist nicht erforderlich, dass ich Vorsichtsmaßnahmen für mich ergreife, noch nicht.
Es dauert einige Sekunden, bis sich meine Augen auf das grelle Licht eingestellt haben. Ich straffe meine Schultern in der Hoffnung, meinen kleinen, gedrungenen Körper dadurch etwas in die Höhe ziehen zu können. Gleichzeitig wird mir bewusst, dass es mir in dieser Pose schwerfällt, meinen fettleibigen Bauch einzuziehen. Frustriert nehme ich meinem Körper wieder die Spannung und meine Schultern sacken schlaff in ihre gewohnte Haltung.
Ich hatte erwartet, freudig begrüßt zu werden. Stattdessen wird von mir keinerlei Notiz genommen. Wahrscheinlich haben sie mein Erscheinen einfach noch nicht wahrgenommen. Ein schlechter Erklärungsversuch für meine Nichtbeachtung. Er grenzt an Selbstbetrug. Enttäuschung macht sich bei mir breit. Unruhe möchte von meinem Körper Besitz ergreifen und die Sicherheit verdrängen, die ich soeben zum Verlassen der Werkstatt mühevoll aufgebaut habe. Ich darf der Angst keinen Raum bieten, muss handeln. Vielleicht sollte ich ein paar Begrüßungsworte sprechen. Ich bin der Gastgeber. Ich stoße mich von der Eingangstür ab und mache zögernd einige Schritte in Richtung der aufgebauten Tische.
„Mensch Herbert! Wo hast du dich denn rumgetrieben? Wir warten hier schon eine Ewigkeit. Gib doch mal das Startzeichen. Wir sind schon kurz vorm Verhungern.“
Jochen Debel hat sich vor mir aufgebaut. In der rechten Hand hält er eine Bierflasche, die linke Hand hat er auf meine Schulter gelegt, nein, förmlich geknallt und unternimmt keine Anstalten, sie wieder zu entfernen.
Jochen ist einer der wenigen Kunden, mit denen ich mich duze. Wir kennen uns schon eine Ewigkeit. Er war einer meiner ersten Kunden. Er behauptet stets, er wäre der erste überhaupt gewesen. Daraus leitet er einige Rechte, besser gesagt, Vergünstigungen ab. Er ist eine Frohnatur, laut, derb, aber herzlich. Ich glaube, ich kann ihm trauen. Das allein ist für mich der Grund, ihm Sonderrabatte für die häufig anfallenden Reparaturen seiner alten Karre zu gewähren. Ich weiß aber auch, dass es Jochen und seiner Frau finanziell nicht gut geht.
„Sorry, hab mir den Magen etwas verdorben. Wollte erst sicher sein, dass es nicht nach hinten losgeht. Du verstehst mich? Aber jetzt kann es losgehen.“ Ich weiß, dass ich mit meinen Sätzen bei Jochen den richtigen Ton getroffen habe. Lügen dieser Art gehen mir leicht von den Lippen. Ich bin darin notgedrungen geübt.
„Mensch Junge, mach keinen Scheiß.“ Er lacht lauthals über seinen faden, doppeldeutigen Spruch, ohne seine Hand dabei von meiner Schulter zu nehmen. Meine Angst scheint verflogen. Jochen tut mir gut.
„Hey, Leute, alle mal herhören. Der Chef möchte ein paar Begrüßungsworte sprechen. Willst du doch, Herbert? Na, komm schon.“
Energisch schiebt er mich neben einen der aufgebauten Tische, nimmt endlich seine Hand von meiner Schulter und schaut mich erwartungsvoll an. Mir gelingt ein Lächeln, das wahrscheinlich noch etwas verkrampft ausfällt. Jochen schlägt mir aufmunternd auf den Rücken und setzt zu einer erneuten Aufforderung an, als einige Gäste beginnen, zaghaft zu klatschen.
„Na los,“ flüstert mir Jochen ins Ohr, wozu er sich, für alle sichtbar, weit zu mir herunterbeugen muss. Er blickt mich nahezu verschwörerisch an. Ich muss tätig werden, wenn ich nicht vollends als hilfloser Versager dastehen möchte.
„Seien Sie mir gegrüßt. Ich habe mich leider etwas verspätet, höhere Gewalt. Wie ich sehe, haben Sie sich schon mit Getränken versorgt. Dann auf zur Suppe. Auch hier gilt Selbstbedienung. Greifen Sie zu. Es ist für alle da. Fehlt uns nur noch die Musik. Karla, können wir für ein bisschen musikalische Untermalung sorgen?“
Suchend schaue ich mich nach meiner Mitarbeiterin um und erfasse nur noch peripher, dass Jochen mir anerkennend zublinzelt, um sich sodann dem Suppentopf zu widmen. Ich entdecke Karla in einigen Metern Entfernung. Sie redet erregt auf Sven ein, wendet mir ihr Gesicht zu, breitet die Arme wie zu einer hilflosen Geste aus und schüttelt missbilligend ihren Kopf. In dem Moment scheint ihr bewusst zu werden, dass die Blicke der meisten Gäste auf ihr ruhen. Blitzschnell gelingt es ihr, ein nahezu perfekt entwaffnendes Lächeln in ihr Gesicht zu zaubern. Was ich in der Vergangenheit als reine Freundlichkeit, als Empathie für ihre Mitmenschen gedeutet habe, erscheint mir immer stärker aufgesetzt, wie vor dem Spiegel antrainiert. Wie oft habe ich beobachtet, dass sie Sven hart angeht. Ihr Lächeln ist falsch, verbirgt Emotionen, zu denen ich noch nicht vorgedrungen bin. Ich habe den Verdacht, dass sie einen Plan verfolgt, in dem ich die Hauptrolle spiele. Sie fängt an, mir unheimlich zu werden. Gehört sie zu den Menschen, die mir immer näherkommen? Ich muss versuchen, diesen Gedanken abzuschütteln, bevor er mich in den Würgegriff nimmt. Ich muss das klären.
Mit wenigen Schritten bin ich bei ihr. Ich möchte sie anschreien, fragen, wo sie gelernt hat, ihre Körpersprache sekundenschnell der jeweiligen Situation anzupassen. Das ist die falsche Frage. Ich muss wissen, weshalb sie diese Fertigkeiten anwendet. Ich darf hier nicht losbrüllen, muss mich wieder unter Kontrolle bringen und das sollte mir nach der Tablette, die mir Roswitha verabreicht hat, auf jeden Fall gelingen. Wieso befällt mich dann diese innere Unruhe und woher kommen diese Gefühlsschwankungen? Seit Tagen versuche ich, mich ihnen zu widersetzen. Es fällt mir immer schwerer. Kommt alles erneut hoch, was ich in den letzten Jahren bekämpft habe?
„Herbert, die Suppe ist superlecker. Könnte ich mich glatt reinsetzen. Würde aber etwas komisch aussehen.“ Jochen Debel hat sich zwischen Karla und mich gedrängt und prustet über seinen seichten Witz lauthals los, wobei ihm ein winziger Sprühregen feinster Suppenteilchen aus dem Mund entweicht. Karla zuckt zurück, ohne jedoch ihre aufgesetzte, in Freundlichkeit erstarrte Maske zu verändern. Das kommt mir urplötzlich lächerlich vor. Sie sollte sich ekeln, einen angewiderten Gesichtsausdruck annehmen. Hier passt Nichts zusammen. Ich muss lächeln, was Jochen als Reaktion auf seinen albernen Spruch versteht. Wie sollte er auch wissen, dass er durch seine Flapsigkeit und seine ungehobelten Essmanieren heute schon zum zweiten Mal maßgeblich dazu beigetragen hat, meine Unruhe und Ängste herunterzuschrauben.
„Was ist mit Musik, Karla? Geht da was?“ Ich lausche dem Klang meiner Stimme und nehme erstaunt Ruhe und Gelassenheit wahr.
„Herbert, du hast von Musik nichts gesagt. Das können wir jetzt nicht mehr organisieren. Ich könnte aber…“
„Da bist du ja endlich. Hoffentlich ist noch Suppe da.“ Bei Jochens Begrüßungsaufschrei bricht Karla ihren Satz ab. „Herbert, das ist meine Frau Claudia und das ist Herbert. Dachte, ihr müsst euch unbedingt mal kennenlernen.“
Vor mir steht eine kleine, dralle Frau, die mich auf eine unbekümmerte, natürliche Art anstrahlt. Sie erinnert mich an irgendjemanden. Jochen hat den Arm um ihre Schultern gelegt. Sie schmiegt sich an ihn. In dieser Geste vereinen sich Vertrauen und Sicherheit. Ich spüre den Stich, der mir unvermittelt wieder durch den Körper fährt. Sicherheit, ja ich brauche Sicherheit. Hektisch drehe ich mich um und inspiziere die Menschen auf dem Gelände. Ist es möglich, dass sich in den letzten Minuten, einer der mir unbekannten Kunden, auf die ich so dringend warte, eingeschlichen hat? Einschleichen, was für ein Wort. Ich habe sie schließlich eingeladen, warte nervös auf sie und habe doch Angst vor ihnen.
„Herbert, was ist los mit dir? Sieht nicht so aus, dass du dich freust, endlich mal meine Frau kennenzulernen. Dann könntest du aber wenigstens den Anstand wahren und sie begrüßen.“ Peinlich berührt wende ich mich wieder den beiden zu und ringe mir ein Lächeln ab. Auf Jochens lichter Stirn haben sich Falten gebildet, die Mundwinkel sind leicht nach unten gezogen. Es besteht kein Zweifel, er ist verärgert. Ich kann mir nicht erlauben, einen meiner wenigen Freunde zu verlieren. Ist Jochen mein Freund, und wer sind dann meine anderen Freunde? Die Frage schießt mir unvorbereitet durch den Kopf. Ich kann sie nicht beantworten.
Jochens Frau schaut mir nach meiner Missachtung leicht verunsichert aber immer noch freundlich ins Gesicht. Sie trägt eine Brille mit dicken Gläsern, die ihre Augen übergroß hervortreten lassen. Ohne glupschig zu wirken, beherrschen die Augen ihr kleines Gesicht mit den feisten Wangen und ziehen mich förmlich in ihren Bann. Vielleicht ist es auch die Selbstverständlichkeit, mit der sich Jochens Frau unter seinen Arm kuschelt, die mich an der Begegnung mit ihr fasziniert. Sie wirkt in ihrem gesamten Auftreten authentisch. Ich vergleiche sie automatisch mit Karla, deren Verhalten mir in diesem Licht betrachtet, nur noch berechnend erscheint.
Jochens Frau hat uneingeschränkte Beachtung verdient. Ich gestehe mir ein, dass ich mich freue, sie kennenzulernen. Für mich vollkommen überraschend greife ich nach ihren Händen, ziehe die Frau unter Jochens Schulter hervor, zerre sie förmlich zu mir heran, schließe sie fest in meine Arme, schiebe sie wieder auf eine Armlänge von mir und strahle sie freundlich an. Ich würde sie gerne mit ihrem Namen ansprechen, aber ich habe nicht aufgepasst, als Jochen sie mir vorstellte. Jetzt ist es mir unangenehm, nachzufragen. Bevor ich einen Satz formulieren kann, kommt mir Jochen ungewollt zu Hilfe.
„Holla, so war das nun auch nicht gedacht. Ich erkenne dich gar nicht wieder.“ Verwundert schüttelt Jochen den Kopf und beäugt mich misstrauisch von der Seite. „Claudia, du musst wissen, Herbert ist eigentlich ein durch und durch verschlossener Mensch. Dass er dich in den Arm genommen hat, gleicht schon einem ekstatischen Ausbruch. Aus dir werd’ einer schlau.“ Erneut schüttelt er seinen Kopf. „Komm, lass uns mal schauen, ob es für dich noch Suppe gibt.“ Entschlossen schiebt er seine Frau vor sich her. Sie dreht sich kurz um und zwinkert mir zu. Ihre Geste hat für mich etwas Vertrautes, Intimes. Ich verspüre erneut den unerklärlichen Drang, auf sie zuzueilen und sie in die Arme zu schließen.
„Soll ich Ihnen eine Jacke bringen? Sie sind doch viel zu dünn angezogen.“ Warum habe ich das gesagt? Wollte ich mich ihr auf diese Weise erneut nähern?
Sie schaut auf ihre nackten Arme, die sich knubbelig aus einem kurzärmeligen Shirt herauswölben, winkt mit der Hand und harkt sich bei ihrem Mann unter.
„Wir reden später,“ ruft sie mir wie selbstverständlich über die Schulter zu.
Ich kann mir nicht erklären, weshalb ich diese Frau, diese Claudia, euphorisch in meine Arme gerissen und dabei ihre Wärme als wohltuend empfunden habe. Es war wie in einem Rauschzustand. An wen erinnert mich diese Person? War es ihr Aussehen, ihr Duft, ihr Lächeln? Wahrscheinlich ist es nicht wichtig, sich darüber Gedanken zu machen. Ausschlaggebend ist allein, dass Jochen über mein vorheriges, abweisendes Verhalten keine Verärgerung mehr zeigt.