Читать книгу Malleus Proletarum - Der Proletenhammer - Marcello Dallapiccola - Страница 8
3 – Delongiert
ОглавлениеFrasther wohnte in einer heruntergekommenen Industriegegend, das Stadtbild wurde von stillgelegten Fabriken und aufgelassenen Nahversorgern geprägt. Seine Bude befand sich in einem ehemaligen Arbeiterwohnheim, das sich ein Immobilienriese einverleibt und das ganze Gebäude dann in winzige Appartements unterteilt hatte. Eigentlich waren Studenten, Künstler und ähnliche Leute als Mieter angedacht gewesen, doch da mit den Fabriken auch die ganze Infrastruktur der Umgebung vor die Hunde gegangen war, hatte sich in der Gegend nur zwielichtiges Gesindel angemietet. Die einst schicken Yuppie-Appartements waren schnell heruntergewohnt worden und schon nach wenigen Jahren wurde das ganze Viertel von allen Leuten, die nicht direkt dort wohnten, gemieden, so gut es ging.
Frasther hatte sich damals zu einem günstigen Zeitpunkt eine der Wohnungen gekauft; bezahlt hatte er mit seinem Sold, den er für ein groß angelegtes Schmuggelgeschäft mit Baumaschinen bekommen hatte. Inzwischen wohnte er schon seit fast zehn Jahren auf den knapp vierzig heruntergekommenen Quadratmetern – wobei er ohnehin meist nur daheim war, um seinen Rausch auszuschlafen.
Eigentlich war es ja noch viel zu früh für ihn, um nach Hause zu gehen – sogar noch vor Mitternacht – doch Aufregung hatte er für heute bereits genug gehabt, abgesehen davon brauchte er etwas Ruhe um die ganze Sache mit dem Prag-Luis ein wenig zu behirnen. Das war nicht ganz ohne, worauf sich dieser Spinner da eingelassen hatte. Frasther musste nachdenken, welche Kontakte er da wohl spielen lassen könnte, um an die Hintermänner dieser beiden Typen von heute Abend heranzukommen. Und Denken ging nun mal am einfachsten mit einem Sechserträger vor dem Fernseher.
Als er zum Eingang seines Blocks hineinstolperte, kam ihm sein Briefkasten in den Sinn. Dort schaute er nur alle paar Wochen mal sporadisch rein, es kam eh nix außer Werbung. Er öffnete das Fach – und wurde beinahe von einer Papierlawine erschlagen. Er fluchte, bückte sich und hob das ganze Zettelzeugs auf. In buntesten Farben schillerten ihn irgendwelche Reklameflugblätter an: Kauf hier, probier davon, geh dort hin. Ihm fiel ein Prospekt von einer neuen Autowaschanlage in die Hände, ein zusammenklappbares Kuvert, das sich schwer anfühlte. Vermutlich Gratis-Tankmünzen drin, dachte er. Schnaubend machte er sich daran, das ganze Zeugs auf Stapel zu sortieren.
Der Haufen mit dem überflüssigem Werbemist war schnell höher als alles, was er je in seinen Leben gelesen hatte zusammen, als endlich mal etwas kam, das nicht nach Werbung aussah: Ein Brief vom Amt, auf dem groß „Dritte Mahnung!” drauf stand.
Frasther schaute auf das Absendedatum, aber da er sich nicht sicher war, welcher Tag genau war, brachte ihm die Information nicht viel. Er sortierte also weiter, und nach zwei Minuten Werbemist stieß er auf die zweite Mahnung. Genau vierzehn Tage älter, das Ding. Dann fand er eine Karte, die an ihn persönlich adressiert war. Eine etwas ungewöhnliche Karte, denn es war kein Bild drauf, sondern groß der Spruch: „Befreie deinen Geist! Du kannst ALLES erreichen!”
Drunter war noch etwas Kleingedrucktes, ein esoterisches Blabla von wegen Chakren, Naturgeistern und interstellarer Intelligenz, schließlich eine Einladung zu einem „Liebevollen Zusammentreffen der aufrechten Seelen”. Das machte ihn immerhin neugierig genug, um die Karte mehrmals herumzudrehen und nach dem Absender zu suchen. Schließlich fand er, ganz klein an den Rand gedruckt, die Adresse und Telefonnummer eines „Tempels der allumfassenden Liebe”.
Sofort blitzten vor seinem geistigen Auge Bilder von sich in wilder Lust räkelnden Weibern auf, mit ihm rammelnd wie ein Karnickel mittendrin. Er musste grinsen; das würde es wohl nicht spielen bei so einem Spinnerverein, also legte er die Einladung zum Werbedreck. Verrückte gab es…
Und wieder kam was Interessantes zum Vorschein: Ein Flugblatt, das von einem neuen Lokal kündete, einem Irish Pub mit Dartscheiben drin und original irischen Getränkespezialitäten. Das legte Frasther auch gleich zu den Dingen, die er in der Wohnung noch genauer in Augenschein nehmen wollte.
Schließlich fand er die erste Mahnung, wiederum vierzehn Tage älter. Jetzt war nicht mehr viel übrig, das er auseinander sortieren konnte. Hier noch ein paar Prospekte, da noch ein paar wahrscheinlich schon lang abgelaufene Sonderaktionen in irgendwelchen Kaufhäusern, die er sowieso nie besuchte.
Schließlich beförderte er einen großen, blauen Umschlag ans Tageslicht, ebenfalls an ihn persönlich adressiert – als Absender trug das Kuvert einen Stempel der Justizvollzugsanstalt. Öha, stutzte Frasther, da schreibt mir wohl einer aus dem Knast. Noch ein paar zur Seite geschlichtete* Werbeprospekte später lag dann endlich ein weißes Kuvert vor ihm, auf dem das liebliche Wort „Anonymverfügung” stand. Frasther wettete mit sich selber und tippte auf eine Geschwindigkeitsübertretung. Zu guter Letzt schließlich tauchte eine Postkarte auf, die als Motiv einen kitschigen Sonnenuntergang an einem Palmenstrand zeigte. Das Gekritzel auf der Rückseite war relativ unleserlich, deshalb steckte Frasther es in den Zu-Lesen-Stapel. Dann schnappte er sich den ganzen Rest von dem Kram und warf alles den Altpapierbehälter, der günstigerweise neben den Briefkästen stand – der Hausmeister war es offenbar leid geworden, jede Woche Berge von Papier aus dem Gang zu entfernen.
Mit dem Sechserträger in der einen und dem Papierstapel in der anderen Hand latschte er hinauf in die Wohnung. An der Wohnungstüre angelangt, fiel ihm auf, dass die nur angelehnt, also bereits geöffnet war. Er stutzte; das konnte gar nicht sein, denn er vergaß niemals, seine Bude zuzusperren. Sofort schoss Adrenalin durch Frasthers Nervensystem – verdammt, die hatten ihn doch wohl nicht schon aufgespürt?!?
„F'ather, bis' du das?“, klingelte eine mit starkem Akzent behaftete Frauenstimme.
Er seufzte erleichtert auf; jetzt bloß keine Paranoia kriegen, Hauinger, ermahnte er sich selbst.
Er schob die Tür auf, trat in die Wohnung und blickte sich um: Mehrere leere Bierkisten, die an der Wand standen, waren kaum noch zu sehen weil sie bereits von einem richtigen Berg aus Bierflaschen und zerdrückten Bierdosen überwuchert wurden. Sein einziger Mülleimer, der im Schrank unter der Spüle stand, quoll schon derart über, dass er die Schranktür nicht mehr zu brachte. Um den Müllberg, der eine muffige Duftnote verströmte, schwirrten bereits einige filigrane Flattermänner herum. In einer Ecke der Wohnung lag ein riesiger Berg aus dreckiger Wäsche; in der anderen Ecke, bei seiner Pritsche, war ein Durcheinander aus Pizzaschachteln, zusammengeknüllten Essensverpackungen von verschiedenen Imbissbuden, in denen die Reste fröhlich vor sich hingammelten, auf dem Boden verstreut. Auf dem kleinen Kästchen neben seiner Pritsche türmten sich ebenfalls zerknüllte Bierdosen und leere Tschickschachteln; sein Nacht-Aschenbecher war unter dem Kippenhaufen gerade noch zu erkennen.
Eine schon etwas angerunzelte Asiatin in Putzfrauenschürze und mit Gummihandschuhen, die ihr bis über die Ellbogen reichten, kniete inmitten des Chaos und blickte zu Frasther auf.
„Oh, hallo Fat’her, komms' du auch wieder mal f'üh nach Hause?”
„Hey, Pinid, du bist aber noch spät am Arbeiten…“
„Ja, weiss' du, F'ather, ich kann Nachmittag nicht, weil ich helfe jet' F'eundin in Kuche! Weil F'eundin hat Thai-Imbiss jet', in Sti'tast'aße neben D'eitausen' Kino, hat viel Kun'schaf' do't und ande' F'eundin wo no'mal hilf' in Kuche is' k'ank gewo'den. Desha'b ich habe kein' Zeit nachmittag für putze' dein' Wohnung, abe' heute is gesag'e Te'min, deshalb ich putze jetz'…“
Frasther fühlte sich wie vom Regen in die Traufe gekommen. Hatte er eben noch befürchtet, von Strolchen über den Haufen geschossen zu werden, so sah er sich jetzt mit seiner penetrant plappernden Haushälterin konfrontiert. Normalerweise entkam er ihr, weil er nie zuhause war, wenn sie seine Wohnung machte, doch diesmal war er ihr aufgrund einer unglücklichen Verkettung der Umstände in die offenen Fänge gerannt.
Pinid war Mitte fünfzig und blickte auf eine über dreißigjährige Karriere im Rotlichtmilieu zurück. Ihr Körper und ihr Outfit, vor allem dann wenn sie sich herausgeputzt hatte, ließen das noch erahnen, doch ihr Gesicht hatte sich in den letzten Jahren zunehmend in eine Faltenruine verwandelt. Vor wenigen Jahren hatte sie sich mehr oder weniger endgültig zur Ruhe gesetzt und die Wohnung zwei Türen weiter als Alterssitz erworben. Da sie in recht bescheidenen Umständen lebte, war sie nur zu froh, wenn sie sich durch kleine Gefälligkeitsdienste nebenher was dazuverdienen konnte – das schloss Putzdienste ebenso ein wie sexuelle Zuwendungen.
Frasther hatte bisher allerdings nur die Putzdienste in Anspruch genommen und er hatte auch vor, es dabei zu belassen. Normalerweise lief das so ab, dass er einfach einmal pro Woche einen Sauhaufen verließ und frühmorgens, wenn er heimkam, in eine blitzblanke Wohnung hineintorkelte.
Frasther schätzte Pinid sehr, denn sie war nicht nur die Einzige, die beim Anblick der Zustände in seiner Wohnung nicht kreidebleich das Weite suchte, sondern sie schaffte es auch immer, die Bude in einen sagenhaft sauberen Zustand zu versetzen. Manchmal kaufte sie auch für ihn ein, füllte den Kühlschrank auf und rechnete peinlich genau unter Vorlage aller Belege ab. Das war ein Tick, den er ihr nicht abstellen konnte, denn er wäre von sich aus nie auf die Idee gekommen, nachzuprüfen ob sie ihn hereinlegte oder nicht. Genaugenommen nervte ihn ihre peinlich genaue Pfennigfuchserei, nach jedem Einkauf musste er ein paar Minuten seiner wertvollen Lebenszeit dafür opfern, mit ihr zusammen verschiedene Supermarktrechnungen zu kontrollieren. Doch so oft er ihr auch schon versichert hatte, dass er ihr eh vertrauen würde und dass es ihn einen Scheiß interessierte, ob sie da ein paar Kröten für sich selbst einsteckte oder nicht, so oft hatte Pinid darauf bestanden, ihm ihre Ehrlichkeit zu beweisen. Abgesehen davon, dass es bei ihm ohnehin nichts zu klauen gab, vertraute er ihr voll und ganz. So kam es, dass Pinid der einzige Mensch war, der außer ihm selber einen Schlüssel für seine Wohnung hatte.
Umgekehrt mochte sie ihn, weil er ihr, ohne lang zu verhandeln, einfach immer einen ordentlichen Batzen Geld für ihre bescheidenen Putzdienste abdrückte, nie über ihre Arbeit meckerte und nicht lang herumdiskutierte, ob sie nicht dieses oder jenes anders machen könne. Obwohl seine Wohnung und auch seine Wäsche schon meist in besonders ekelhaftem Zustand waren, wie sie fand.
Frasther wiederum wusste wohl, dass er ihr viel zu viel bezahlte, doch solang die Hüttn sauber war, war ihm das schnurz. Das Einzige, was ihn ein bisschen nervte, war ihre übertriebene Aufdringlichkeit; er hatte ja nichts dagegen, dass sie ihm manchmal selbstgebackenen Kuchen oder ein Stück Curryhuhn vorbeibrachte, doch sie wollte ihn immer wieder auch zu Tee oder Kaffee einladen, um ihm dann endlos die Ohren vollzusülzen mit Geschichten, die ihm A) sauber wurscht waren und die ihn B) sowieso nichts angingen.
Doch da er ja kein Unmensch war, biss er eben gelegentlich in den sauren Apfel und lauschte ein Stündchen oder zwei ihrem Gelaber – offenbar würde das heute wieder der Fall sein, denn solange sie hier am Saubermachen war, hörte sie garantiert nicht auf, ihm alles Mögliche zu erzählen. Und sie würde noch ein Weilchen beschäftigt sein mit dem Chaos, das er in einer Woche angerichtet hatte.
„Soll ich ein' Tee machen fur uns? Habe gute P'isichtee…“
„Na, du kannst dir gern einen machen, aber ich trink' um diese Uhrzeit nur Hopfentee.”
Frasther parkte den Sechserträger neben seiner Pritsche, haute sich auf selbige drauf und griff nach einem Bier.
„Nich' gesund, immer Bia t'inken”, tadelte sie ihn. „Mag' du nich' lieber P'isichtee mit mi' t'inken?“
„Nee, Pfirsich ist mir jetzt zu süß – und vor allem muss ich nachdenken, da brauch' ich ein Bierchen dazu.“
„Wo'übe' mu't du nachdenke', F'ather? Ha't du nette F'au get'offen?“, plauderte Pinid fröhlich drauflos.
„Nein, es geht um einen Kumpel, der ein Problem hat…“
Pinid verzog das Gesicht. „Ah, imme' P'omblem, imme' P'omblem! Ich habe auch P'omblem: Deine Wohnung ist wiede’ Sau’tall, wie imme’! Ich weiß nich', wie du das kann't, alle' in nu' eine' Woche so d'eckig mache'! Sokapok!“
Frasther grinste; dieses lustige Wort benutzte sie oft, er vermutete, dass es in etwa „Kruzifix“ heißen könnte. Mit heiligem Ernst wühlte Pinid sich durch seinen Saustall, Bierflaschen schepperten, Wäschestücke flogen durch die Gegend, Abfall wurde vehement in Müllsäcke gestopft.
„Ich mache imme' saube' und eine Woche späte' komm' ich und sieht aus wie bei Höhlemensch!”, sagte sie mit gespielter Entrüstung.
Frasther räusperte sich: „Das heißt HöhleNmensch, Pinid…”
Pinid marschierte zum Kühlschrank, neben dem sie eine zusammengefaltete Milchpackung liegen hatte; es ertönte ein spitzer Schrei: „Diese Mil' abgelaufen! Stink' ganz fu'chtelich!“, tadelte sie ihn.
Frasther staunte nicht schlecht; dass er eine Packung Milch im Kühlschrank hatte, entzog sich seiner Kenntnis.
„Hättest das Ding halt einfach auf den Hof rausgeworfen…“
Pinid schüttelte energisch den Kopf. „F'ather! Schau diese D'eck an!“ Sie deutete auf zwei große schwarze Müllsäcke, die sie neben der Tür in Position gebracht hatte. „Warum ha’t du nicht Abfall gelee’t? Kübel ist übe'voll gek’ollen! Ich hab' Mullsacke gehol' und alles da 'ein getan!”, rief sie und folgte dabei mit ihren Augen der Flugbahn eines Insekts, das um den Müllberg herumkreiste.
„Naja, ist doch alles wie immer, ich bring' dann die Säcke weg…”
„Ja, die Säcke mu’t du t’agen, ich kann das nicht so schwer t’agen – das muss alles weg hie'.” Sie stemmte die Hände in die Hüften und fuhr mit der Gardinenpredigt fort: „Bei di' is' nur Pizzaschachtel, Bie'dose, Bie'flasche, Ve'packung von Wü'tel'tand… F’ather, du mu’t d'ingend ein F'au suche! Mann in deine Alter muss ein F'au haben, die sich um deine Haus kümme’t!” Sie grinste ihn kopfschüttelnd an.
„Na, wenn ich eine Alte hätt’, dann könntest du dir nicht nebenher was dazuverdienen, also sei lieber froh, dass ich keine hab'!”, versuchte Frasther die Situation mit einem Schmäh zu entschärfen, doch Pinid war bereits wieder in ihrem Element und laberte drauflos, gab Frasther allerlei Tipps, wohin er zu gehen hatte, um potentiell heiratswillige Frauen zu treffen und wie er eine solche für sich gewinnen konnte. Zum x-ten Mal empfahl sie ihm alte Freundinnen aus dem Gewerbe oder deren Töchter – alles saubere Frauen, die laut Pinids Aussage nur darauf warteten, dass ein Mann wie Frasther sie heiratete, um dann seine Kinder großzuziehen, seinen Dreck wegzuräumen und seine Wäsche zu waschen.
Bei diesem Thema streifte ihr Blick den vorsortierten Wäscheberg – vorsortiert nach Kriterien, die Frasther ein ewiges Rätsel bleiben würden – und sie begann ihm zu erklären, dass er sich ruhig mal einen Anzug leisten sollte; ein jeder Mann mache in einem Anzug ganz ordentlich was her, wenn es dann noch so ein stattlicher Kerl wäre, wie Frasther nun mal einer war, könnten sich die „Ladies“ sicher gar nicht mehr zurückhalten.
„Ein Anzug, soweit kommt's noch!“, murrte Frasther und nahm einen Schluck von seinem Bier.
„Einkauf'liste hab ich di' auch gesch'ieben“, wechselte Pinid das Thema und präsentierte ihm einen Zettel mit krakeligen Buchstaben drauf.
Frasther wusste aus Erfahrung, dass es knifflig sein konnte, ihre Einkaufslisten zu entziffern. Offenbar hatte man in Thailand andere Buchstaben und wenn Pinid mit der „Falang*-Schrift“, wie sie sie nannte, nicht mehr klarkam, dann half sie sich mit exotisch aussehenden Kritzeleien aus. Er parkte den Zettel auf seinem Fernsehtischchen, das Pinid bei ihrer Putzaktion von den leeren Flaschen und dem überquellenden Aschenbecher befreit hatte.
Da kam ihm auf einmal in den Sinn, dass das mit dem Abtransport des Mülls und dem Einkaufen wohl nix werden würde, denn sein Einsatzfahrzeug stand ihm ja gar nicht zur Verfügung. So ein Mist! Er hatte sich ja von Prag-Luis' Villa direkt nach Hause fahren lassen – und dabei ganz vergessen, dass sein Jeep noch auf dem Parkplatz von 'Charley's Kneipe' stand.
Beim Arsche des Propheten, ärgerte er sich, morgen musste er also erst mit dem Taxi zur Kneipe raus, bevor er sich um die Näherei, von der Bertl erzählt hatte, kümmern konnte.
„Ha't du noch Wäsche üb'ig zum Wechseln…“, setzte Pinid neugierig an, wurde jedoch von Krawall unterbrochen. Man hörte eine Nachbarstüre, die kräftig aufgeknallt wurde, Gepolter und Gezeter ertönte draußen auf dem Flur und etwas schepperte. Eine Weiberstimme keifte in den höchsten Tönen und ein Kerl versuchte die Alte in sehr defensivem Tonfall zu beruhigen.
Frasther stellte sein Bier ab und eilte zur Tür. Pinid kam ebenfalls herangetrippelt, zusammen blickten sie auf den Gang hinaus.
„Oh, das ist Nachba’ T'nich’be'ge’, hat wied’ St’eit mit F’au!”, konstatierte sie.
Einige Gegenstände kamen jetzt durch die halboffene Tür geflogen, eine Dose Rasierschaum, ein Schuh, ein paar zusammengeknüllte Klamotten. Dabei brüllte ein Weib die ganze Zeit in schrillster Stimmlage auf den Kerl ein, dessen abwiegelndes Gebrummel im Getöse beinahe unterging.
„Haut ihn die Alte wieder mal raus, den Znichtlberger? Dieses Weichei lässt sich ja auch alles gefallen von dem Trampel.”
Pinid, die den Kopf unter Frasthers Achsel hindurch zur Tür rausstreckte, blickte mit großen Augen zu ihm hoch, jedoch nur einen Augenblick lang. Dann krachte bei Znichtlbergers etwas Großes, Schweres von innen an die Tür. Frasther tippte auf einen Koffer, dessen Flugbahn die Schreckschraube nicht optimal berechnet hatte. Weiber waren dazu eben nicht so geeignet, denn etwas auf ein Ziel zu werfen war in etwa so, wie ein Auto rückwärts einzuparken. Dann schwang die Tür endlich ganz auf und man sah den Znichtlberger, einen mageren, harmlos und nicht besonders helle aussehenden Kerl Ende vierzig, wie er im Rückwärtsgang aus der Wohnung kam. Er hielt abwehrend die Hände erhoben und seine Alte, ein Schlachtschiff von einem Weib mit wildem, violett-schwarz gefärbtem Haarschopf und mächtigen, haarigen Betonstampfern, die unter einem abgetragen aussehenden Blümchenrock hervorschauten, walzte mit drohend erhobenem Zeigefinger hinter ihm her. Die Ziege meckerte untentwegt auf den armen Kerl ein, doch der Hall in dem großen alten Gemäuer machte es unmöglich, ihre Worte zu verstehen. Pinid kicherte und das Schlachtschiff hielt inne und sah zu ihnen herüber.
„Was geht euch das an, kümmert euch gefälligst um euren eigenen Dreck!”, fauchte sie herüber.
Pinid verzog sich augenblicklich wieder eingeschüchtert in Frasthers Wohnung.
„Mach mich bloß nicht deppert* an, du Elefantenkuh!“, brüllte Frasther zurück. „Selber schuld, wenn du hier so einen Aufstand machst! Dein Geschrei ist ja im ganzen Haus zu hören, da isses ja logisch, dass die Leute schauen!”
„Also, das ist ja wohl die Höhe! Wernfried, hast du gehört, wie der mich genannt hat?!?”
Znichtlberger blickte unsicher zu Frasther herüber und dann wieder zu seiner Alten.
„Ja, sagst du da gar nichts dazu?!?”, gellte sie ihren Gatten mit sich fast überschlagender Stimme an.
„Was soll er auch sagen, wenn er genau weiß, dass ich Recht hab'? Sei lieber froh, dass du den hast, jeder andere Kerl würde dir dreimal am Tag eine auflegen, damit's dir die Flausen austreibt!” Frasther machte einen Schritt raus aus der Tür und baute sich in Drohhaltung auf. Es wirkte, die Furie hielt ihre Schnauze, schaute noch einmal verunsichert herüber und verschwand dann wutschnaubend wieder in der Wohnung. Krachend fiel die Tür, vor dem immer noch verdattert dastehenden Znichtlberger mit seinem Koffer, ins Schloss.
„Mann, das kannst du dir doch nicht von dem Hausdrachen gefallen lassen, was ist nur los mit dir? Immerhin bringst du die Kohle nach Hause, damit sie den ganzen Tag vor der Glotze hocken und fressen kann!”, schnauzte nun auch Frasther seinen Nachbarn an.
Der Znichtlberger sah ihn resignierend an. „Wir sind schon fast zwanzig Jahre verheiratet…”
„Das sind zwanzig Jahre zuviel! Na, mir is' das wurscht, ich hab' zum Glück nicht so eine Scheiße am Hals!” Damit drehte er sich wieder um und folgte Pinid, die bereits deutliche Fortschritte im Kampf gegen die Vermüllung erzielt hatte.
„Arme’ Mann, ist imme’ so nett und f’eundlich, kann ga’ nicht ve’stehen, wa’um die F’au so böse mit ihm i’t!”, schüttelte sie den Kopf.
„Tja, jetzt hat sie ihn delongiert!“, brummte Frasther.
„Aba wa'um so böse, F'athe'? Wa'um so schimfen und sch'eien mit ihm?“
„Selber schuld, der Trottel. Der hätt' die gar nie aufkommen lassen dürfen“, sagte Frasther mitleidlos.
„F'ather, schau, du has' Einkauf'liste schon ve'schlamp'!“ Pinid wedelte mit dem Zettel, den sie auf dem Fernsehtischchen gefunden hatte, vor seiner Nase herum. Sie musste den Arm fast durchstrecken, um überhaupt soweit raufzukommen, obwohl sie Schuhe mit Absätzen trug. Frasther nahm den Zettel entgegen und studierte ihre Schrift. Da stand doch original eine Position drauf, die „Fische ops und gemuse” hieß. Er musste unweigerlich grinsen – er war doch kein Karnickel! Aber er sagte nichts, sondern legte den Zettel sorgsam auf das Tischchen vor seiner Pritsche.
„Und du nimm’t lee' F'aschen auch mit wenn du einkaufen geh't. Hab' ich di' in Tasche he'ge'ichtet!“ Pinid präsentierte ihm zwei seiner alten Sporttaschen, die bis zum Anschlag mit leeren Bier- und sonstigen Spritflaschen gefüllt waren.
„Na, super, dann kann ich morgen alles auf einmal entsorgen – hast du Klasse gemacht, Pinid…“ Er breitete sich wieder auf seiner Pritsche aus und griff zum Bier, während das zarte Persönchen mit verbissener Miene die schweren Taschen zu den Müllsäcken hinüberschleifte.
Dann hatte sie glücklicherweise ein Einsehen. „F'ather, ich bin mude und geh' jet' in mein' Wohnung 'übe', alle' ande'e mache ich mo'gen. Du da'f dein Kuhlsch'ank nich' einschalt', weil ich abtaue mache, okay?“
„Abtauen, wieso denn das?“, fragte Frasther erstaunt und bereute die Frage in dem Moment, als er sie gestellt hatte.
„Na fü' pu'zen! Is' soviel Ei' im Gef'ie'fach, kann nich' saube'machen bevo' is' abtauen! Aber kein So'ge habe alle' mit Handtuche' au'geleg', kann nich' passie'en – mo'gen nachmittag kann pu'ze, wenn du mit Einkauf nach Hause komm'! Und wenn du F'uhstuck essen mag', komm' du zu mi' 'übe, ich mache Lühlei mit f'ische K'äute' fü' dich!“
„Na, das klingt ja lecker…“
„Komm' du, wann du mag', ich mo'ge nix a'beite, ganze Tag zuhause. Wenn du um zwei Uh' nich' wach, Pinid komm' und putz' Kuhlsch'ank!“
„Da bin ich sicher wach, ich hab' morgen einiges vor; wir sehen uns dann beim Frühstück.“
Pinid schnappte sich ihre Putzsachen, verräumte sie in eine Ecke und ließ noch einmal den Blick über die für Frasthers Begriffe ohnehin blitzblanke Wohnung schweifen. „Du noch fe'nsehen, F'ather?“
„Na, wie gesagt, ich muss noch ein bisschen was nachdenken, hab' morgen einige Probleme zu lösen und die Post muss ich auch noch durchgeh'n…“
„Mag' du Massage?“
Sie meinte damit auch eine richtige Massage, nicht etwa irgendwelche Sonderleistungen; das konnte sie gut, er hatte sich schon öfter von ihr durchkneten lassen, aber heute war nicht der richtige Zeitpunkt für sowas.
„Äh, nein, danke, Pinid. Ich bin entspannt – brauch' nur ein Bier, um nachzudenken.“
„Gute Nach', F'ather! Mach' du Tu'e zu!“, lächelte Pinid und verschwand.
Die Türe zusperren, das war sicher nicht die schlechteste Idee. Ächzend schwang sich Frasther von der Couch und ließ das Sicherheitsschloss einschnappen. Jetzt hatte er endlich die Ruhe, um sich seine Post vorzunehmen. Als Erstes nahm er sich die Postkarte vor und ärgerte sich nicht schlecht über die Sauklaue darauf, die kaum zu entziffern war.
Nach einigen Mühen hatte er das Gekrakel jedoch decodiert: Der Futtlinger Hurbert grüßte ihn aus Costa Rica und pries den Rum und die Weiber, die es dort gab, in den höchsten Tönen. Zwischen den Zeilen kam durch, dass er sich nach seinem letzten gedrehten Ding unsichtbar machen musste und es ihn so dorthin verschlagen habe. Jetzt war ihm dort offenbar – trotz des Rums und der Weiber – langweilig und er forderte Frasther auf, ihm zu folgen und Gesellschaft zu leisten. Gemeinsam könnten sie dort sicher etwas auf die Beine stellen, meinte er, ging aber nicht näher darauf ein.
Frasther riss staunend das Aug' auf. Der Futtlinger Hurbert war also in der weiten Welt unterwegs, da schau einer an! Deshalb hatte er den Kerl schon so lang nicht mehr gesehen. Frasther erinnerte sich dunkel, dass er den Futtlinger zuletzt vor gut einem Jahr herumgeistern gesehen hatte, seitdem ward er nicht mehr gesehen. Der Hurbert war so ein Kerl, der immer aus der zweiten Reihe seine Dinger drehte, unauffällig im Hintergrund blieb und schaute, dass er nicht ins Schussfeld der großen Fische geriet. Hatte sich immer mit den schweren Jungs herumgetrieben, war um die Bosse herumgeschlichen, ohne sich je wirklich auf irgendwas einzulassen. Wie ein Schakal oder eine Hyäne beobachtete er, wenn die Raubtiere – also die wirklich schlimmen Jungs – Beute rissen und streifte dann solange um das Aas herum, bis er sich sicher wahr, dieses gefahrlos ausschlachten zu können. Frasther erinnerte sich, dass der Hurbert zuletzt immer was von einem „einzigartigen Coup, ein sogenanntes Ausgesorgt-Ding”, gelabert hatte. Na, offensichtlich hatte er das dann auch wirklich durchgezogen.
Aus seinem überstürzten Verschwinden schloss Frasther jedoch, dass vermutlich nicht alles so glatt abgelaufen war, wie sich der Hurbert das so vorgestellt hatte und deshalb hatte er sich dann schnell irgendwohin verziehen müssen. Hoffentlich schickte der Trottel nicht zu vielen Leuten Karten – das konnte ins Auge gehen, wenn man auf Tauchstation war. Aber dass Frasther jetzt extra nach Costa Rica fuhr – oder flog, überlegte er, denn mit dem Jeep käme er da wohl eher nicht so leicht hin – nur weil dem Hurbert so ganz allein da drüben fad im Schädel war, das kam sicher nicht in die Tüte.
Er riss den Umschlag von der Autowaschstraße auf. Fünf Münzen kullerten ihm entgegen. Er las sich nichts weiter von dem aufwändig gestalteten Prospekt durch, sondern zerriss das Ding und warf es in Richtung Mülleimer. Die Münzen steckte er ein; er wusste ja wo die Waschstraße war, das reichte an Information. Dann nahm er sich den blauen Brief vor, der aus der Justizvollzugsanstalt war. Da war er jetzt wirklich neugierig, wer ihm da schrieb. Das Kuvert enthielt ein weiteres Kuvert, in dem dann endlich der eigentliche Brief war.
Er las:
„Hallo Frasther. Ich bin’s, der Bumsti.
Die Schweine haben mich zu 18 Monate verknakt, weil ich meine Ex und ihren Stecher angeschlitzt hab. Ich denk, ich schreip dier mal. Weil mir is immer so fad hier. Dabei hab ich denen blos Angst machen wolen. Die Schweine. Ich hab denen pracktisch eh nix getan. Wie gehts dier imer so? Was treipst du so? Fest am herumhuren und am sauffen, oder? Genis du das Leben. Hier drin is nicht so schön. Schnaps brennen wir schon. aber der schmeckt nicht so gut. Meine Ex is schuld Frasther. Du kenst die Schlampe. Und der neue Stecher von ihr der ist auch so ein Arschloch. Der hat mich reingeriten ich sags dir. Imer wieder provizirt. Wiso komst du mich nicht mal besuchen. Das wäre echt super. Vileicht kanst du mir ein bischen Kohle leihen. Ich gebs dir fix zruück, wen ich wider drausen bin. Versprochen! Mir is imer so fad hier drin. Weil wir könen nicht jeden Tag Schnaps brenen. Das gericht hat mir kein Wort geglaupt. Mann. Der Richter war auch so ein Scheis Weib die hat dauern von Gewalt gegen Frauen und so gefaslt. Herr Krapfinger ihre forstrafen wegen Körperferletzung sprechen eine deuttliche Sprache hat sie gesagt. Kanst du dier das forstelen. Dabei hab ich eh blos 4. Hast du deinen Jeep noch. Mann würd ich jetz gern mit dir in der Kare über die Heiwehs glühen. Ich hab schon 8 Monate hinter mir. Aber ich krig keine Dritelstrafe und die Halbstrafe ist auch fraglich. Weil ich Forstrafen hab sagt mein Anwalt. Oh Mann der kostet mich auch eine Stange Geld. Tschicks wären gut. Wenn du mich besuchn kommst. Dann bring bitte Tschicks mit. Und ein wenig Geld wär auch super. Wenn du es mir leihen köntest. Ich mus dem Arschloch auch noch Schmerzensgeld zalen. So eine Frecheit. Der Doktor hat gesagt ich hab ihm ne Haupateriie derwischt. Der wär verblutet. Dabei wolt ich ihm nur Angst machen. Der hat mich browozirt. Gets dir gut Frasther? Heute abend brenen wir wider Schnaps. Man braucht Brotkrumen dazu. Aber das weist du ja eh. Also. Dann. Komm mich mal besuchen. du weist ja wie fad es hier ist. Halt die Ohren steiff.
Grüse aus dem Scheisloch. Bumsti.”
Frasther steckte sich einen Tschick an, runzelte ernst die Stirn und las den Brief gleich noch ein zweites Mal durch. Der Bumsti, das war ja ein Ding!
Prallwin Krapfinger, genannt Bumsti, kannte er schon seit Schulhofzeiten. Sie waren zwar nie wirklich Freunde geworden, hatten jedoch in all den Jahren auch nie Streit gehabt. Der Bumsti war mit seinem frechen Mundwerk, seinem großspurigen Auftreten und seiner speziellen Art, wegen Kleinigkeiten zu explodieren bereits zu Schulzeiten ein Parade-Rotzlöffel gewesen. So war er von den großen Jungs immer zumindest akzeptiert, wenn auch nicht respektiert worden. Und der Rest der Mitschüler – die Streber, Normalos und Nudlaugen* – hatten immer einen weiten Bogen um den Bumsti gemacht, um auch ja nicht Opfer einer seiner Streiche zu werden.
Zu seinem Pech war er von den körperlichen und auch den geistigen Voraussetzungen her eher im Nachteil gegenüber dem Durchschnitt gewesen, doch er hatte dies durch seinen bedingungslosen Einsatzwillen stets ausgeglichen. Sprich, wenn der Bumsti in der Nähre war, konnte man immer davon ausgehen, dass irgendwas am köcheln war – und wenn er nur bei der Sportstunde der Mädchen in deren Umkleidekabine eingestiegen und sämtliche Schlüpfer entwendet hatte, um sie danach für Tschicks an die Jungs zu verkaufen.
Frasther schmunzelte beim Gedanken an diese alten Heldentaten, doch er fragte sich, wie der Bumsti denn nur auf die Idee gekommen war, ausgerechnet ihm zu schreiben. Es musste ihm ziemlich dreckig gehen und die leicht unterbelichtete Clique, mit der er immer abgehangen war, hatte ihn vermutlich im Stich gelassen.
Er legte den Brief auf die Seite; noch war er sich nicht sicher, was er in dieser Angelegenheit unternehmen würde. Vermutlich würde er Bumstis Flehen erhören und ihn mal besuchen gehen. Immerhin kannte er die Situation, in der der Ärmste sich befand, aus eigener Erfahrung – und daher wusste er auch, dass einem im Knast JEDE, aber auch wirklich jede Abwechslung willkommen war.
Und dass er um Tschicks und Geld bettelte, verriet ihm, dass es dem Bumsti wohl nicht all zu gut ginge im Knast. Logisch, er war zu schwach um zu kämpfen und zu doof, um mit dem Schmäh durchzukommen. Ja, er würde ihn besuchen gehen und ihn ein wenig aufzurichten versuchen, beschloss Frasther und legte den Brief zur Seite.
Dann nahm er sich das Flugblatt vom neuen Irish Pub vor. 'Blackbeard’s Tavern' hieß das Ding, aber in Frasther kamen bei dem Namen eher Piraten- als Irland-Assoziationen hoch. Er las sich den Prospekt zur Gänze durch und was er las, gefiel ihm. Die Beiz schien speziell für Klientel wie ihn geschaffen zu sein – von über vierzig gschmackigen Biersorten war die Rede, von originalem irischen und schottischen Whiskey, von „delikaten, herzhaften Snacks für den großen und kleinen Hunger”, die mit appetitanregenden Bildern illustriert waren und von Turnier-Dartkästen; mit denen wurden angeblich regelmäßig Wettkämpfe ausgetragen und der Sieger durfte jeweils die ganze Nacht lang umsonst fressen und saufen. Dart war allerdings nie Frasthers bevorzugter Kneipensport gewesen, genausowenig wie Billard – er war mehr der Tischfußball- und Flippertyp.
Schließlich blieben nur noch die Anonymverfügung und die dazugehörenden Mahnungen übrig. Frasther riss der Reihe nach die Umschläge auf und zerknüllte gleich mal die Mahnungen, um sie dann im Stile eines Basketballspielers in Richtung Mülleimer zu werfen. Er schaffte zwei Drei-Punkte-Würfe, beim dritten Mal warf er jedoch zu lässig und das Papierknäuel sprang vom Rand des Mülleimers ab, um einen halben Meter weiter auf dem Boden herumzukullern. Mahnungen, das wusste er von vielen Strafzetteln, die er schon bekommen hatte, musste man nicht bezahlen, es sei denn, sie werden exekutiert.
Auf der Anonymverfügung selber stand schließlich nur der übliche lapidare Standard-Absatz von wegen „Sie haben im angeführten Bereich blala… die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h um 27 km/h überschritten blabla… Messtoleranz wurde zu Ihren Gunsten abgezogen.” Wie Frasther bereits vermutet hatte, handelte es sich um eine Geschwindigkeitsübertretung.
Unten angeführt Ort und Zeit des Vergehens; da es schon fast zwei Monate zurücklag, konnte er sich beim besten Willen nicht erinnern, was er um halb drei Uhr morgens in der Kronprinz-Suffinsky-Allee, die ja weitab vom Schuss war, verloren gehabt hatte. Auf jeden Fall wollte der Staat jetzt das erkleckliche Sümmchen von Zwohundertfuffzig Eiern bei ihm einkassieren, zahlbar bis vor sechs Wochen. Zwohundertfuffzig, dachte er sich, das wird auch jedes Jahr noch teurer.
Ärgerlich ging er zum Mülleimer und nahm die zusammengeknüllten Mahnungen wieder heraus. Natürlich griff er zuerst die beiden älteren Mahnungen, die ihm nichts nutzten. Er grunzte verärgert, als er zur dritten zusammengeknüllten Mahnung greifen musste, die zusammengeknüllt mitten auf dem Fußboden lag. Er peilte nach dem Datum und dann schritt er zu seinem Wandkalender, um den aktuellen Monat zu suchen. Soso, heute war also Donnerstag, der Vierte. Laut letzter Mahnung der zweitletzte Tag, an dem er die Strafe einzahlen konnte. Mist, auch das noch! Da würde er sich wohl oder übel drum kümmern müssen, ärgerte er sich.
Dann parkte er sich wieder auf der Pritsche, stellte den Fernseher an und griff nach seinem Bier. Er erwischte eine Nachrichtensendung. Der erste Teil war angefüllt vom üblichen Politiker-Gestreite, Einer warf dem anderen etwas vor, woraufhin der andere widerum jenes über einen ganz anderen behauptete… man sollte die ganze Saubande in einen Sack mit Steinen stecken und wie junge Katzen ersäufen, dachte Frasther säuerlich. Dann kam der internationale Teil: Die Amis und Israel drohten wieder mal den Iran, welcher sich ungerührt zeigte. Dasselbe Scheißspiel wie seit x Jahren.
In Afrika schlachteten sich wieder mal irgendwelche Ethnien gegenseitig ab – auch nix Neues, da unten krachte es ja mehr oder weniger regelmäßig. In England war ein Arbeitsloser Amok gelaufen und hatte in einer Bank fünf Angestellte erschossen und drei schwer verletzt, bevor ihn das Sondereinsatzkommando hatte zur Strecke bringen können. Frasther steckte sich grinsend einen Tschick an; der Kerl musste die Schnauze mächtig voll gehabt haben.
In Kolumbien war ein Streik von Minenarbeitern durch paramilitärische Einheiten blutig beendet worden und natürlich hatten sich auch im Gazastreifen und im Westjordanland wieder irgendwelche Fanatiker selbst in die Luft gejagt. Dass denen nicht irgendwann der Nachwuchs ausging, darüber wunderte Frasther sich schon seit langem. Selbstmordattentäter war ja nicht gerade ein Job, für den viele erfahrene Fachkräfte zur Verfügung gestanden wären, da brauchte man im wahrsten Sinne des Wortes dauernd frisches Blut.
Auch die amerikanische Botschaft in Albanien war von radikalen Islamisten gestürmt worden – im Fernseher flimmerten verwackelte Bilder, von einer Infrarot-Kamera aufgezeichnet. Zur Stunde wurde mit den Geiselnehmern verhandelt, die die Freilassung einiger ihrer Terroristen-Kumpels verlangten. Frasther schüttelte grinsend den Kopf; so lange er zurückdenken konnte, wurden überall auf der Welt Botschaften besetzt, Flugzeuge entführt und Geiseln genommen. Manchmal fragte er sich, ob das schon alles echt war oder ob die Medien das ganze Brimborium nicht einfach inszenierten, um etwas zum Senden zu haben.
Doch schon wurde auf das nächste Thema umgeschnitten: Im Mittelmeer waren drei gekenterte Boote mit Flüchtlingen aus Afrika von der Küstenwache aufgebracht worden, von vermutlich über zweihundert Leuten hatte man nur etwa zwanzig lebend aus der schweren See bergen können. Frasther schüttelte den Kopf: Warum bauten diese Trotteln nicht einfach mehr Boote, anstatt sich zu Hunderten auf solchen Nussschalen zusammenzuquetschen? Es könnte alles so einfach sein, wenn mehr Menschen ihr Hirn benutzen würden, so wie er.
Darüber grübelnd, schlief er auf seiner Pritsche ein.