Читать книгу Jedes Kind darf glücklich sein - Maren Hoff - Страница 17

Оглавление

DAS KLEINE IM GROSSEN – FAMILIE IN DER GESELLSCHAFT

Auch wenn es in diesem Buch um unseren kleinsten Kosmos geht, den Familienkosmos, so ist es doch wichtig, sich klarzumachen, dass alles, was im Kleinsten wirkt, auch im Großen, in diesem Fall unserer Gesellschaft, sichtbar ist. Wir leben in einer Gesellschaft, in der es seit 75 Jahren keinen Krieg gab. In anderen Teilen der Welt finden hingegen weiterhin Kriege statt. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren unsere Vorfahren katastrophalen Zuständen ausgesetzt, nachdem Deutschland schuldhaft zwei Weltkriege entfacht hatte. Mord, Verrohung, Tod, Denunziation, Folter, Verfolgung und Terror gingen mit diesen und so vielen anderen Kriegen einher. Geschichten von Schuld, Angst und Scham haben die Generationen vor uns geprägt. Verdrängung und Härte, Schmerz und Wut, Ohnmacht und Macht haben sich tief ins kollektive Gedächtnis eingebrannt. Doch mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren die Schrecken nicht vorüber: Trennung, Terror, Flucht, Bespitzelung, Berufsverbote, Atomkriegsgefahr. Auch die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten barg Probleme: Menschen, die so lange getrennt gewesen waren und so Unterschiedliches erlebt hatten, trafen mit der wirtschaftlichen Übernahme eines ganzen Staates und seiner Bevölkerung aufeinander. Massenarbeitslosigkeit und Verunsicherung aufgrund der globalen Herausforderungen beeinflussen unser Verhalten bis heute.

Andere Länder und Kontinente haben nicht minder schlimme Erfahrungen gemacht, teilweise sogar katastrophale Dinge erlebt, denken wir nur an den jahrhundertelangen Sklavenhandel, an Kastensysteme, Kolonialismus, Rassentrennung und Apartheid, Reservate, Unterdrückung, Militärdiktaturen, an das Verschwinden von Menschen, an Wirtschaftssanktionen, Finanzkrisen, Folter, Bürgerkriege, Atombomben.

Traumaexperten gehen davon aus, dass in einer Gesellschaft erlebtes Trauma häufig verdrängt wird, aus Unfähigkeit, mit dem Erlebten heilend umzugehen. Sie führen viele gesellschaftliche Probleme auf dieses jahrelange Verschweigen zurück. Gerade Menschen, die eine Traumaprägung weit von sich weisen, seien oft besonders stark traumatisiert.

Man kann von unserer Gesellschaft als einem Traumakollektiv sprechen, einer eher willkürlich zusammengefügten Gruppe von Individuen, die alle entweder selbst Traumen von Vernachlässigung, Gewalt und Unsicherheit durchgemacht haben oder in deren Familie erlebtes Trauma seine Spuren hinterlassen hat. Viele Menschen sind sich dieser Vergangenheit allerdings nicht bewusst oder wollen es nicht sein. Sie sind sozusagen traumablind. Um sich eines Traumas nicht bewusst sein zu müssen, entwickeln sie zahlreiche Überlebensstrategien. Das sind (unbewusste) Ablenkungsmanöver, die Scheinidentifikationen liefern, um sich nicht über die eigene authentische Identität klar zu werden. So definieren Menschen sich unter anderem über ihren Glauben, ihre Nationalität, ihren Job, ihren Besitz oder ihr Einkommen. Damit schaffen sie eine Distanz zu sich selbst und zu anderen. Indem ein Mensch Trauma bei sich negiert, also tut, als wäre es nicht vorhanden, kapselt er einen Teil seines Selbst ab – den Teil, der Schmerz und Mitgefühl empfinden kann. Er verhärtet im Inneren wie auch im Äußeren: gegenüber dem eigenen Leid und dem Leid anderer. Deshalb sind Opfer von Missbrauch so oft später selbst Täter oder finden sich in Situationen wieder, in denen ihnen aufs Neue Gewalt angetan wird.

Menschen, die verraten oder vernachlässigt worden sind, projizieren oft ihre gesamte Wut, die aus dem eigentlichen Schmerz resultiert, nach außen, auf Feindbilder. Das tut nicht so weh wie die Auseinandersetzung mit der eigenen schmerzvollen Geschichte und der eigenen tatsächlichen Identität.

In unserer Gesellschaft lernen wir leider nicht, dass eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit notwendig ist und weshalb das so ist. Gesellschaftspolitisch wundern wir uns nur über die Symptome, die dieser Abkapselungsstrategie folgen, ohne dass wir sie damit in Zusammenhang brächten: Burn-outs, Übergewicht, eine zunehmende Verrohung und andere Auswüchse. Wir diskutieren medial in breitem Maße über die Symptome, aber selten über eine nachhaltige Lösung der Ursachen. Dass wir uns hier mit über Jahrzehnte verschleppten Traumen auseinandersetzen müssen, fühlt sich sicherlich nach einer unbewältigbaren Herausforderung an. Und wir können sie schwerlich für andere übernehmen. Doch für uns selbst können und sollten wir das tun.

Unsere Geschichte prägt uns

Das Ausmaß, in dem uns die Geschichte und die unserer Vorfahren bis heute prägt, war uns lange Zeit nicht bewusst. Besonders unsere Eltern- und Großelterngeneration mit ihren Prägungen haben einen erheblichen Einfluss, auch auf unsere DNA. Sie können uns Krankheiten oder die Neigung zu Übergewicht vererben, eine geringere Stressresistenz mit der Gefahr von Burn-out oder Depressionen. Das ist keine Aufforderung, angesichts der Gräuel des letzten Jahrhunderts den Kopf in den Sand zu stecken. Das wäre übrigens genau die Reaktion, mit der die Nachkriegsgenerationen auf die Erfahrungen der Kriege reagiert haben.

Wir haben hier und jetzt die Chance, Licht ins Dunkel zu bringen und Wunden zu heilen, die wir nicht mehr weiter mit uns mittragen und auch nicht an unsere Kinder und an nachfolgende Generationen weitergeben wollen.

Wechselwirkungen

Das Größte beeinflusst das Kleinste – gesellschaftliche Entwicklungen wirken in die Familie und in jedes menschliche Leben hinein. Doch das Kleinste beeinflusst auch das Größte: Wenn wir uns im Hier und Jetzt bewusst darum bemühen, können wir eine Lösung bis in die Vergangenheit hinein bringen. So können wir individuell Verstrickungen lösen und langfristig zu kollektiven Veränderungen mit beitragen.

Jedes Kind darf glücklich sein

Подняться наверх