Читать книгу Jedes Kind darf glücklich sein - Maren Hoff - Страница 8

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WIE ALLES ANFING

Ich habe Hunger und will mich bewegen. Aber ich sitze in Thailand in einem Garten auf dem Boden, es ist morgens halb acht und wir haben zweieinhalb Stunden Yoga und Meditation hinter uns. Ich soll mich nicht bewegen. Es ist heiß. Ich frage mich, wann diese Morgensession endlich vorbei ist. Unser Lehrer sitzt vor uns und spricht, während ich gegen meine unendliche Müdigkeit ankämpfe. Was hat er gesagt? Ach so, wir sollen uns vorstellen, wir könnten uns selbst gegenübersitzen, unser Alter frei wählen, und dann sollen wir mit diesem jüngeren oder älteren Selbst kommunizieren.

Wie auch immer, denke ich. Ich mache alles, aber bitte gib mir bald Frühstück und eine Toilette. Es ist alles sehr schön hier, in diesem buddhistischen Kloster, weit weg von meinem normalen Leben, aber keiner hat mir gesagt, dass einfach still zu sitzen so wehtun kann. Statt der Erleuchtung beherrschen Hunger, Müdigkeit und Schmerzen meinen Tag. Außerdem fiese Gedanken über andere: Warum sitzt die Frau neben mir so still da und lächelt, als hätte sie gerade das Geheimnis des Lebens erkannt? So glücklich kann kein Mensch beim Meditieren aussehen. Das ist unmöglich! Ich sitze einigermaßen ruhig da und halte Konversation mit mir selbst – etwas, das ich recht gut kann und eigentlich hier nicht mehr tun wollte. Hier wollte ich doch die Stille in mir finden. Ich versuche, mich zu entscheiden: Soll ich mich lieber als Großmutter oder als 14-jährige Pubertierende einladen? Wer wird mir mehr helfen? Brauche ich jetzt Weisheit, und wenn ja, werde ich die als Großmutter überhaupt besitzen? Will ich diese bockige 14-Jährige vor mir sitzen haben? Lieber nicht. Gibt es denn keine kluge Version von mir, die mich mal beruhigen kann? Ich diskutiere noch mit mir selbst, als sich plötzlich mein Ich als Sechsjährige vor mich setzt und mich anlächelt. Ich stöhne innerlich auf. Ich im Alter von sechs Jahren, das ist eine happige Angelegenheit und bestimmt nichts für diese kleine Fünf-Minuten-Meditation. Geh weg, sage ich ihr. Ich habe jetzt keine Zeit für dich. Das machen wir bitte ein andermal … oder besser nie.

Als ich sechs war, ist mein Bruder gestorben.

Die Welt aus der Sicht einer Sechsjährigen

In der Zukunft meiner Sechsjährigen, also in meiner gesamten Vergangenheit, werden wir nie wieder über ihn sprechen, es werden keine Geschichten über ihn erzählt, keine Bilder aufgehängt. Er wird aus der Familiengeschichte radiert, als hätte er nie existiert. Niemand wird meine Sechsjährige jemals fragen, wie es ihr ohne ihren Bruder geht. Sie ist ziemlich allein. Ich sehe sie an und fange an zu weinen. Es tut mir so leid, dass sie so allein ist. Dass niemand sie beschützen konnte. Allerdings sieht sie keineswegs traurig aus. Im Gegenteil. Ich wische mir die Tränen von den Wangen und sehe sie mir etwas genauer an. Sie schaut aus ihren klaren braunen Augen zurück und lächelt – ich kann es nicht anders sagen – verschmitzt. Wieso weint sie nicht? Wieso guckt sie mich so kess an, so gar nicht traurig? Fröhlich streckt sie mir ihre Händchen entgegen. Es ist nur eine ganz kleine Geste. Liebevoll, intim und natürlich. Durch diese kleine Geste verstehe ich etwas auf ganz einfache Weise: Meine Kleine war immer sicher. Das ist es, was ich in ihrem Blick lesen kann: »Mach dir keine Sorgen. Ich war immer schon sicher. Ja, das ist alles nicht schön, ich vermisse Jens, und meine Eltern sind nicht da. Aber ich bin hier. Ich sorge für mich, ich bin lebendig. Ich bin immer sicher.«

Selbst in den ärgsten Augenblicken war sie stets behütet. Bei sich selbst. In ihrem Lächeln liegt keine Traurigkeit, keine Angst, keine Einsamkeit. Weil das nicht wirklich wahr war. Weil es nur manchmal wahr war. Aber eben nicht die ganze Zeit. Meine Kleine war traurig. Und sie war fröhlich. Meine Kleine war allein. Und sie wurde liebevoll im Arm gehalten.

In ihrem Lächeln jetzt – also irgendwie offensichtlich in meinem – liegt einfach eine tiefe Gewissheit der eigenen Herzkraft und eines In-sich-selbst-geborgen-Seins. Das ist es, was sie mir sagt, bei 30 Grad, an einem Morgen irgendwo im Nirgendwo von Thailand, ganz ohne Worte: »Ich bin in mir selbst geborgen. War ich immer. Werde ich immer sein.«

In diesem Augenblick fällt in meinem Herzen ein Stein in einen tiefen See bis zum Grund und findet endlich seinen Platz. Die Wellen, die er auslöst, werden noch lange nachschwingen. Die anderen haben an diesem Morgen eine Frau gesehen, die sehr still und aufrecht saß. Und lächelte, als hätte sie das Geheimnis des Lebens erkannt. Vielleicht dachten sie sich: Das ist nicht möglich. Ist es aber. Es ist möglich.

Welche Geschichte will ich mir erzählen?

Als ich damals in Thailand auf dem Boden saß und endlich verstand, dass ich sogar als Kind sicher gewesen war, löste sich ein dicker Knoten in mir, von dem ich nicht einmal gewusst hatte, dass er existierte. Wir kennen das: Eine Last, die auf uns lag, spüren wir erst so richtig, wenn sie von uns abfällt. Mir war klar, dass meine Sechsjährige viel hatte wegstecken müssen. Nicht, dass ich mich nicht schon vorher damit beschäftigt hätte. Nur war ich jedes Mal wieder in der Traurigkeit angekommen. Ich war Expertin darin geworden, rational zu erfassen, was damals schiefgelaufen war. Und ich hatte die Schuld dafür verschiedenen Menschen in die Schuhe geschoben. Nur: Für mein Leben hat es nicht wirklich etwas gebracht. Zwar verstand ich jetzt meine Muster, lebte sie jedoch weiterhin fröhlich aus. Ich wusste einfach nicht, was ich hätte anders machen sollen. Bis zu jenem Moment, als die ganze Geschichte, die ich mir in all den Jahren über mich selbst erzählt hatte, einfach in sich zusammenfiel. Auf einmal verstand ich, dass ich mir viele Jahre lang eine Geschichte über mich selbst erzählt hatte und mir mit dieser Geschichte meine Identität aufgebaut hatte. Das ist völlig normal, die meisten Menschen tun es, ob unbewusst oder bewusst. Wir formen unsere Identität durch unser Erleben, durch unsere Erinnerungen, durch die Umgebung, in die wir hineingeboren wurden, durch das, was man über uns sagt. Jetzt wurde mir mit einem Mal klar: Ich hatte die Wahl, die Geschichte meiner Kindheit als Geschichte mit oder ohne Happy End zu erzählen. Was damals geschehen war, konnte ich zwar nicht rückgängig machen, aber ich konnte mich entscheiden, welche Geschichte ich mir selbst weitererzählen wollte: die von dem Kind, das alleingelassen worden war. Oder die von dem Kind, das immer aufs Beste versorgt war.

Jedes Kind darf glücklich sein

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