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2.2 Nationalismen in Indien in der Zwischenkriegszeit

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Seit den 1870er/1880er Jahren hatten sich indische Intellektuelle und Politiker intensiv mit dem Thema Nationalismus beschäftigt und dabei diskutiert, inwieweit Indien bereits eine Nation sei und wie ein (zukünftiger) indischer Nationalstaat aussehen könne.29 Die Auseinandersetzung mit dem Charakter und den Grenzen der indischen Nation bzw. eine Vorstellung von diesen bildete dabei eine wichtige Voraussetzung für das Argument nationaler Selbstbestimmung. Dieses legitimierte nicht nur indische Forderungen nach Erlangung der Unabhängigkeit, sondern wies auch gleichzeitig jegliche Unterstützung Europas auf dem Weg zur ‚Moderne‘ zurück. Die Auseinandersetzung um konkurrierende Entwürfe nationaler Identität ging oftmals auch mit einem Ringen um politische Hegemonie einher.30 Eine Frage, die in den kontroversen Debatten um die indische Nation wiederholt auftauchte, ist die Frage nach ihrer Geschichte. Dabei standen sich primordiale Ursprungserzählungen und modernistische Vorstellungen, die an ihre Konstruktion unter modernen Bedingungen glaubten, gegenüber. Der erste Diskursstrang, der die historisch gewachsene innere Einheit Indiens betonte, war in Indien weit verbreitet und ließ sich in den Aussagen aller politischen Richtungen finden.31

Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges trat die indische Nationalbewegung in eine neue Phase ein. Der INC, der als moderates Vorhaben einer männlichen Hindu-Elite begonnen hatte, nutzte in den 1920er und 1930er Jahren zunehmend Techniken zur Mobilisierung der Massen und hoffte somit Bauern und Arbeiter, Muslime bzw. auch Frauen für die nationale Sache gewinnen zu können.32 Die zwei Jahrzehnte zwischen den Weltkriegen waren innenpolitisch von dem Ringen um mehr politische Zugeständnisse an die indische Bevölkerung gekennzeichnet. 1919 erließ die britische Kolonialregierung einen Government of India Act, auch als Montagu-Chelmsford-Reform bekannt, der die indischen Bemühungen im Krieg belohnen sollte. Das Gesetz enthielt erste Schritte in Richtung Selbstregierung.33 Seine konkrete Bestimmungen befriedigten jedoch keineswegs die nationalistischen Ambitionen, da die britischen Konzessionen den indischen Forderungen nach Home Rule (Selbstregierung hinsichtlich interner Angelegenheiten) oder völliger Selbstbestimmung nicht weit genug entgegenkamen. Die Enttäuschung über die Montagu-Chelmsford Reform war nur einer der Gründe, der zur Kampagne der Nicht-Zusammenarbeit (Non-Cooperation) führte. Mahatma Gandhi initiierte 1920 diese Non-Cooperation, die darauf abzielte, Indien mit gewaltfreien Methoden von der britischen Herrschaft zu befreien.34 Zu diesen Methoden gehörte die Rückgabe von Titeln, der Boykott von Schulen, Gerichtshöfen und Gemeinderäten, der Boykott ausländischer Produkte sowie die Unterstützung einheimischer Waren (khadi) und nationaler Schulen. Darüber hinaus zielte die Bewegung auf eine Vergrößerung der Mitgliederzahlen des INC, Freiwilligenverbände wurden aufgestellt und Demonstrationen und Hartals (Proteststreiks) durchgeführt.35 Die Non-Cooperation-Bewegung wurde von Gandhi im Februar 1922 nach dem Chauri Chaura-Vorfall abgebrochen und die Jahre bis 1927 sahen den Niedergang und die Fragmentierung der Nationalbewegung.36 Dies änderte sich mit der 1927 ernannten Simon Comission, die Vorschläge zur konstitutionellen Entwicklung Indiens unterbreiten sollte. Die Kommission, deren Mitglieder alle ‚weiß‘ waren, entfachte nicht nur Proteste, sondern führte auch zu dem Versuch, eine indische Verfassung zu entwerfen, die von den verschiedenen politischen Kräften anerkannt würde. Im Dezember 1928 verabschiedete der INC auf seiner Jahrestagung die Forderung nach völliger Unabhängigkeit (purna swaraj) innerhalb eines Jahres. Nach Verstreichen der Jahresfrist, die keine ausreichenden Zugeständnisse von britischer Seite sah, initiierte Gandhi eine zweite Massenkampagne. Die Bewegung des zivilen Ungehorsams (Civil Disobedience Movement) forderte nach anfänglichen Erfolgen, wie dem Gandhi-Irwin-Pakt, eine massive Gegenoffensive von britischer Seite heraus, die die Nationalbewegung 1933 und 1934 lahmlegte. Nach der Verabschiedung eines neuen Government of India Act im Jahr 1935, der weitere konstitutionelle Zugeständnisse brachte, allerdings nicht die erhoffte Unabhängigkeit, wurden 1937 Wahlen auf Provinzebene durchgeführt, in welchen der INC große Erfolge feierte. Er stellte in sieben von elf Provinzen die Regierung, was der Partei zum ersten Mal reale politische Macht, wenn auch nur in beschränktem Maße, einbrachte.37

Während der INC in der Zwischenkriegszeit eine wichtige Rolle im indischen Unabhängigkeitskampf einnahm, entstanden in den 1920er Jahren eine ganze Reihe neuer politischer Kräfte, die Einfluss auf die Nationalbewegung nahmen. Neben Stammes-, Kasten-, Arbeiter- und Bauernbewegungen, formierten sich die indischen Kommunisten. Auch ‚kommunalistische‘ Parteien, wie die Muslim League und die HMS rangen um Einfluss. Neben dem ‚Mainstream‘-Nationalismus der Nationalbewegung wurden alternative, auf (religiöse) Gemeinschaften gerichtete Mobilisierungen nun wichtiger.38 Die All India Hindu Mahasabha war 1915 mit dem Hintergrund gegründet wurden, die soziopolitischen Interessen der Hindus zu verteidigen. Ursprünglich betrieb sie Lobbyarbeit im INC und versuchte hier muslimischen Forderungen nach mehr politischer Partizipation entgegenzuwirken. In den 1920er Jahren verstärkte sich die hindunationalistische Ausrichtung der HMS, unter anderem durch die Stigmatisierung der ‚bedrohlichen Anderen‘ (vor allem Muslime). Obgleich die Partei nie große Wahlerfolge in der Zwischenkriegszeit verzeichnen konnte, spielte die HMS und vor allem ihr Präsident V. D. Savarkar eine wichtige Rolle in Hinblick auf die Ausformulierung eines ‚Hindu‘-Nationalismus.39

Vor dem Hintergrund der Konkurrenz verschiedener Nationalismen erhielt die Frage nach nationaler Einheit im INC in der Zwischenkriegszeit erneut Auftrieb. Sie wurde zum entscheidenden Kriterium, den Anspruch des INC, die gesamte indische Nation gegenüber der britischen Kolonialmacht zu repräsentieren, umsetzen zu können.40 Wie Partha Chatterjee am Beispiel von Mahatma Gandhi und Jawaharlal Nehru gezeigt hat, verfolgte die Führung der Unabhängigkeitsbewegung ein politisch-ideologisches Programm, mit dem die größtmögliche nationale Allianz geschaffen werden konnte. Dazu gehörte auch die breite Mobilisierung der Bevölkerung, insbesondere der Bauern für die „passive Revolution“, die auf die Gründung eines unabhängigen politischen Nationalstaates zielte.41 Sumit Sarkar sagt in diesem Zusammenhang, dass, obgleich der indische Nationalismus in den Jahren von 1927 bis 1937 große Fortschritte machte, er von vielen Widersprüchen gekennzeichnet war. So bemühte sich der INC um Konsolidierung und Ausbau seiner Organisation, was eine Assimilierung und gleichzeitige Zügelung radikalerer Elemente der Unterschichten mit sich brachte. Darüber hinaus weckte der INC Erwartungen, die er nicht erfüllen konnte, was unter den an Einfluss gewinnenden linken Kräften zu Enttäuschungen und innerhalb des Kongress zu Konfrontationen zwischen dem rechten und dem linken Flügel führte.42

Im INC war die Vorstellung einer primordialen Einheit der Nation verbreitet. Dies schloss jedoch keineswegs die Notwendigkeit der weiteren Entwicklung der Nation aus. So begriff bspw. Nehru Indien, obgleich er auf die historischen Dimensionen der nationalen Einheit verwies, vor allem als eine „nation in the making“.43 Nehru hielt es für dringend erforderlich, die indische Nation umfassend zu modernisieren. Dabei glaubte er nur durch die Befolgung eines säkularen und rationalen Ansatzes die Massen für das politische Ziel, für das Erreichen der Unabhängigkeit, mobilisieren zu können.44 Im Gegensatz zu Gandhi45 vertrat Nehru eher ein säkular-territoriales Nationenkonzept. Obgleich dieses nicht auf Religion oder kultureller Einheit gegründet sein sollte und sich Nehru kritisch gegenüber Gandhis Gebrauch hinduistischer Symbolik äußerte, beschrieb auch er in seiner „Discovery of India“ die indische Einheit als vorrangig hinduistisch geprägt.46 Die Hindunationalisten wiesen dagegen nicht nur den Anspruch des INC zurück, die indische Nation zu repräsentieren, sondern entwickelten auch ein konkurrierendes Nationenmodell. Dieses schloss z.B. für Vinayak D. Savarkar ausschließlich die Hindus und dazu zählte er im weiteren Sinne auch Buddhisten, Jains und Sikhs, nicht jedoch die in Indien lebenden Muslime oder Christen ein.47 Die indischen Debatten um die Nation, um Zugehörigkeiten, aber auch um die Form des zukünftigen Nationalstaates erhielten in Auseinandersetzung mit dem Faschismus neue Impulse, wie im Folgenden näher gezeigt werden soll.

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