Читать книгу EspressoProsa. Klein. Stark. (Manchmal) schwarz. - Markus Walther - Страница 10
Das Lexikon
ОглавлениеDas Buchgeschäft am Ende der Straße hatte einen besonders guten Ruf. Reginald, der Inhaber des Ladens, war weit über die Stadtgrenzen dafür bekannt, dass er anscheinend alle guten Bücher inhaltlich kannte, sie auch anbot oder zumindest beschaffen konnte. Egal ob Roman, Sachbuch oder Biografie: Reginald wusste immer Bescheid.
Paul war einer seiner Stammkunden. Mindestens einmal die Woche schaute er vorbei, stöberte in den Auslagen und Verkaufsregalen oder diskutierte mit Reginald die neuesten Rezensionen in der Tagespresse.
„Hallo Reginald“, sagte Paul, als er an einem Dezemberabend wieder einmal den Laden betrat.
„Grüß‘ dich, Paul.“ Reginald kramte gerade kopfüber in einer großen Holzkiste, die mitten im Laden stand. „Schön, dass du vorbeischaust. Ich habe gerade eine Warensendung bekommen. Sachbücher von einem neuen Verlag.“
„Neuer Verlag?“
„Ausnahmsweise kenne ich nicht ein Stück des Verlagsprogramms. Aber die Buchtitel haben mich neugierig gemacht.“ Reginalds Kopf hob sich aus der Kiste und lächelnd blickte er Paul an. „Außerdem habe ich schon ein halbes Dutzend Vorbestellungen für einen Titel aus dem Sortiment. Scheint ein echter Geheimtipp zu sein. Ein Exemplar wird in der nächsten Viertelstunde abgeholt.“
„Ein halbes Dutzend Vorbestellungen für ein Buch aus einem unbekannten Verlag?“ Paul pfiff erstaunt. „Das nenne ich mal ein gutes Debüt. Neue Verlagshäuser sollen es doch so schwer haben.“
Reginald langte in die Kiste und zog ein Buch heraus. Es war ein dickes Hardcover, eingeschweißt in Folie. Das Titelbild war sachlich schlicht. Es zeigte nur ein stilisiertes Herz auf dem die Silhouette einer Fledermaus zu erahnen war. Die Überschrift lautete: „Medizinisches Lexikon für Vampire“
„Wow“, sagte Paul, „du bist dir wirklich sicher, dass dies ein Sachbuch ist?“
„Wir können ja mal reinschau’n. Ich wollte sowieso wissen, was ich da verkaufe.“
Also setzten sie sich hinter den Kassenbereich, entfernten die Folie und schlugen das Inhaltsverzeichnis auf. Mit jedem Wort, mit jedem Satz und mit jeder Zeile veränderte sich der Gesichtsausdruck der beiden Leser. Zunächst waren sie erstaunt, dann irritiert. Später amüsiert. Und zum Schluss vollkommen perplex. Sie lasen von Ratschlägen zu Knoblauch-Unverträglichkeiten, Behandlungsmöglichkeiten von Blutarmut, Sonnenallergien und ihren Folgen. Außerdem wurde ausgiebig die Versorgung bei Verletzungen durch Holzsplitter besprochen und Erste Hilfe bei fehlplazierten Pflöcken erklärt. Der Vermeidung von Silberschocks und der Verwendung von Nickelersatz hatte der Autor eine ebenso umfangreiche Abhandlung gewidmet, wie dem Thema Staublunge durch zu häufige Aschetransformation. Ein Kapitel speziell zu Fledermauskrankheiten durfte anscheinend auch nicht fehlen.
Der strenge, wissenschaftliche Ton verunsicherte Paul. Er legte das Lexikon zur Seite. „Das ist doch ein Scherz, … oder?“
Reginald nickte langsam. „Ja, natürlich. Ich meine, das muss ein Scherz sein. Niemand kann …“
In diesem Augenblick bimmelte das Glöckchen an der Tür. Ein kleiner Mann hatte den Raum betreten. Gekleidet in einen langen schwarzen Mantel stand er plötzlich vor dem Tresen.
„Ah“, sagte er, „endlif. Ich fehe das Buch ift eingetroffen. Meine Vorbeftellung, bitte. Jetzt kann ich endlif waf gegen meinen Überbiff tun.“