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Zeitlos

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Es war Donnerstag. Düstere Gewitterwolken schoben sich über die Stadt. Windböen zerrten an den Sonnenschirmen des nahen Cafés, vereinzelte schwere Tropfen klopften bereits auf die Scheiben der parkenden Autos. Alles in allem war dies kein Wetter für einen Spaziergang.

Henrik scherte sich nicht darum. Es war sein erster freier Tag seit Wochen. Der Notdienst als Elektriker hatte ihm selbst an den vergangenen Wochenenden viel Arbeit beschert. Heute musste sein Personal einfach mal ohne ihn klarkommen.

Ein Kuriositätenladen am unteren Ende der Straße hatte am letzten Montag seine Pforten geöffnet. Es war ein kleines Geschäft, mit einer rotweiß gestreiften Markise und einem eigenwillig dekorierten Schaufenster. Henrik hatte keine Ahnung, warum ihn der Laden interessierte, doch er hatte sich fest vorgenommen, dort ein wenig zu stöbern.

Er trat ein. Muffig und schlecht beleuchtet präsentierte sich der Verkaufsraum. Henrik fragte sich, wie es möglich war, dass über allen Exponaten eine dünne Staubschicht lag, obwohl die Sachen erst seit drei Tagen in den Regalen lagen.

„Kann ich Ihnen weiterhelfen?“ Der Verkäufer passte nicht ganz in das Bild. Er war jung, freundlich und gut gekleidet. Henrik hatte eigentlich das absolute Gegenteil erwartet. „Schauen Sie nach etwas Bestimmtem oder stöbern Sie nur? Ich könnte Ihnen ein paar Raritäten aus dem Ersten Weltkrieg zeigen. Oder lieber Antiquitäten aus der Renaissance?“

„Radios.“

„Wie bitte?“

„Ich suche antiquierte Radios“, sagte Henrik.

Der Verkäufer legte seine überraschte Haltung sofort wieder ab. „Natürlich“, antwortete er, „wenn Sie mir bitte folgen würden …“

Als sie einen Nebenraum betraten, schnappte Henrik erstaunt nach Luft. An der gegenüberliegenden Wand standen ein halbes Dutzend Volksempfänger. Hochglänzend wirkten sie fabrikneu. Irgendwie wusste Henrik, dass dem nicht so war. Dazwischen hing ein Bilderrahmen. Henrik trat näher, um die Überschrift des darin befindlichen Dokuments zu lesen. „DRP-Patent Nr. 261 604 für die ‚Rückkopplung zur Erzeugung von Schwingungen‘, 1913“, entzifferte er. „Ist das das Original?“

„Selbstverständlich“, sagte der Verkäufer mit einem unverbindlichen Lächeln.

Die Wände links und rechts verschwanden hinter Regalschränken, die bis unter die Decke reichten. In ihren Fächern waren unzählige Radios aller Größen und Epochen aufgereiht.

Henriks Sammlerherz war geweckt. „Darf ich mich hier ein wenig umsehen?“

„Natürlich“, sagte der Verkäufer. „Fühlen Sie sich wie Zuhause.“

„Das werde ich“, versicherte Henrik, der an seinen Hobbyraum im Keller dachte.

Schon bald hatte er die Zeit vergessen, bestaunte CB-Empfänger, Röhrenradios und Kofferradios, während der Verkäufer im Türrahmen stand und geduldig zusah. Da waren auch alte Wattmeter, Isolationsmesser, Wobbelfunktionsgeneratoren und andere Messgeräte aus vergangenen Zeiten. Die wunderbaren Holzgehäuse ließen ihn in Erinnerungen schwelgen.

Plötzlich hielt Henrik inne. Zwischen einigen billigen Ghettoblastern fand er einen kleinen silbernen Würfel. An der einen Seite befand sich ein roter Knopf, an der anderen Seite eine kleine Drehscheibe.

„Was ist das?“, fragte Henrik und griff nach dem Würfel, der überraschend schwer in seiner Hand lag.

Der Verkäufer zuckte mit den Schultern. „Das ist ein Zeitstopper. Gehört eigentlich nicht hierher.“

Henriks Zeigefinger glitt spielerisch über den kleinen Regler.

„Bitte seien Sie vorsichtig!“, empfahl der Verkäufer. „Das Gerät ist kein Spielzeug.“ Dann machte er eine kurze Pause, bevor er langsam weitersprach. „Es war im Besitz eines unbedeutenden Magiers, der damit gerne mal die Zeit anhielt, um Verschwindezauber vorzugaukeln. Später durfte ich es ihm abkaufen. Leider war es zu diesem Zeitpunkt defekt.

Trotzdem fand sich dafür ein Abnehmer. Erst vorgestern habe ich es an einen Passanten verkauft, der tatsächlich in der Lage war, es zu reparieren. Aber ich vermute, dass er nicht zufrieden war, denn gestern kam ein alter Mann und hat mir den Zeitstopper in leicht modifizierter Form zurückgebracht. Ich hatte es kaum wieder im Verkaufsraum platziert, da hat es mir ein junger Herr abgekauft. Er wollte damit die Zeit ‚scrätschen‘. Keine Ahnung, was er damit meinte. Aber wie die jungen Leute nun mal sind, hat er mir das Gerät heute wiedergebracht. Garantie und so. Jetzt ist es wieder kaputt.“

Ungläubig hörte Henrik zu. Er fühlte sich nach Strich und Faden verarscht. „Diese Story soll ich Ihnen abkaufen?“

„Ich kann Ihnen den Hergang nicht beweisen, wenn Sie das meinen. Wie ich schon sagte: Der Zeitstopper ist kaputt. Ich habe keine Ahnung von elektrischen Geräten. Ich werde es wohl zum Schrott bringen müssen.“

„Ich hab etwas Ahnung von Kabeln“, untertrieb Henrik. „Soll ich mal einen Blick darauf werfen?“

Der Verkäufer strahlte. „Gerne. Aber seien Sie vorsichtig.“

Henrik öffnete die Unterseite und betrachtete das Innenleben. Einige Platinen und Kabel. So etwas wie ein winziges mechanisches Uhrwerk und allerhand … Zeugs.

„Da sind zwei Steckverbindungen lose“, diagnostizierte Henrik nach einer Weile. Ein rotes und ein blaues Kabel und zwei nicht farblich gekennzeichnete Verbindungsstellen. Eigentlich hätte er zugeben müssen, dass er keinen blassen Schimmer von der Apparatur in seiner Hand hatte. Aber als Handwerker vermied er dieses Eingeständnis – wie immer.

„Es gibt nur zwei Möglichkeiten. Ich probiere zunächst die eine Polung und dann …“

Henrik erstarrte in der Bewegung.

„Ich vermute“, sagte der Verkäufer, „die andere Polung wäre die richtige gewesen.“ Er tippte Henrik vorsichtig an. Hart wie Fels. „Sie haben nicht die Zeit ihrer Umwelt gestoppt. Es ist ihre eigene Zeit, die angehalten wurde.“

Der Verkäufer kratzte sich kurz am Kinn. Peinliche Sache.

Vielleicht konnte er sein neues Exponat unauffällig als Prospekthalter verwenden.

EspressoProsa. Klein. Stark. (Manchmal) schwarz.

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