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Verlockung

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Das ungeschriebene Gesetz, dass Märchen mit „Es war einmal …“ beginnen müssen, wurde schon seit vielen Jahren gebrochen. Man sprach auch nicht mehr von Märchen, denn das klang zu sehr nach Geschichten für kleine Kinder. Fantasy war das Schlagwort.

Ich muss es wissen, denn die Bücherregale in meinem Arbeitszimmer biegen sich unter dem Gewicht der Fantastischen Literatur.

Es war schon immer faszinierend für mich in diese rational nicht denkbaren Welten abzutauchen. Auch wenn mir bislang immer bewusst war, dass ich mich den Hirngespinsten anderer ergab. Ich muss ja nicht daran glauben, um mich daran zu ergötzen. Trotzdem wurde ich im Gespräch mit anderen oftmals als Träumer verschrien, wenn ich von meiner Leidenschaft für Elfen und Zwerge erzählte.

Heute Morgen bin ich bei einem meiner vielen Spaziergänge im Wald auf einen interessanten Felsblock gestoßen. Weitab vom Wanderweg fand ich ihn während eines Querfeldein-Marsches hinter einem kleinen Hügel.

Er war fast quadratisch und auf der moosbewachsenen Ostseite erkannte ich ein mir unbekanntes Schriftzeichen. Es war sehr kunstfertig in den Stein eingemeißelt. Wahrscheinlich bin ich durch meine Lektüre sehr sensibel für solche Interpretationen, aber ich konnte mir auf Anhieb gut vorstellen, dass dies eine Rune war.

Bald darauf fand ich, keine zwanzig Schritte entfernt, einen zweiten Felsblock, auf dem eine weitere Rune zu entziffern war. Etwas weiter hinten lag ein dritter. Augenscheinlich bildeten sie ein Dreieck mit drei gleich langen Seiten. Das konnte kein Zufall sein.

Als ich den dritten Fels untersuchte, stellte ich fest, dass ihn jemand umgestoßen hatte. Die Rune lag gut verborgen im Laub. Einem Impuls folgend, richtete ich den Stein wieder auf und fast augenblicklich geschah es: Drei purpurne Lichtbögen entsprangen aus dem Boden, die Steine bildeten ihre leuchtenden Sockel. In ihrer Mitte presste sich dichter Nebel aus dem toten Laub hervor und trübte die Sicht.

Jetzt sitze ich immer noch vor diesem Tor in eine andere Welt. Auf meinem Schoß liegt mein Notizbuch, in das ich diese Zeilen schreibe. Die stille Aufforderung der Runen durchdringt mich und fordert mich tief in meinem Innern beständig auf, endlich diesen Weg zu beschreiten.

Ich kenne die Geschichten, die mit „Es war einmal …“ beginnen. Die Gesetze des Märchens gebieten mir jetzt schon, was geschehen wird: Hinter dem Tor warten Gefährten auf mich, die ich im Augenblick noch nicht kenne. Eine Aufgabe wird mir gestellt werden. Gefahren lauern dort. Und Entbehrungen. Man wird mich quälen und versuchen mich umzubringen. Doch zum Schluss werde ich ein Held sein.

Gleich werde ich aufstehen und auf das Tor zuschreiten. Dann werde ich ein Stück nach rechts gehen und den dritten Stein wieder umstoßen. „Es war einmal …“ wird für mich weiterhin in Büchern stattfinden.

Ich habe keine Lust zu leiden.

EspressoProsa. Klein. Stark. (Manchmal) schwarz.

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