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Europa: Burkas, Minarette, Morde

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Drei europäische Nationen – Frankreich, Belgien und Italien – haben Gesetze erlassen, die das Tragen der muslimischen Burka und des Niqab (beide bedecken das Gesicht bis auf die Augenpartie) in der Öffentlichkeit verbieten1. (In Italien hat das Gesetz nur die Abgeordnetenkammer passiert; gegenwärtig wird es vom Senat geprüft.) Obwohl eingeräumt wurde, dass nur eine winzige Minderheit in diesen Ländern diese Kleidungsstücke tatsächlich trägt (in Italien beispielsweise geht eine verlässliche Schätzung von 100 Personen aus, und selbst die höchste Schätzung kommt auf maximal 3000), wurde diesen Gesetzen, die eine schwere Belastung der Ausübung religiöser Freiheit darstellen, höchste Dringlichkeit beigemessen, als handelte es sich um eine öffentliche Krise von größter Wichtigkeit.2

Solche Entwicklungen blieben nicht ohne Gegenreaktionen, selbst von Seiten der Bekleidungs-Experten. In Italien, einem der Zentren der Damenmode, hat kein Geringerer als Giorgio Armani die Burka verteidigt, als er sagte (Jahre vor dem nationalen Bann, als Verbote noch örtlich begrenzt waren), dass die Frauen tragen sollten, was sie wollten. „Es ist eine Frage des Respekts vor den Überzeugungen und der Kultur der anderen“, meinte er. „Wir müssen mit diesen Vorstellungen leben.“3 Doch die Italiener überhörten in diesem Fall die Stimme der Mode und folgten Themen, die sie für wichtiger hielten.

Inzwischen haben viele Gemeinwesen in Europa sogar das Tragen des muslimischen Kopftuchs reguliert, das nur die Haare bedeckt. In Frankreich dürfen Mädchen in der Schule kein Kopftuch tragen.4 Der Kosovo hat, bei hohem muslimischen Bevölkerungsanteil, ein ähnliches Verbot ausgesprochen.5 In Teilen Deutschlands, Hollands, Spaniens und Belgiens darf das Kopftuch nicht von Angestellten im öffentlichen Dienst getragen werden, wozu auch Lehrer in der Schule gehören – obwohl Nonnen und Priester in vollem Habit lehren dürfen.6 In der Schweiz dürfen Mädchen das Kopftuch nicht tragen, wenn sie Basketball spielen.7 In Russland erhielten muslimische Frauen das Recht, auf Passfotos ihr Kopftuch zu tragen; kürzlich aber wurde ein muslimisches Mädchen der Schule verwiesen, weil es sein Kopftuch trug, und eine Universität im Nordkaukasus hat sämtliche Kopftücher verboten.8

Nach einer Kampagne, die eigentlich die Ängste vor einer muslimischen Übernahme ansprechen sollte, stimmten in der Schweiz anlässlich einer Volksbefragung 57 % der Befragten für das Verbot des Baus von Minaretten bei Moscheen – trotz der Tatsache, dass nur wenige Moscheen tatsächlich Minarette haben (von 150 Moscheen in der Schweiz weisen nur 4 Minarette auf) und daher die Frage der Architektur lediglich symbolische Bedeutung hat.9

Die Angst vor Muslimen zeigt auch in kleinerem Maßstab und oft recht bizarr ihr hässliches Gesicht. Der Bürgermeister der italienischen Stadt Capriate in der Provinz Bergamo verbot im Jahre 2009 alle Kebab-Läden in der Stadt.10 Eine Website, die die Vorherrschaft der weißen Rasse behauptet (www.stormfront.org), hat diesen „Sieg“ großartig und jubelnd herausgestellt und versuchte, noch mehr Widerwillen durch den Hinweis auf angeblichen Dreck und Kakerlaken in diesen Restaurants zu erregen. Im weiteren Verlauf des Jahres schloss sich eine Reihe weiterer Städte in den Provinzen Genua und Bergamo diesem Verbot an. In Lucca wurde ein Kebab-Laden mit Brandbomben beworfen. Ein Mitglied der Lega Nord, die sich gegen Immigration ausgesprochen hat, rief gar nach einem Verbot aller ausländischen Speisen. Der italienische Landwirtschaftsminister, der dieser Partei angehört, verteidigte dieses Verbot und berief sich dabei auf Tradition wie auch auf Gesundheitsvorsorge.11

Nordeuropa gilt gewöhnlich als ruhiges Gebiet von geradezu idealer Toleranz und Freundschaft. Und doch hat auch diese Region regelrechte Wellen anti-muslimischer Gefühle erlebt. Finnland, das ich sehr gut kenne, hat keine gesetzlichen Beschränkungen gegen religiöse Kleidung aller Art eingeführt, auch gibt es nur wenig politische Unterstützung dafür. Dennoch wird oft über die Diskriminierung von Frauen im Arbeitsleben, die das Kopftuch tragen, geklagt.12 Manche Arbeitgeber (Polizei und einige Lebensmittelhändler) sagen öffentlich, dass sie Frauen mit Kopftüchern nicht einstellen.13 Schulen in Raasepori haben Schülerinnen das Kopftuch verboten, zogen angesichts des öffentlichem Drucks dieses Verbot aber zurück.14 Doch in zwei Fällen wurde eine Muslim-freundliche Politik nach öffentlichem Druck fallen gelassen. Städtische Kindergärten in Helsinki und Espoo haben unlängst damit aufgehört, besondere Mahlzeiten für muslimische Kinder auszugeben.15 Und die umstrittene Politik der Stadt Helsinki, bestimmte Zeiten im Hallenbad von Janomaki für muslimische Frauen zu reservieren, wurde aufgegeben, wenn auch später ein neuer, nur für Frauen reservierter Zeitraum am Abend eingerichtet wurde.16 Finnland legt eine besondere Toleranz und Nachsicht an den Tag, Spannungen existieren aber dennoch. Und die Neigung der Finnen, Nicht-Homogenität mit Fremdheit gleichzusetzen, zieht sich als Drohkulisse durch alle neuen Begebenheiten zu diesem Thema (meist wird von „Finnen“ und der „finnischen Kultur“ gesprochen, im Gegensatz von Muslimen und dem Islam, ohne dass dabei gefragt würde, wie viele der fraglichen Muslime tatsächlich Bewohner oder sogar Bürger Finnlands seien).

Im Juli 2011 schlug der Terror in einem Finnland benachbarten nordeuropäischen Land erbarmungslos zu. Der norwegische Fanatiker Anders Behring Breivik ermordete 77 Menschen bei zwei Angriffen, als er Regierungsgebäude in Oslo bombardierte und junge Abgeordnete der Arbeiterpartei erschoss, die sich auf der Insel Utøya zu einem Jugendcamp versammelt hatten.17 Breivik, der die Taten gestand, aber jede Schuld abstritt, veröffentlichte am Tag der Angriffe ein Manifest von 1500 Seiten, worin er eine Theorie entwarf, die seine Taten rechtfertigen sollte. Diese Theorie basierte auf der Vorstellung, dass Europa gegen die Geißel der Islamisierung kämpfen müsse.18 Offenkundig hat er Verbindungen zu mehreren antiislamischen Gruppen in Europa wie den USA.19 Obwohl seine Taten allgemein verurteilt wurden, wurden sie von manchen rechten Politikern in anderen Ländern gefeiert. Jacques Coutela, Mitglied des französischen Front National (FN), beschrieb ihn als „Ikone“ und „wichtigsten Verteidiger des Westens“. Er sieht ihn im Kampf „gegen die muslimische Invasion“ und vergleicht ihn mit dem fränkischen Heerführer Karl Martell.20 Coutela wurde von der Partei ausgeschlossen; eine Untersuchung steht an. Ein weiteres Mitglied des FN, das sich ähnlich, doch in weniger drastischen Worten geäußert hatte, wurde dagegen nicht ausgeschlossen. Das italienische Parlamentsmitglied Mario Borghezio von der Lega Nord (Partner in Silvio Berlusconis Regierung) verurteilte Breiviks Gewalt, unterstützte jedoch seine Ideen, vor allem seinen „Widerstand gegen den Islam und seine ausdrückliche Klage, dass Europa aufgegeben hat, bevor es den Kampf gegen die Islamisierung überhaupt aufnahm“.21

Die neue religiöse Intoleranz

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