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Angst: Heuristik und Vorurteile

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Über die Fallstricke aus den evolutionären Ursprüngen der Angst hinausgehend, hat die jüngere psychologische Forschung gezeigt, wie unzutreffend Angst sein oder auf unzutreffende Weise geschürt werden kann. Sicherlich haben manche dieser Tendenzen auch einen evolutionären Ursprung, obschon wir sie nur als heute weit verbreitete menschliche Neigungen studieren können. Man kann sie benutzen, um unsere aristotelische Analyse der vermutlichen Fallstricke der Angst zu ergänzen.

Eine häufige Quelle des Irrtums bei der Angst ist das, was die Psychologen als Verfügbarkeitsheuristik bezeichnen: Wenn wir uns auf einfache Weise ein Beispiel für ein bestimmtes Problem vorstellen können, führt uns das dazu, die Bedeutung dieses Problems zu überschätzen. Das tritt häufig auf beim Nachdenken über Umwelt-Risiken.15 Wenn die Menschen sehr viel von einer bestimmten Gefahr hören – Vergiftung durch Umweltskandale etwa oder erhöhtes Krebsrisiko durch den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln auf Äpfeln –, dann werden sie zur Annahme neigen, die Gefahr sei größer, als sie tatsächlich ist, und daher die Gefahr von anderen Umweltproblemen unterschätzen, die nicht so lebhaft beschrieben wurden und daher im Hintergrund bleiben.

Eine weitere Gruppe von Phänomenen, die man im Zusammenhang mit ethnischer Feindschaft erforscht hat, ist die „Kaskade“: Menschen reagieren auf das Verhalten anderer Menschen, indem sie sich ihnen anschließen. Manchmal tun sie das wegen der Reputation dieser Menschen (die „Reputations-Kaskade“), manchmal, weil sie der Meinung sind, das Verhalten von anderen gebe ihnen neue Informationen (die „Informations-Kaskade“). Der Wirtschaftswissenschaftler Timur Kuran hat das Argument vorgebracht, dass solche Kaskaden eine große Rolle im Zusammenhang mit der Ethnifizierung spielen, der (oft erstaunlich schnellen) Bewegung, mit der die Menschen sich durch Begriffe der ethnischen oder religiösen Identität definieren und sich damit in Gegensatz zu anderen ethnischen Gruppen setzen.16 Der Psychologe Sudhir Kakar, der über ethnische Gewalt in Indien forschte, hat unabhängig davon ähnliche Phänomene erkannt.17 Kakar fragt sich, warum Menschen, die jahrelang friedlich zusammengelebt haben (Hindus und Muslime zum Beispiel), plötzlich einander zum Feind werden und ihre Identität so definieren, wie sie es zuvor nicht taten, nämlich nach Begriffen der religiösen Identität. Seine Studien zeigen, dass angesehene Gemeinschaftsführer dabei eine große Rolle spielen, deren Reputation scharenweise Anhänger anzieht. Auch die Bereitstellung neuer, tatsächlich aber oft wenig verlässlicher „Informationen“ über die von Muslime bewirkte Gefahr spielt eine Rolle.

Beide Darstellungen können wir ergänzen, wenn wir an die klassische Arbeit von Solomon Asch über Gruppenzwang denken. Menschen schließen sich anderen auch bei offenkundigen Irrtümern im Fall von Sinnesurteilen an; sie sind voller Scham oder Angst vor einem eigenen Standpunkt.18

Diese Tendenzen hat auch Aristoteles schon bemerkt: Er sagt zu dem Redner, er müsse sich als ein Mensch guten Charakters und Rufes präsentieren, wenn er etwas bewirken wolle. Natürlich solle er Angst erregen, indem er angebliche Informationen liefere.

Diesen Quellen möglicher Vorurteile können wir die Angst hinzufügen, die die meisten Menschen vor animalischen Körpern und der Verwundbarkeit empfinden, die diese nach sich ziehen. Viele Untersuchungen zeigen, dass Menschen angesichts menschlicher Abfallprodukte und Leichen Unbehagen empfinden, was auch für Tiere oder tierische Produkte gilt (klebrig, schmierig, stinkend, schleimig). Sie phantasieren zudem, dass bestimmte Gruppen innerhalb der Gesellschaft diese Eigenschaften in hohem Grad aufweisen, auch wenn das nicht zutrifft – dieses Phänomen habe ich „projektive Abneigung“ genannt. Juden, Muslime, Frauen, Schwule und Lesben, Afro-Amerikaner, Mitglieder der unteren Kasten in der hinduistischen Kastenhierarchie – alle hat man irgendwie und irgendwann als hyper-animalisch angesehen, nahe den Abfallprodukten, vor denen die Menschen innerlich zurückschrecken. Es sind die anderen, die stinken; sie erinnern uns an Fäzes und Blut. Abneigung ist eng mit Angst verbunden. Tatsächlich ist das Zurückschrecken vor der Vergiftung auch eine Angst, zumindest dieser nahe verwandt. Die Menschen fürchten diejenigen und schrecken vor denen zurück, denen sie in ihrer Tier-Phantasie diese Eigenschaften zuschreiben.

Wir können nunmehr die Tendenz zur Abneigung mit der Überraschungs-Schreckhaftigkeits-Neigung zusammenführen. Eine Gruppe A phantasiert, dass Gruppe B schleimig, schmierig, ekelhaft, tierisch ist. Aber die Mitglieder der Gruppe B sehen de facto wie die der Gruppe A aus. Was könnte diese Dissonanz erklären? Die Menschen der Gruppe B müssen etwas verbergen. Deshalb entwickelt die Phantasie die Gedanken, dass unterhalb des unschuldigen Äußeren dieser Menschen etwas Verborgenes, Schlechtes liegt, das unvermittelt auftauchen, revoltieren und überwältigen kann. Die Modehistorikerin Anne Hollander hat scharfsinnig argumentiert, dass derartige Phantasien aufkommen, wenn Frauen ihre Beine und Hüften durch weite Röcke verbergen. Man hat sie dann als eine Art Meerjungfrau angesehen: oben herum menschlich, doch mit einem geheimen, verborgenen Bereich, der unaussprechlich schlecht war und Abneigung oder gar Tod verursachen könnte.19 (Daher meint Hollander, der Anzug sei eine wichtige Aussage darüber, dass für Frauen die gleichen Menschenrechte gelten wie für Männer.)

Auch heute sind entsprechende Phantasien nicht unbekannt, wenn man an männliche Homosexualität denkt. Diese Männer sehen aus wie wir, doch wenn sie sich ausziehen, vermischen sie Fäzes mit Blut auf eine Weise, die unaussprechlich schlecht und zutiefst bedrohlich für uns ist. Pamphlete gegen gleichgeschlechtliche Akte appellieren an sehr primitive Ängste vor Kontaminierung durch tierische Produkte – und schwule Sexualpraktiken haben angeblich eine einzigartige Affinität dazu. Schwule überziehen uns alle irgendwie damit (indem sie uns begehren oder auch nur anschauen, indem sie Ausländer mit ihren fremden Keimen an die Küsten der USA bringen).20

Der Kulturhistoriker Sander Gilman zeigt, dass ähnliche Vorstellungen über Juden sehr verbreitet waren. Juden wurden generell als dem Tier näher stehend angesehen als die Arier.21 Ihre Nasen wurden als Zeichen von Hyper-Animalität erkannt (wegen einer phantasierten Verbindung zwischen Nase und Penis). Doch die Unähnlichkeit wurde als noch größer imaginiert, wenn sie sich entkleideten: Unter ihrer Kleidung war etwas Ekelhaftes und Schlechtes. Es kam die Vorstellung auf, dass die Körper der Juden tatsächlich anders waren als andere Körper – etwa mit Klauenfußen wie die von Schweinen und männlichen Menstruationsperioden.22 Bis zu einem gewissen Grade vollzog diese Phantasie die Angst aufgrund einer tatsächlichen Gegebenheit nach – der männlichen Beschneidung. In diesem Sinne stimmte es wirklich, dass Juden unter ihrer Kleidung anders waren, und dieser Unterschied – ein Quell der Angst für nicht-jüdische Männer – nährte die Phantasie über einen Körper, der in jeder Hinsicht grotesk und abstoßend war.23 Wie die jüdischen Pläne der Übernahme Europas mochte auch der jüdische Körper sich maskieren, und gerade dieses Verstecken war mächtiger Treibstoff für die Phantasie einer drohenden Gefahr.

Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass Menschen, die anders sind, oft für archetypische Phantasien Anlass geben. Bedecken sie ihre Körper, wird die Phantasie womöglich noch mehr Macht aus der Vorstellung von Tarnung und drohender Enthüllung beziehen. Vieles kommt zusammen, wenn die muslimische Burka gefürchtet wird, und wir sollten zumindest die Neigung des menschlichen Geistes bedenken, sich unaussprechliche Schrecken und Verderben unter den verschiedensten Arten von verhüllender Kleidung auszudenken.

Doch kehren wir zu den Protokollen der Weisen von Zion zurück und fragen uns, wie unsere Analyse der Deformationen durch Angst uns zu erkennen hilft, was die Protokolle so fesselnd machte und was vernünftige Menschen diese leicht zu demaskierende Fiktion glauben ließ. Sämtliche von Aristoteles beim Namen genannten Quellen des Irrtums sind in höchstem Maße erkennbar: Der Autor präsentiert eine Gruppe von Menschen, die de facto sehr schwach sind und unter enormen gesellschaftlichen Nachteilen leiden, aber bereit zur Übernahme sind. Er stellt den Rest der Menschen in Europa dar – die tatsächlich jahrhundertelang die Juden unterdrückten und ihnen gleiche Rechte verwehrten –, als wären sie in ihrer Naivität und Leichtgläubigkeit hilflos. Durch einige Anspielungen auf Tatsachen – jüdische Erfolge im Bankwesen, die offensichtliche Intelligenz der Juden und ihre Errungenschaften auf vielen gesellschaftlichen Gebieten – machte er sein Szenario plausibel. In diesem Sinne ist die Verfügbarkeitsheuristik ein Teil seiner Strategie: Man denke nur an die Rothschilds und wird leicht glauben, dass alle Juden reiche, mächtige Bankiers sind. Man denke an berühmte jüdische Intellektuelle und wird leicht glauben, dass alle Juden übernatürliche Klugheit und Scharfsinn besitzen. Die Verfügbarkeitsheuristik garantiert gewissermaßen eine fiktive Zuschreibung von Macht und Einfluss an diese Gruppe. Ein jedes Mitglied einer unterdrückten Minderheit, das es schafft, sich der Mehrheit bekannt zu machen, wird wahrscheinlich zu den mächtigsten und erfolgreichsten seiner Mitglieder gehören.

Der Begriff des Wohlergehens, mit dem der Autor arbeitet, zielt sehr direkt auf die Sicherheit und das Überleben der christlichen Europäer. Juden werden als Bedrohung der dominanten Gruppe dargestellt. Indem er die Debatte über einen Gegenstand solcher Dringlichkeit aufnimmt, kommt der Autor jeglicher seriöser Diskussion der sozialen Ungerechtigkeit gegenüber den Juden oder dem richtigen Weg, sich politisch mit religiöser Differenz auseinanderzusetzen, zuvor.

Abneigung ist dabei nicht direkt sichtbar. Im Text geht es um die Vorstellung des Verborgen-Seins und eine beängstigende Unterseite der „normalen“ Oberfläche. Juden sind überall um uns und maskieren sich als nette, normale Menschen. Doch der Tag wird kommen, da sie aus ihrem Versteck hervorspringen und uns alle töten werden.

Schließlich haben „Kaskaden“ einen Großteil der Verbreitung dieses Textes bestimmt. Menschen von gutem Ruf hielten diesen Text für wahr, andere schlossen sich an, und ein regelrechter Massenansturm brach los, der zugleich auf der Illusion basierte, neue und sehr sachdienliche Informationen zu erhalten. Eine Kaskade genau dieser Art ereignete sich, als der französische Jude Alfred Dreyfus für schuldig befunden wurde, der deutschen Regierung militärische Geheimnisse verkauft zu haben. In einer gewaltigen Reputations-Kaskade nahmen die Menschen diese Schuld ohne jegliche Beweise an – und dann schwappte die Kaskade in die gegenteilige Richtung als Reaktion auf Émile Zolas Anklage und die allmähliche Präsentation von Beweisen. Die Menschen nahmen nun Dreyfus’ Unschuld an. In Marcel Prousts großem Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit werden diese Kaskaden und ihre Irrationalität sehr schön geschildert.

Wenden wir uns nun einigen Beispielen aus der Gegenwart zu. Im Sinne von Orientierungspunkten betrachte ich zwei Fälle wohlbegründeter Appelle an die Angst. Diese Fälle zeigen uns, dass solche Appelle oft rational und bedacht sind. Und wir können uns fragen, warum das unter diesen Umständen das richtige Urteil zu sein scheint. Danach werde ich zwei Fälle religionsbasierter Angst untersuchen, in denen der Appell an die Angst schlecht begründet und unverantwortlich ist. Wir werden sehen, wie die Erkenntnisse der Neurowissenschaft, der philosophischen Rhetorik und der kognitiven Psychologie eingesetzt werden können, um diese Fälle und die Unterschiede zwischen ihnen zu erhellen. Dabei wollen wir herausfinden, in welchem Umfang die Angst den Tatsachen und tatsächlichen Problemen angemessen ist, wie sehr sie die Menschen dazu bringt, angemessene Fluchtmaßnahmen zu ergreifen, die sie von den realen Gefahren wegführen; oder im Gegenteil, welche Verzerrungen aus der Heuristik sich in die Reaktionen der Menschen einge-schlichen haben, die der tatsächlichen Situation nicht angemessen sind; sowie solche aus politisch manipulierten und ansonsten zweifelhaften Konstruktionen.

Die neue religiöse Intoleranz

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