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Angst: Kultur und Rhetorik

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Im gesellschaftlichen Leben haben wir, wie Remarque uns sagt, viel mehr zu fürchten als nur Schlangen und Raubtiere. Tatsächlich sind heute ja die nicht-menschlichen Gefahrenquellen in solchem Ausmaß unter unsere Kontrolle geraten, dass wir eher die Raubtiere vor uns Menschen schützen müssen. Menschliche Gesellschaften werden immer noch durch Naturkräfte und Krankheiten bedroht, aber auch durch menschliche Feindschaft, durch Krieg, Armut und abstrakte Gefahren (Wirtschaftskatastrophen, Gruppen-Diskriminierung, politische und religiöse Unfreiheit, gesellschaftliche Revolutionen).

Das bedeutet, dass die Menschen in einer Welt Entscheidungen treffen müssen, auf die die Evolution sie nur sehr rudimentär vorbereitet hat. Wenn Angst ein hilfreicher Motivator in dieser Welt sein soll, dann werden die Menschen eine Konzeption für ihre eigene Sicherheit und ihr Wohlergehen ausbilden müssen wie auch für ihre Gesellschaft – das ist weit komplizierter als der enge evolutionäre Fokus auf kurzzeitige körperliche Sicherheit. Und sie werden intensiv darüber nachdenken müssen, was das Wohlergehen bedroht. Nichts davon ist instinktiv. In jeder Gesellschaft ist dieser Prozess der Ausdehnung und Ausformung der Angst den Einflüssen von Kultur, Politik und Rhetorik unterworfen.11 Eine der besten Darstellungen dieses Prozesses findet sich in Aristoteles’ Rhetorik, wo dem aufstrebenden Redner Ratschläge gegeben werden, wie man ein Publikum überzeugt.

Angst, so sagt Aristoteles, ist das, „was eine große Kraft zu haben scheint, entweder zu vernichten oder Schäden, die sich auf großen Schmerz beziehen, zuzufügen“.12 Aristoteles verbindet Angst mit dem ernsthaften Schaden, den Schmerz und Zerstörung mit sich bringen. Denn die Menschen fürchten ja nicht, dass sie ungerecht würden oder begriffsstutzig. (Man beachte, dass Aristoteles in einer Welt lebte, in der die Menschen meist nicht alt wurden und die senile Demenz kein verbreitetes Problem war.) Er hätte auch hinzufügen können, dass die Menschen deshalb Ungerechtigkeit nicht fürchten, weil sie nie bevorzustehen schien in dem Sinne, dass sie „uns bedrängt“ – weil wir der Meinung sind, wir könnten unseren moralischen Charakter beherrschen. Der Grund, warum wir heute mehr als die Menschen zu Aristoteles’ Zeiten den Verlust unserer geistigen Fähigkeiten befürchten, ist der, dass wir erkennen, wie wenig die geistige Gesundheit mit zunehmendem Alter kontrolliert werden kann. Später spricht Aristoteles das deutlich aus. Menschen haben keine Angst, wenn sie glauben, sie kontrollierten alles Wichtige und könnten daher nicht geschädigt werden.13

Angst ist also mit einem wahrgenommenen Kontrollverlust und, zumindest im Kern, mit dem Körper, unserer Wahrnehmung seines Überlebens und seiner Gesundheit verbunden. Aristoteles fügt noch hinzu, dass das ungute Ereignis anscheinend nahe sein muss: Alle Menschen wissen, dass sie eines Tages sterben werden, aber sie fürchten den Tod erst, wenn er unmittelbar bevorzustehen scheint. Wenn wir Angst vor anderen Menschen haben, sagt er, dann nur, weil wir der Meinung sind, sie hätten genügend Macht, uns zu schaden, und zudem schlechte Absichten, so dass es wahrscheinlich ist, dass sie uns schädigen.

Wie Aristoteles’ Bemerkungen zum Tode offenbaren, gibt es viel Selbstverblendung im menschlichen Leben: Die Menschen phantasieren gerne, sie hätten mehr Kontrolle, als dies tatsächlich der Fall ist. In Wahrheit kann der Tod jederzeit eintreten (was zu Aristoteles’ Zeiten noch mehr stimmte als heute angesichts der damals kürzeren Lebenserwartung). Und doch denken wir meistens nicht daran und lassen uns von der Phantasie der Unverwundbarkeit mitreißen. Menschen oder Ereignisse, die diese Phantasie zum Platzen bringen, werden vermutlich besonders gefürchtet. (Aristoteles’Analyse passt damit zu unseren eigenen Feststellungen über die Feinde, die aus dem Versteck hervorspringen.)

Interessanterweise beruht die Angst, wo sie eindeutig evolutionären Antrieben folgt, nicht unmittelbar auf Tatsachen. Wäre das so, dann würden wir allesamt eine Riesenlast an Todesangst mit uns herumschleppen, die unser alltägliches Leben zerrütten würde. Blindheit gegenüber den Tatsachen hat sich zweifelsohne als wertvolle Eigenschaft herausgebildet.

Doch Aristoteles gibt politischen Rednern Ratschläge für die Situationen, in denen Angst nicht instinktiv vorhanden ist und man mehrere Wege hat, die Situation zu betrachten. Im Wesentlichen sagt er ihnen, dass sie nur dann eine ängstliche Reaktion und eine dementsprechende Aktion hervorrufen können, wenn sie (a) das drohende Ereignis als außerordentlich bedeutsam für das Überleben oder körperliche Wohlergehen darstellen, (b) es als unmittelbar bevorstehend kennzeichnen, (c) den Menschen das Gefühl der eigenen persönlichen Verletzbarkeit und des Kontrollverlustes geben. Sollen andere Menschen mit einbezogen werden – was Rhetorik ja meist will –, sollte sich der Redner auf die Macht dieser Menschen und ihre schlechten Absichten konzentrieren. An anderer Stelle betont Aristoteles die Bedeutung der Selbstdarstellung des Redners: Er sollte sich als sehr vertrauenswürdig zeichnen. Wir alle wissen, dass dies nicht immer im Dienste der Wahrheit geschieht.

Und tatsächlich redet Aristoteles ja auch nicht von der Wahrheit: Er konzentriert sich darauf, wie die Situation vom Publikum phantasiert wird, und auf die Fähigkeit des Redners, diese Phantasie zu beeinflussen. Natürlich war sich Aristoteles nicht der biologischen Erkenntnisse bewusst, die wir heute haben, doch er ist ein gewissenhafter Beobachter menschlicher Gesellschaften, und sehr richtig bemerkt er, dass es eine große Spannweite gibt, wie und wann Menschen ängstlich werden, was dem Redner viele Möglichkeiten der rhetorischen Beeinflussung gibt.

Doch wo immer es solche Möglichkeiten des rhetorisch Wirksamen gibt, kann sich der Irrtum einschleichen. Thukydides’ Geschichte des Peloponnesischen Krieges berichtet uns, wie ein demagogischer Redner namens Kleon die demokratische Versammlung in dem Sinne aufputschte, dass sie für die Todesstrafe aller Männer der aufrührerischen Kolonie in Mytilene und die Versklavung aller Frauen und Kinder votierte. Also wurde ein Schiff losgeschickt, diesen grausigen Entschluss in die Tat umzusetzen. Doch dann trat ein weiterer Redner namens Diodoros vor und überzeugte die Versammlung von der Unrichtigkeit ihres früheren Urteils. Da nahm die Versammlung das Urteil zurück und schickte ein weiteres Schiff los, welches das erste einfangen sollte. Durch schieres Glück führ das erste Schiff ruhiger, und das zweite konnte zu ihm aufschließen. An solch einem seidenen Faden hingen Tausende von Leben. Ohne zu befinden, welche Entscheidung korrekt sei (obwohl Thukydides eindeutig die zweite favorisiert), können wir sicher sein, dass eine der beiden falsch war. Rhetorik wirkt auf die Leidenschaften ein, wie Aristoteles sagt, und bewirkt angemessene wie auch unangemessene Reaktionen.

Wo kann sich im Falle der Angst der Irrtum einschleichen? Zunächst müssen die Menschen eine einigermaßen klare Vorstellung dessen haben, worin ihr Wohlergehen besteht. Diese Vorstellung haben sie aber nicht immer. Sicher gehören das Überleben und Gesundheit dazu, doch die Menschen irren oft in Bezug darauf, was diesen Zielen dient. Außerdem handeln Menschen gerne auf Grundlage schlecht durchdachter Ideen. Aristoteles meint, dass diejenigen, die in der Politik aktiv werden wollen, sorgfältig darüber nachdenken sollten, worin menschliches Wohlergehen besteht, weil diese Leute oft nur oberflächliche Ideen haben, die durch ein wenig Nachdenken verändert würden. Daher behandelt er im größten Teil seiner Nikomachischen Ethik dieses Thema mit dem expliziten Ziel, die Wahlmöglichkeiten in der Politik zu verbessern. Die meisten Menschen, so sagt er, bewerten Geld, Vergnügen und Ehre zu hoch – doch durch Argumente könnte man ihnen zeigen, dass sie de facto diese Dinge doch nicht für so wichtig halten, wie sie behaupten. Andere Dinge wie Freundschaft, tugendhaftes Handeln und politisches Engagement werden, wenn die Menschen über ihr Wohlergehen nachdenken, oft unterbewertet. Doch wenn dieses Wohlergehen durch Angst bedroht werden könnte, sollte man eine genaue Vorstellung dieses Wohlergehens haben; eine Vorstellung, die den eigenen innersten Werten entspricht. Nur scheinen die meisten Menschen Sokrates’ Aufforderung, ein „selbsterforschtes Leben“ zu führen, nicht zu befolgen. Ein Mensch, der Geld überbewertet, wird zu viel Angst vor dem Verlust des Geldes haben; wer Freundschaft unterschätzt, wird zu wenig Angst vor Verletzungen haben, die anderen zustoßen könnten. Weil aber die meisten Menschen Sokrates nicht folgen, werden ihre Gefühle vermutlich unbeständig sein, zuweilen auch der Vorstellung von Wohlergehen widersprechen, die sie durch eigenes Nachdenken formuliert haben.

Aristoteles’ Ideen sind mit Mills Beobachtung über die Begrenztheit der Angst vereinbar. Er stimmt zu, dass die meisten Menschen eine Vorstellung von Wohlergehen haben, die demjenigen der anderen und der Gemeinschaft als Ganzem zu wenig Bedeutung beimisst. Wie Mill glaubt auch Aristoteles, die Menschen würden nach einigem Nachdenken zustimmen, dass sie tatsächlich einem weiter gefassten „Bündel“ von Zielen beipflichten – doch ohne eine solche Darlegung von Argumenten, wie er sie in der Nikomachischen Ethik ausbreitet, plus einer Zeitspanne, in welcher man über Ethik nachdenkt, werden die meisten Menschen weiterhin enger gefassten oder eigennützigeren Zielen zustreben. Mill ist da noch pessimistischer: Er glaubt, dass eine generelle Erziehungsreform nötig sei, damit die Menschen sich über das Wohl auch derjenigen sorgen, die gerade nicht anwesend sind.

Auch wenn die Menschen einen angemessenen Begriff ihres Wohlergehens haben, können sie sehr wohl bei der Einschätzung irren, was dieses Befinden tatsächlich bedroht. Manche dieser Irrtümer bestehen vielleicht im falschen Verständnis von Tatsachen; andere mögen aus der Überschätzung einer Gefahr herrühren, die durchaus besteht, oder der Unterschätzung anderer Gefahren. Wo andere Menschen im Spiel sind, mögen wir eine falsche Ansicht ihrer Absichten und Pläne haben oder ihrer Macht, unser Wohlergehen zu beeinflussen. Und wir halten uns vielleicht für verletzlicher und hilfloser angesichts von Drohungen, als es der Wirklichkeit entspricht. Oder ganz im Gegenteil könnten wir unsere Unverletzlichkeit übertreiben und daher weniger Angst haben, als es vernünftig wäre.

Wenn wir nun diese Ängste zusammen mit den Fallstricken, die unserer evolutionären Ausstattung innewohnen, betrachten, dann erkennen wir, dass wir besonders in die Irre geführt werden, wenn eine mutmaßliche Bedrohung neu ist oder aufkommt, wenn ein plötzlicher Riss im Gewebe unserer Unverletzlichkeit entsteht – oder wenn wir phantasieren, dass etwas, das gegenwärtig unverfänglich erscheint, uns sehr bald auf unerfreuliche Weise überraschen könnte.14

Die neue religiöse Intoleranz

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