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Minarette in der Schweiz, Mord in Norwegen

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In den ersten beiden genannten Fällen war die Angst wohlbegründet, und eine Reaktion auf diese Angst ist, sofern sorgfältig entwickelt, sehr vernünftig. Kommen wir nun aber zu einem problematischeren Terrain, wo Rhetorik eine Angst bewirkt, die durch keinerlei Beweise oder Argumente gestützt wird und sich eines fragwürdigen Begriffs des Wohlergehens bedient.

Die meisten Moscheen haben kein Minarett (Gebetsturm). Minarette sind nur für größere und zumeist städtische Moscheen kennzeichnend. In der Schweiz gibt es gegenwärtig nur vier Minarette: in Zürich, Genf, Winterthur und Wangen bei Olten. Ungefähr 150 Moscheen oder Gebetsräume, eine Muslimbevölkerung von 400.000 bei ca. 8 Millionen Einwohnern insgesamt gibt es in der Schweiz.

Dieses Land ist eine wohlhabende Nation mit einem eindrucksvollen Bruttoinlandsprodukt, hohen Leistungen auf dem Gesundheitssektor und mittelhohen auf dem Feld der Ausbildung. Die Schweiz rangiert auf Platz 13 im 2010 Human Development Report, bei einer Lebenserwartung von 82,2 Jahren, einer der höchsten der Welt, und einer Mindest-Ausbildungsdauer von 10,3 Jahren. Doch sie hat Probleme, die auch die meisten europäischen Nationen besitzen. Sie hat eine sehr geringe Fruchtbarkeitsrate von ungefähr 1,46 bei einer alternden Bevölkerung. Unvermeidlich hängt sie also von Einwanderung ab, um die wirtschaftliche Produktivität aufrechtzuerhalten. Obwohl die wirtschaftliche Ungleichheit gegenwärtig gering ist, gibt es begründete Zukunftsängste, sofern die Produktivität nicht Schritt halten sollte und neue Immigranten das für anspruchsvolle Berufe notwenige Ausbildungsniveau, was die Entwicklung weiter voranbrächte, nicht erreichen. Sorgen um Immigranten und ihre Assimilation sind bis zu einem gewissen Punkt rational begründet. Außerdem ist die Schweiz stolz auf ihre Neutralität und ihre Geschichte der Bündnisfreiheit. Traditionell neutral und nicht Mitglied der EU, verfolgt sie in vielfacher Hinsicht ihre eigenen Wege einschließlich der Tatsache, als letzte Nation Europas das Stimmrecht für Frauen eingeführt zu haben – 1971! Der Stolz der Schweiz auf eine unverwechselbare Identität wird also vermutlich mehr als gewöhnlich durch die Notwendigkeit beeinträchtigt, in relativ kurzer Zeit viele Außenseiter zu integrieren. Verträgt sich eine derartige Integration mit der traditionellen Eigenart der Schweiz? Bis zu einem gewissen Grad ist das eine rational begründete Sorge, doch auch eine, die sehr schnell übergroße symbolische Bedeutung erlangen und sich zur hässlichen Fremdenfeindlichkeit ausweiten kann.

Das Wangener Minarett, im Juli 2009 errichtet, war Ausgangspunkt einer gegenwärtig noch anhaltenden Kontroverse. Als ein örtliches türkisch-islamisches Gemeindezentrum die Genehmigung für die Errichtung eines sechs Meter hohen Minaretts auf dem bereits existierenden Gemeindezentrum einholen wollte, protestierten Anwohner und fochten das Gesuch vor einer örtlichen Baubehörde an. Anfangs erfolgreich, verloren sie in der Berufungsinstanz. Dieses Missgeschick ließ rechte Politiker der Schweizer Volkspartei SVP und der Eidgenössisch-Demokratischen Union EDU eine breite Kampagne gegen den Bau von Minaretten starten. Die Gruppe, die sich selbst das Egerkinger Komitee nennt, besteht darauf, dass Minarette religiös nicht notwendig seien, was natürlich richtig ist – sie werden genauso wenig gebraucht wie ein Turm auf einer christlichen Kirche. Die Gruppe ergänzt allerdings, dass das Minarett schlicht ein Symbol der islamischen Machtergreifung sei. Was natürlich nicht stimmt. Das Minarett hat religiöse Bedeutung – von hier geht der Gebetsruf aus. Es ist ein optionales religiöses Symbol, wie auch der Kirchturm. Die Egerkinger Gruppe begann eine Kampagne, um den Bau neuer Minarette in der Schweiz zu verbieten, und setzte schließlich darüber ein Referendum in Gang, das die Verfassung um einen Satz erweitern sollte: „Die Errichtung von Minaretten wird verboten.“ Diese Maßnahme wurde im November 2009 mit 70 % angenommen. Vorherige Befragungen hatten eine deutliche Niederlage vorausgesagt – Beweis dafür, dass die Menschen sich über ihre Absichten nicht im Klaren waren oder zu einem späten Zeitpunkt von Emotionen bewegt wurden.

Die Verbots-Kampagne umfasste mehrere unterschiedliche Themen. Zuerst war da die Furcht vor der Zerstörung traditioneller schweizerischer Werte und der Identität. „Ehe man es merkt“, bemerkte ein Wähler, „sind wir keine Schweizer mehr.“ Das zweite Thema war die Sicherheitsbedrohung. Ein Internet-Videospiel namens Minarett Attack zeigte Minarette, die sich überall in einer idyllischen schweizerischen Landschaft erheben und wie Raketen aussehen. Am Ende des Spiels erscheint eine Botschaft: „Spiel vorbei! Die Schweiz ist voller Minarette! Stimmt für das Verbot am 29. November.“ Ein drittes Thema waren die Rechte der Frauen. Führende Feministinnen schlossen sich dem Verbotsaufruf an und sagten, das Minarett sei der erste Schritt in Richtung Männerherrschaft. „Wenn wir ihnen ein Minarett geben, lassen sie uns alle Burkas tragen“, meinte eine Wählerin. „Ehe man es merkt, haben wir die Scharia als Gesetz, und Frauen werden auf unseren Straßen zu Tode gesteinigt.“ Und dies trotz der Tatsache, dass fast 90 % der Muslime in der Schweiz aus der Türkei und dem Kosovo stammen und keine konservativen islamischen Bekleidungs-Normen befolgen.

Dem Verbot wurde vom Parlament, dem Bundesrat, den katholischen Bischöfen, der Föderation Jüdischer Gemeinden und vielen anderen prominenten Gruppen der Zivilgesellschaft widersprochen. Alle argumentierten, dieses Verbot sei unvereinbar mit den Normen religiöser Freiheit und des gegenseitigen Respekts. Jüdische Gruppen erinnerten die Öffentlichkeit sogar daran, dass Juden jahrhundertelang keine Synagogen oder Kuppeldächer bauen durften.

Kampagnen-Plakate spielten eine wichtige Rolle bei der Ausbildung der öffentlichen Meinung. Eines der Plakate zeigte eine Schweizer Fahne, bespickt mit schwarzen Minaretten, die wie Raketen aussahen. Im Vordergrund stand eine Frau mit einer Burka. Der Text besagte in großen Lettern: „Stop. Ja zum Minarett-Verbot.“ Nachdem einige Gemeinden das Anbringen dieses Plakats an öffentlichen Orten verboten hatten, kommentierte ein nächstes Plakat diese Weigerung. Über einer Schweizer Fahne stand nun das Wort: „Verweis: Zensur.“ Darunter: „Noch ein Grund, Ja zu sagen zum Minarett-Verbot.“

Geschickt machte sich die Kampagne biologische Tendenzen und psychologische Heuristik zunutze. Die Vorstellung eines verborgenen Feindes und das plötzliche Auftauchen von tödlicher Gefahr werden im Videospiel und auf dem ersten Plakat befördert. Die Gestalt der verschleierten Frau, die vor den Raketen steht, ist ein raffinierter Appell an die Angst vor der Gefahr aus dem Versteck. Auch die Verfügbarkeitsheuristik ist hier präsent in dem Sinne, dass die Plakate das Bild eines extrem bedrohlichen Islam herausstellen – vollständig bedeckte Frauen, eine Landschaft, die von feindlichen Strukturen übernommen worden ist. Dabei wird die Vielfalt des aktuell in der Schweiz präsenten Islam kaum genau betrachtet. Das zweite Plakat konstruiert mit dem „Noch ein Grund, Ja zu sagen“ eine Reputations-Kaskade; anders ausgedrückt: „Eure Nachbarn und Freunde, die diese Gründe erkannt haben, sind euch schon voraus, und wenn ihr zögert, ist jetzt die Zeit, sich ihnen anzuschließen.“

Appelle an Abscheu lauern gleichfalls unter der Oberfläche. Die Schweizer sind stolz auf die saubere, klare Schönheit ihres Landes, und die Plakate zeigen, wie sich hässliche schwarze Objekte dort ausbreiten. Betrachtet man die Plakate auf eine bestimmte Weise, sehen die Objekte aus wie Waffen, doch man kann sie auch als Insekten identifizieren, die das Weiße der Fahne beschmutzen, auf der sie herumtrampeln.

Vor allem aber ist die Kampagne aristotelisch. Menschen, die sich selbst als zuverlässige Charaktere einschätzen (besorgte Bürger), konstruieren das Bild einer schweizerischen Identität, wozu die Fahne und die Anspielung auf liebgewordene Werte gehören (Sicherheit, Freiheit, Gleichberechtigung der Frauen), bauen danach einen Feind auf, der eine hässliche und nachdrückliche Bedrohung dessen darstellt, was den Menschen wichtig ist. Gleichzeitig konstruiert die Rhetorik der Kampagne ein „Wir“, das Immigranten ausschließt, gleichgültig, wie lange sie schon im Land leben oder wie viel sie zur Volkswirtschaft beitragen.

Alle politischen Kampagnen benutzen Symbolik, um Gefühle zu erregen. Und die Schweizer haben in der Tat manche realen Ängste vor der Zukunft des Landes in einem Zeitalter der zurückgehenden Fruchtbarkeitsrate und wirtschaftlicher Fragilität. Warum also weckt diese Kampagne besondere Besorgnisse wegen einer Angst, die aus dem Ruder läuft? Das erste Problem besteht darin, dass die Kampagne Tatsachen offenkundig verdreht und die Menschen glauben machen will, alle Schweizer Muslime hätten so etwas wie eine militärische Übernahme im Sinn, wobei die Frauen brutal unterworfen würden und die Schweiz zum Kriegsgebiet mutierte. Es gibt aber keine Bedrohung durch den Bau unzähliger Minarette in der Schweiz. Das Minarett ist eine Rarität und wäre es auch geblieben. Die symbolische Bedeutung des Minaretts (der Grund, den diese Kampagne auf etwas fokussierte, das tatsächlich gar nicht existiert) ist die, dass der Umriss eines Minaretts auch eine Rakete bedeuten kann, was die Vorstellung verstärkt, die Muslime bildeten eine Sicherheitsbedrohung. Doch die Minarett-gleich-Rakete-Metapher ist an sich schon eine grobe Verzerrung der Wirklichkeit. Und der feministische Aspekt ist einigermaßen absurd angesichts der langen Geschichte der Schweiz, den Frauen das Stimmrecht zu verweigern (ein Recht, das die türkischen Frauen schon 1930 errangen, 41 Jahre vor den Schweizerinnen), angesichts auch des großen Unterschieds zwischen schweizerischen Männern und Frauen hinsichtlich Sekundar- und Hochschul-Ausbildung und Teilhabe am Arbeitsmarkt.24 Tatsächlich wichtige Themen werden unter den Teppich gekehrt; symbolische Themen ohne tatsächliche Verbindung zur Realität nehmen deren Platz ein. Anstatt sich in einer schwierigen, aber letztlich konstruktiven Debatte zu engagieren, wie gesellschaftliche Bindung und Kontinuität in einer Zeit der Immigration voranzutreiben wären, wie man den Frauen mehr Mitwirkungsmöglichkeiten verschafft, werden die Menschen dazu aufgefordert, sich bewusst zu werden, welche Fortschritte sie machen in einer vollständig imaginären Kampagne gegen eine Bedrohung, die gar nicht existiert.

Außerdem verhindert diese „Umleitung“ der Aufmerksamkeit die Debatte über wirklich wichtige Themen. Es ist viel schwerer, in einer Zeit notwendiger Immigration gesellschaftlichen Zusammenhalt zu erreichen, wenn man Immigranten dämonisiert und sie als Eindringlinge darstellt anstatt als Menschen, die man selber eingeladen hat, damit sie die Arbeit tun, die getan werden muss. Viele diese Einwanderer sind mittlerweile Mitbürger geworden. Und es ist viel schwerer, für Fortschritte bei der Beteiligung von Frauen in Ausbildung und Wirtschaft zu kämpfen, wenn die Menschen glauben, alles in der Schweiz sei wunderbar außer einer quasiexternen Drohung der islamischen Machtübernahme.

Die Minarett-Kampagne in der Schweiz war zumindest gewaltfrei und hatte auch keine entsprechenden Konsequenzen. Wenden wir uns aber nun einer Tragödie zu, die in der anscheinend harmonischen Nation Norwegen durch religiösen Hass ausgelöst wurde: die Morde von Anders Behring Breivik. Anders Behring Breivik ist kein Jared Lee Loughner [der im Januar 2011 in der Nähe von Tucson/Arizona 6 Menschen erschoss und 13 schwer verletzte, darunter die demokratische Kongressabgeordnete Gabrielle Giffords]. Breivik schreibt sehr klar und deutlich ideologisch durchdrungen, trotz des Vorliegens geistiger Unzulänglichkeit, von der das norwegische Gericht überzeugt war. Eher wie Gandhis Mörder Nathuram Godse ist er ein Extremist mit einer paranoiden Sicht auf die Welt, und er ist in der Lage, eine vergleichbare Begründung für seine Taten zu geben. So wie Godse seinen Prozess benutzte, um für seine rechten Hindu-Ansichten die Öffentlichkeit zu gewinnen, hat auch Breivik das Verbrechen benutzt, um Aufmerksamkeit für seine Beweggründe zu bekommen, die er der Welt mitteilen wollte.

Wer über Angst forscht, wird in Breiviks Manifest viel interessanten Stoff finden, der wegen der Beschreibung eines naiven Europa den Vergleich mit den Protokollen nahelegt: Europa ist ahnungslos, während die Belagerung durch einen verborgenen Feind droht. Sogar die rhetorische Struktur der Protokolle findet ihre direkte Entsprechung: durch eine Anzahl von einschlägigen Dokumenten – einschließlich Pamela Gellers einflussreichem Blog Atlas Shrugs, der Schriften von Robert Spencer und vor allem der Behauptungen einer Gruppe namens Citizens for National Security, die wir kurz untersuchen wollen.

Als sich die Angriffe in Norwegen ereigneten, verbanden Medien aus aller Welt diese sehr schnell mit islamischem Terrorismus. Die britische Sun schrieb: „Al-Qaida-Massaker: Norwegens 9/11“.25 Kommentatoren spekulierten darüber, ob die Attentate eine Vergeltung für Norwegens Truppenkontingent bei den Kriegen in Afghanistan und im Irak seien. Noch Stunden, nachdem bekannt wurde, dass ein blonder Weißer, sprachlich und ethnisch ein Norweger, festgenommen wurde, sprachen CNN und Fox von einem „Jihad“. In den USA veröffentliche das Wall Street Journal einen ähnlichen Leitartikel wie die Sun. Nachdem die Tatsachen allmählich durchsickerten, wurden Bemerkungen wie „gute Verkleidung“ oder „Bekehrung“ ausgetauscht.26 Heiner Bielefeldt, UN-Sonderbeauftragter für Glaubens- und Religionsfreiheit, verurteilte die Berichterstattung: „Die Art, wie manche öffentliche Kommentatoren den schrecklichen Massenmord in Norwegen sofort mit islamischem Terrorismus assoziierten, ist bezeichnend und in der Tat ein beschämendes Beispiel für die machtvolle Wirkung von Vorurteilen und ihre Fähigkeit, Stereotypen zu verankern.“ Die amerikanische Medien-Beobachtungsgruppe Fairness and Accuracy in Reporting sah ebenfalls Anzeichen eines allgemeinen Problems: „US-Medien generell, wenn auch mit vielen Ausnahmen, befördern die Ansicht, dass Terrorismus dem Islam gleichkommt.“ Der Direktor des Harvard University Outreach Center am Center for Middle Eastern Studies verurteilte die Berichterstattung ebenfalls und sagte, sie würde ein subtiles und genaues Verstehen der verschiedenen Quellen des Terrorismus verhindern.27

Die genannten Medien-Trends sind in erster Linie Beispiele einer Verfügbarkeitsheuristik, die uns in die Irre führt: Seit der Katastrophe von 9/11 sehen die Amerikaner diesen Tag als Musterbeispiel für schlimme Ereignisse in aller Welt und haben eine ausgeprägte Neigung entwickelt, andere Ereignisse im Lichte dieses einen zu betrachten. Plötzliche Gewalt ist Terrorismus, und Terrorismus ist Al-Qaida. Natürlich ist hier auch die Reputations-Kaskade am Werk, insofern angesehene Medien eine Sichtweise verbreiten, die dann von vielen Menschen aufgenommen wird, deren Ansicht ihrerseits einen Widerhall auslöst und neue Medienberichte weiterer Ereignisse nach sich zieht.

Relevant ist hier vor allem eine im März 2011 vom Abgeordneten Peter King, dem Vorsitzenden des House Homeland Security Committee, gestartete Kongressanfrage zum radikalen Islam. Diese Anhörungen stellen einen Schritt in Richtung der Reputations-Kaskade dar, da sie einerseits Ängsten entsprechen, die in den Medien ausgesprochen wurden, andererseits durch die Anhörungen, die das Ansehen des Kongresses mit diesen Ängsten verbinden, weitere Ängste befördern. Natürlich ist es nicht unvernünftig, die Bedrohungen durch den Terrorismus zu untersuchen, und der radikale Islam ist ein Quell solcher Bedrohungen. Doch es wäre sowohl wirkungsvoller als auch zweckdienlicher im Sinne einer ausgewogenen, vernünftigen Debatte, die Bedrohung gemeinsam mit anderen Bedrohungen zu untersuchen – zum Beispiel derjenigen durch unklar christlich ausgerichtete Teile der Bürgerwehr-Bewegung, welche die Bomben von Oklahoma hat aufkommen lassen. Eine solche Untersuchung hätte sogar der Öffentlichkeit einen Dienst erwiesen durch die Erforschung der paranoiden Welt eines Blogs über eine muslimische Machtübernahme, von wo Breivik ja herkam. Wer weiß: Vielleicht hätte eine solche Untersuchung auch Breivik auf seinem Weg gestoppt, weil diese Untersuchung gezeigt hätte, dass selbst sehr radikale rechte Gruppen im Internet ihm die Gefolgschaft verweigerten, weil sie seine Ideen zur Gewalt beängstigend fanden. Beispielsweise hat die English Defense League, eine nationalistische Gruppe mit Neonazi-Tendenzen, der Breivik ausdrücklich seine Bewunderung zollte, seine Anschläge verurteilt, obgleich sie warnte, dass ähnliche Angriffe zu erwarten wären, wenn die Pro-Einwanderungs-Politik so fortgesetzt würde.28 Eine anti-islamische Lobby-Gruppe, Stop Islamisation of Europe (SIOE), leugnete Breiviks Versuch, sich ihrer Facebook-Gruppe über seine Neonazi-Verbindungen anzuschließen.29 All das wäre vielleicht sehr nützlich gewesen, wenn es früher entdeckt worden wäre. Dennoch kann man King nachsehen, sich darauf nicht eingelassen zu haben, da die fraglichen Gruppen eher in Europa als in den Vereinigten Staaten angesiedelt sind – auch wenn das Internet sie de facto ubiquitär macht. Unverantwortlich aber ist, der Öffentlichkeit zu suggerieren, die Gewaltandrohung käme nur bzw. in erster Linie vom Islam. Wie die Washington Post sagt, war der Anschlag von Oklahoma der schlimmste Terrorangriff auf dem Boden der USA vor 9/11, und die „gnadenloseste und gewalttätigste Terrororganisation der Nation“ war während des vergangenen Jahrhunderts der Ku-Klux-Klan.30

Noch unverantwortlicher sind Bemerkungen Kings, die unterstellen, die gesamte amerikanische Muslim-Gemeinde sei verdächtig, nicht nur deren radikaler Flügel. Wiederholt hat er darauf angespielt, dass muslimische Amerikaner es im Allgemeinen unterlassen hätten, mit den Strafverfolgungsbehörden zusammenzuarbeiten. Und er gab sogar die unfassbare Behauptung von sich: „80 bis 85 Prozent der Moscheen in diesem Lande werden von islamischen Fundamentalisten kontrolliert.“31 In der Tat sind es Argumente wie diese und Befragungen, die eine einzige Gemeinde an den Pranger stellen, was dann das Phänomen hervorbringt, das Peter King beklagt. Wenn eine Gruppe erst einmal stigmatisiert ist, sinkt deren Bereitschaft, mit den Behörden zusammenzuarbeiten, rapide. Eine Umfrage zweier Rechtsprofessoren (Aziz Huq, University of Chicago, und Stephen Schulhofer, New York University) und eines Psychologieprofessors (Tom Tyler, New York University) zeigt eine wachsende Wahrnehmung von Diskriminierung unter Muslimen und weist darauf hin, dass dies im Lauf der Zeit einen signifikanten negativen Effekt auf die Zusammenarbeit haben kann.32

Direkt nach den Breivik-Angriffen und somit mehrere Monate nach der King-Anfrage kam eine Gruppe auf, die sich Citizens for National Security nannte, Bürger für nationale Sicherheit. Ihre Forderungen wurden vom Abgeordneten Allen West (Republikaner, Florida) in Washington vorgetragen, der die Arbeit der Gruppe in einer Pressemitteilung im Cannon House Office Building auf dem Kapitolhügel befürwortete. Die Behauptungen dieser Gruppe sind denen der Rhetorik der Protokolle sehr ähnlich. Sie unterstellen, dass die Muslime in Amerika eine „fünfte Kolonne“ bildeten, die amerikanische Institutionen unterwandere. Die Citizens behaupten, sie verfügten über eine Liste von 6000 amerikanischen Muslimen mit Verbindungen zu der ägyptischen Muslimgruppe namens Muslim-Bruderschaft. Die Citizens for National Security veröffentlichten die Namen nicht, dafür aber eine umfangreiche Darstellung angeblicher extremistischer Einflüsse im Zusammenhang mit einem Rechtsstreit um eine islamische Wohlfahrtsorganisation namens Holyland Foundation33 Die Gruppe behauptete, es sei angesichts des „vorsätzlichen Leugnens und der Täuschungskampagne“ seitens der Muslim-Bruderschaft schwierig, die Liste zusammenzustellen. Die Unbestimmtheit der Behauptungen, die hochtrabende Verschwörungstheorie sowie die Behauptung, dass Muslime von ihrem Charakter her verschleiern und täuschen – all das hätte direkt aus den Protokollen entnommen worden sein können, wären die Menschen nicht generell anfällig für solche Angstspiele, ohne dass ein direkter kausaler Zusammenhang bestehen muss.

Ein weiterer Aspekt der Reputationskaskade soll hier erwähnt werden. Das FBI, dem wir bei der Untersuchung terroristischer Aktivitäten in den USA vertrauen, scheint nicht nur in dieser Kaskade gefangen zu sein, sondern trägt selbst durch seine selektive Überwachung dazu bei. In der Zeit nach dem Breivik-Attentat kam heraus, dass das FBI als Lektüreempfehlung über den Islam auf ein Buch des Extremisten Robert Spencer hingewiesen hat, The Truth about Mohammed: Founder of the World’s Most Intolerant Religion. Spencer, gemeinsam mit Pamela Geller Begründer von Stop the Islamization of America, war gemeinsam mit ihr ein Anführer des Protests gegen das geplante muslimische Gemeindezentrum in der Nähe von Ground Zero. Spencer und Geller wurden wiederholt von Breivik in seinem Manifest zitiert. Ihre Gruppe ist vom angesehenen Southern Poverty Law Center als „Hassgruppe“ bezeichnet worden. Sicherlich kann man ihnen Breiviks Taten nicht vorwerfen, die sie ja beide verurteilt haben. Auch ist ihre Erwähnung durch Breivik kein Grund, warum das FBI nicht ihre Arbeit hervorheben sollte. Das Problem besteht vielmehr darin, dass diese Arbeit paranoid und zutiefst unrichtig ist, ähnlich dem Breivik-Manifest, was das Niveau des paranoiden Denkens betrifft.

Hat das FBI Spencers Buch zum Gegenstand einer Untersuchung über den US-Extremismus gemacht? Leider ist die Antwort „nein“. Diese Hintergrund-Lektüre wurde von einer PowerPoint-Präsentation der FBI Law Enforcement Communications Unit [FBI-Abteilung für Strafverfolgungs-Kommunikation] begleitet, die neue Mitarbeiter ausbildet. Diese Präsentation verpasste eine goldene Gelegenheit, die Neulinge historisch fundiert und nuanciert über die Vielfalt des Islam und all die Weltkulturen zu informieren, in denen heute Muslime leben. Die meisten Amerikaner glauben, der Islam existiere hauptsächlich im Nahen Osten, in überwiegend arabischen Gesellschaften, obwohl Indien und Indonesien die beiden größten Muslim-Bevölkerungen der Welt aufweisen, beide mit demokratischen Institutionen, und Indien ist (mit seinem Nachbarn Bangladesch) wichtiger Herkunftsort der amerikanischen Muslime. So ist es verstörend, dass die PowerPoint-Präsentation den Islam als Religion des „ME“, des Middle East bezeichnet, des Nahen Ostens. Und die Berufsanfänger erfahren, dass sie beim Verhören von Muslimen wissen müssten, dass „der arabische Geist“ eher „von Worten als von Ideen und eher von Ideen als von Tatsachen“ (was immer das heißt) bewegt würde. Außerdem belehrt man die Neulinge, dass Muslime „am Beschneidungsritual teilnehmen“ – als wäre das ein primitiver Brauch in einer Nation, in welcher mehr als die Hälfte der männlichen Neugeborenen beschnitten werden und die rituelle Beschneidung ein bekannter jüdischer Brauch ist. Die Anfänger „lernen“ auch, dass der Islam die „Kultur eines Landes in diejenige Arabiens im 7. Jahrhundert“ zurückverwandele.34

Es braucht kaum erwähnt zu werden, dass wir ein FBI brauchen, das kompetent ist und dass eine solche „Belehrung“ eine Schande ist. Wie der frühere Agent Mike German sagt: „Damit die FBI-Ausbildung effektiv werden kann, muss sie nützliche, tatsächliche und vorurteilsfreie Informationen liefern. Das vorliegende Material versagt in allen drei Kriterien.“ Als Antwort auf Journalistenanfragen stellt das FBI nun fest, dass die PowerPoint-Präsentation nicht mehr benutzt und auf Spencers Buch nicht mehr hingewiesen wird. Andere Aspekte des Lehrplans bleiben weiterhin unklar. Zumindest wurde eine Einladung an Brigitte Gabriel, eine streitbare Anti-Muslim-Autorin, die Spencer und Geller in Bezug auf Nuancen und Genauigkeit recht nahe kommt, zurückgezogen. Dennoch bleibt öffentliche Wachsamkeit wichtig. Ein wachsender Berufsstand von sogenannten „Terror-Beratern“ ist aufgekommen, die bei den Strafverfolgungsbehörden diesen Punkt thematisieren und dafür kräftige Honorare einstreichen. Einige dieser Leute liefern aufgebauschte und auch falsche Informationen und fördern damit eher die Angst als eine kompetente Strafverfolgungs-Aktivität.35 Leider hat die gegenwärtige Atmosphäre (einschließlich der gegenwärtigen Medien-Kultur) oft Effekthascherei zur Folge, weshalb ein Berater, der gebucht werden will, sich genötigt fühlt, eher dem Rummel als präzisen Informationen hinterher zu sein.

Eine bedrückende Schlussfolgerung aus dieser Geschichte ist, dass Verdächtigungen und Misstrauen gegenüber akademischer Forschung seitens des FBI, die während der McCarthy-Ära begannen, nie wirklich aufgehört haben. Der britische Geheimdienst im Zweiten Weltkrieg war deshalb erfolgreich und rettete die Nation und die freie Welt, weil er die besten Gelehrten der Nation anheuerte, junge wie alte. (Der Philosoph J. L. Austin, der dem MI6 diente, gehörte zu denen, deren Fähigkeit und Führerschaft ausschlaggebend waren.) Damals folgten die Vereinigten Staaten Englands Vorbild: Der Sprachphilosoph W. V. O. Quine gehörte dem U.S. Navy-Team an, das verschlüsselte Botschaften entzifferte; er wurde Korvettenkapitän. Heute sind Austin und Quine als intellektuelle Führerfiguren ersetzt worden durch Leute wie Robert Spencer und Brigitte Gabriel. Das Resultat: Unsere Welt ist weit weniger sicher.

Ein letzter Aspekt der Medienberichterstattung über Breivik (in diesem Fall tatsächlich eine Verhüllung) ist ein merkwürdiges Geständnis Pamela Gellers auf ihrem Blog Atlas Shrugs, der ja den Zweck hat, eine angebliche Muslimverschwörung „aufzudecken“. Wir wissen, dass Breivik Geller zitierte, wofür sie nicht behelligt werden kann. Die Verbindung ist aber vielleicht komplexer. Geller hat viele Korrespondenten, die mit ihr über die Muslimbedrohung der Welt chatten. 2007 veröffentlichte sie eine E-Mail aus Norwegen, die eine Tirade gegen Muslime so beendete: „Wir horten und verstecken Waffen, Munition und Ausrüstung. Bald geht es los.“ In ihrem damaligen Kommentar zum Posting sagte sie, sie habe den Absendernamen gelöscht, um damit zu verhindern, dass nach der Person geforscht und diese strafrechtlich verfolgt würde. Nach Breiviks Attacke wurde die anrüchige Zeile aus dem Posting von 2007 entfernt. Dennoch hat sie jemand gespeichert, und sie steht in öffentlich zugängigen Berichten.

War Breivik der Korrespondent? Wenn ja, dann hat Geller durch die Anonymisierung der Nachricht die Strafverfolgung an der Untersuchung dieser Terrorbedrohung gehindert. Anstatt ihn zu schützen, hätte sie ihn melden müssen. Und wenn es nicht Breivik war, gilt das Gleiche – und zusätzlich haben wir die Sorge, dass es eine weitere gewaltbereite Person irgendwo da draußen gibt (oder Personen, da die Mail von „wir“ redet), die womöglich einen zukünftigen Angriff inszeniert. In jedem Fall schuldet Geller der Polizei sämtliche Informationen, die sie hat.36

Die neue religiöse Intoleranz

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