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Narzissmus der Angst

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Angst ist primitiv. Das haben wir bereits in physiologischer Hinsicht betrachtet: Angst ist mit primitiven Gehirnprozessen verbunden, die alle Wirbeltiere gemeinsam haben, und menschliche Angst, die auf vielfache Weise komplexer ist, hat weiterhin teil an diesen gemeinsamen tierischen Ursprüngen. Wir können vielleicht sagen, dass die nervöse Energie von Remarques jungem Soldaten in dem Moment, als die Welt um ihn auf seinen zitternden Körper zusammenschrumpft, nur wenig mehr ist als eine tierische Reaktion – und das ist tatsächlich primitiv und beschränkt sich auf seinen Körper und sein Überleben. Die Bedürfnisse anderer müssen ihn mit einem Ruck von dieser Versenkung in sich selbst befreien. Das heißt aber nicht, dass Angst nicht oft wertvoll und auch oft akkurat ist – doch ihre Sicht auf die Welt ist überaus eng. Anders als Trauer und Mitgefühl hat sie die vollständige Realität anderer Menschen noch nicht anerkannt. Und in ihrem Zusammenwirken mit Abscheu ist die menschliche Angst in mancher Hinsicht schlimmer als die tierische Angst: Denn Tiere phantasieren nicht, dass andere Tiergruppen schlecht, sie selber aber rein und nicht-tierisch seien. Die menschliche Angst also verbindet die tierische Begrenztheit mit einem spezifisch menschlichen Zurückschrecken vor der Animalität – hin zu anderen Menschengruppen, wo wir aber immer Animalität imaginieren.

Auch wenn Angst sozialisiert und zu einem Teil von Kultur und Rhetorik gemacht wird, wird sie im Sinne Mills niemals „moralisiert“. Sie ist immer und unerbittlich fokussiert auf die eigene Person und deren Sicherheit. Diese Begrenztheit des Fokus ist ein hervorstechender Zug, der sich in allen Fällen von Angst zeigen lässt, die wir hier untersucht haben. Schweizer Wähler wurden aufgefordert, sich als bedroht zu empfinden und sich auf das enge Feld der persönlichen Identität und Sicherheit zu konzentrieren – anstatt dass sie dazu angehalten würden, die Aufgabe anzupacken, eine Gesellschaft zu errichten, die all ihre Mitglieder angemessen umfasst. Immigranten wurden von einer engen egoistischen Perspektive aus als Raketen, die die Heimat angreifen, angesehen und nicht als vollgültige Menschen. Ähnlich hat die von Angst inspirierte Medienreaktion auf Breivik das Ereignis, dessen wahre Natur zunächst noch unbekannt war, als unmittelbare Wiederholung des 9/11-Traumas gesehen, als ginge es nur um das Ich und dessen Bedrohung. Diese egozentrische Sichtweise verhinderte echte Neugierde.

In diesen und vielen weiteren Fällen sind die episodisch auftretende sowie die chronische Angst noch narzisstischer als andere Gefühle. Alle Gefühle betrachten die Welt aus der Perspektive des Individuums, das diese Gefühle erfährt, und seiner Ziele und Interessen – und eben kaum „von nirgendwo“ her, von einem idealen Punkt der Unparteilichkeit. So sorgen wir uns um die, die wir kennen; nicht um die, die wir nicht kennen. Wir fühlen Mitleid mit einem Menschen, dessen Geschichte lebhaft vor uns steht, nicht für eine körperlose Abstraktion. Alle Gefühle haben das Problem der Begrenztheit und sind damit eine wirkliche Bedrohung der Unparteilichkeit. Die Angst aber geht noch weiter, denn sie bedroht oder verhindert die Liebe.

Der Dichter Dante beschreibt Laster als Formen übertriebener Selbstliebe: ein „Nebel“, der zwischen uns und der wahren Realität anderer Menschen steht. Die Philosophin und Romanautorin Iris Murdoch entwickelt diese Vorstellung weiter und argumentiert in ihren Romanen, dass die Menschen große Probleme haben, ihre Mitmenschen als real und der Zuwendung würdig anzusehen – weil sie in sich selbst gefangen sind und andere Menschen nur durch die verdunkelnden Schleier ihrer Bedürfnisse und Absichten sehen. Wenn man überhaupt einen anderen Menschen sehen oder lieben will, muss man den Prozess der „Ent-Selbstung“ durchmachen.37 Doch im Schwarzen Prinzen, der zu ihren klügsten Romanen gehört, stellt Murdoch noch eine Behauptung auf: Furcht oder chronische Angst bilden die Grundform einer übertriebenen Selbstsucht, die der Liebe Schaden zufügt:

„Mehr als alles andere charakterisieren Angst und Sorge das Säugetier Mensch. Angst ist vielleicht die umfassendste Bezeichnung für alle Laster … Sie ist eine Art Begehrlichkeit, Furcht, Neid und Hass … Glücklich diejenigen, die sich dieses Problems in genügendem Maße bewusst sind, um zu den bescheidensten Anstrengungen fähig zu sein, der trüben Befangenheit unseres Gemüts und unseres Geistes durch die Angst Einhalt zu gebieten … Das natürliche Bestreben der menschlichen Seele ist auf den Schutz des Ich gerichtet.“38

Angst ist eine „verdunkelnde Voreingenommenheit“, ein intensiver Fokus auf die eigene Person, die andere Menschen in die Dunkelheit verbannt. Wie wertvoll und sogar essentiell sie in einer wahrhaft gefährlichen Welt auch ist, ist sie doch selbst eine der großen Gefahren des Lebens.

AdÜ: Im Original steht „13 Stämme“, was sich offenbar auf ein 1976 erschienenes Sachbuch ähnlichen Titels („Der dreizehnte Stamm“) von Arthur Koestler bezieht.

AdÜ: Martha Nussbaum nennt einen beim Namen: Love Canal, was sich auf Ereignisse zwischen Eriesee und Ontariosee bezieht, als dort auf hoch kontaminiertem Boden Wohnsiedlungen gebaut wurden.

Die neue religiöse Intoleranz

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