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Die Idee der nationalen Identität:
Homogenität und Zugehörigkeit

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Alle genannten Entwicklungen sind zutiefst irritierend und zeigen, dass religiöse Ängste in den USA immer stärker werden, vor allem gegenüber Muslimen. Dennoch finden wir innerhalb der USA nichts, was auch nur entfernt den nationalen und regionalen Verboten islamischer Kleidung in Europa oder dem landesweiten Minarett-Referendum in der Schweiz nahekommt. Kann man diesen Unterschied erklären? Ich habe angedeutet, dass die Vereinigten Staaten sich mit der Heterogenität weitaus wohler fühlen als Europa. Dieser Unterschied entspringt tiefer gelagerten, andersartigen Vorstellungen zur Idee der Nation.

Seit dem Aufkommen des modernen Nationalstaats haben die Staaten Europas betont, die Wurzeln der Nationen lägen in erster Linie in Eigenheiten begründet, die von neuen Einwanderern nur, wenn überhaupt, mit Schwierigkeiten zu teilen seien. In hohem Maß von der Romantik beeinflusst, haben diese Nationen geographische Abstammung, ethnolinguistische Volkszugehörigkeit sowie Religion als notwendige, zumindest aber zentrale Elemente der nationalen Identität benannt. Und damit scheinen alle Menschen, die einen anderen geographischen Ursprung, ein anderes heiliges Land, anderes Aussehen und Kleidung haben, nie ganz dazuzugehören, gleichgültig, wie lange sie schon in dem betreffenden neuen Land leben.49 Ein Grund, warum es so außerordentlich schwer für Juden war, als gleichberechtigte Bürger in Europa angesehen zu werden – wenn sie das überhaupt je geschafft haben –, war die Wahrnehmung, dass Juden von Natur aus anders waren, weil sie anders beteten, sich anders kleideten, in ihren Gottesdiensten eine andere Sprache benutzten, andere Nahrung aßen. In dem Maße, wie sie sich assimilierten, gemeinsam mit anderen aßen, sich mit ihnen vermählten, eher das Deutsche als das Jiddische in ihren Gottesdiensten benutzten (was deutsche Reformjuden meist taten), sich zudem „normal“ kleideten (keine Kippa, keine Gesichtsbehaarung), stiegen die Chancen auf Akzeptanz – bis zum Aufkommen der Rassenideologie und der blutsmäßigen Rassentypologie, was aber erst recht spät der Fall war. Nachdem sich die Rassenideologie durchgesetzt hatte, war die Assimilierung unmöglich geworden. Vor und nach dieser Zeit aber lag der Akzent auf Homogenität und auf kultureller Assimilation an das herrschende Paradigma. Andersartigkeit ist Fremdheit.50

Es muss aber klar gesagt werden, dass die vermeintliche Homogenität immer schon zum guten Teil bloße Fiktion war. Sie kaschierte Unterschiede der Sekten, Clans, der lokalen Dialekte und viele weitere Ursachen innerer Verschiedenartigkeit. Historiker wie Eric Hobsbawm haben für Europa im Allgemeinen, Graham Robb für Frankreich und Linda Colley für England im Einzelnen nachgewiesen, in welchem Ausmaß solche Behauptungen einer nationalen Identität fragile und oberflächliche Konstrukte waren, die sich über anhaltende Divergenzen hinwegsetzten.51 Im Falle Deutschlands und Italiens ist dies noch deutlicher, da deren staatliche Einheit erst recht spät kam und auch erkennbarer ein Konstrukt war. Wie der Historiker George Mosse klar belegt hat, funktionierten europäische Einigungsprojekte häufig, indem die Nation in Opposition zu fremden oder minderheitlichen Elementen definiert wurde, die als degeneriert dargestellt wurden, oft als Träger einer stigmatisierten Sexualität.52 So ist die Idee der Homogenität real (eine Mehrheit hat eine gemeinsame Religion) und zugleich auch weniger real, als dies behauptet wird. Trotzdem glauben die Menschen daran und sehen dann Ähnlichkeiten, wo sie zuvor Unterschiede gesehen haben.

Diese Haltung überwiegt noch heute in vielen Teilen Europas. Finnland ist vielleicht ein Extrembeispiel, da die Finnen nur wenig Einwanderung zuließen und daher auch nur wenig Menschen mit anderem Aussehen zu Angesicht bekommen haben. Eine finnische Kollegin von mir an der Universität Chicago, die in der zweit-größten Stadt Finnlands aufwuchs, sagte mir, dass sie erst im Alter von sechzehn Jahren zum ersten Mal einen Menschen gesehen hatte, der kein nordeuropäischer Protestant war. Finnland legt auf eindeutige und einfache Weise Charakteristika an den Tag, die bis zu einem gewissen Maße von den meisten europäischen Nationen geteilt werden. Und obgleich Finnlands schlimme Kollaboration mit den Nationalsozialisten während des Zweiten Weltkriegs viele Wurzeln hat, wobei der Hass auf Russland hervorragt, war auch der Antisemitismus weit verbreitet, als Form der Abweisung des Anderen. Der finnische Nationalismus ist ein besonders eindeutiger Fall für die These, dass nationale Identität ein bewusstes Konstrukt ist, das man in seiner Entstehung nachverfolgen und die Menschen beim Namen nennen kann, die es errichteten. Von der Mitte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts entdeckte eine Gruppe Intellektueller, von der europäischen Romantik beeinflusst, die finnische Sprache wieder, die zu jener Zeit nur in ländlichen Gebieten gesprochen wurde (städtische und gebildete Menschen sprachen Schwedisch). Auch erweckten sie nationale Mythen zu neuem Leben (wie etwa das Kalevala-Epos, das auf traditionellem Volkstum basiert, aber erst im 19. Jahrhundert niedergeschrieben wurde).53 Neu aufgekommene patriotische Künstler schrieben Romane über ländliches, bäuerliches Leben, malten Werke des romantischen Expressionismus, die Nationalhelden an Seen und in Wäldern zeigten, schrieben Musik, die die Liebe zur finnischen Natur und Folklore ausdrückte (Jean Sibelius war der wichtigste Komponist dieser Bewegung). Menschen, die seit je schwedisch gesprochen hatten, begannen, finnisch zu reden und änderten ihre schwedischen Namen in finnische. Weil die Sprache, so spät erst wiederentdeckt, immer schon ein besonders machtvolles Vehikel nationaler Identität war, verurteilen die Finnen oft Fremde, sofern diese kein Finnisch sprechen können, das bekanntlich eine besonders schwierige Sprache ist, ohne Verbindung zur indo-europäischen Sprachfamilie und unter den bekannten Sprachen einzig dem Ungarischen und Estnischen verwandt. Tatsächlich erzählen mir meine finnischen Freunde heute, dass ein afrikanischer Einwanderer, der fließend Finnisch spricht, von vielen Menschen als weniger fremd empfunden würde als ein blonder Protestant, der nur Englisch oder Deutsch spricht – obwohl doch Englisch im überwältigenden Maß zur Sprache des akademischen Lebens und des Handels geworden ist. Doch es gibt auch Ausgrenzung, die auf äußerer Erscheinung beruht, und sämtliche Faktoren, die für Inklusion sprechen, müssen erst addiert werden, ehe der Status eines neuen Mitbewohners geklärt ist.

Finnland ist ein einmaliger und zugleich extremer Fall von Homogenität. Doch auch andere europäische Nationen sehen sich ähnlichen Problemen gegenüber. Keine dieser Nationen hat nationale Identität eindeutig nach Begriffen politischer Ideale und Kämpfe definiert – eine Form nationaler Identität, die dennoch vielen modernen Nationen vertraut ist, etwa Australien, Neuseeland, Kanada, Indien, Südafrika und den Vereinigten Staaten. Diese Form der Identität dämpft die Probleme der Inklusion bis zu einem gewissen Grade ab. Nicht dass es den Nationen dieser letztgenannten Gruppe an Kämpfen um Inklusion und Identität mangelte, wie wir bald sehen werden. Doch sie halten von allem Anfang an die Tür einen Spalt breit offen und lassen jeden zu, der sich auf das Projekt von „Leben, Freiheit und dem Streben nach Glück“ einlassen kann – oder, im Falle Indiens, von wirtschaftlicher Gleichheit –, als Ausdruck nationaler Sehnsucht. Manche dieser Nationen haben sogar Einwanderung und Verschiedenartigkeit als Aspekte nationaler Identität zum Mythos erhoben. Amerikanische Schulkinder besuchen Ellis Island oder die Freiheitsstatue, rezitieren Emma Lazarus’ Freiheitsstatuen-Gedicht über die „dichtgedrängte Masse, die sich danach sehnt, frei zu atmen“. Die Vereinigten Staaten haben schmerzhafte Auseinandersetzungen um Immigration, doch heute dreht sich alles um illegale Immigration; eine Politik des Widerstands gegen legale Immigration wurde nie weiterverfolgt. Hier wurde der Höchststand in der letzten Hälfte des 19. Jahrhunderts erreicht, als der Nativismus deutliche politische Spuren hinterließ. Doch auch damals blieb dies eine Minderheiten-Position, und heutige Opposition gegen jegliche Einwanderung ist höchst unpopulär. Als Pat Buchanan mit einer solchen Botschaft bei der St. Patrick’s Parade in Chicago im Zuge seiner misslungenen Präsidentschaftskandidatur mitlief, wurde er von seinen Mitmarschierern heftig kritisiert, diese Feier solle den Beitrag der Einwanderer zu den Vereinigten Staaten würdigen.54

Indien hat nicht viele Einwanderer, weist aber eine immense innere Vielfalt auf. Die Ausbildung der modernen indischen Nation bedeutete Anerkennung aller religiösen, ethnischen, kulturellen und sprachlichen Elemente wie auch die Ausbildung eines Konzepts von Zugehörigkeit, das alle auf der Grundlage der Gleichheit einschließt. Dies war die bedeutende Leistung Nehrus und Gandhis, für die sie einen erfolgreichen Kampf mit der Hindu-Rechten austrugen, die ausdrücklich ihr Bild der nationalen Identität auf Europa zurückführten und eine religiös-kulturell und ethnisch basierte Konzeption der bürgerlichen Inklusion verfolgten und meinten, dass Muslime nie vollwertige Bürger sein könnten.55 Indiens Nationalhymne beginnt mit der Aufzählung der unterschiedlichen regionalen/sprachlichen Ursprünge des indischen Volks. Die zweite Strophe zählt die verschiedenen religiösen Wurzeln auf. Von all diesen Gruppen, alle als gleichwertig anerkannt, heißt es, sie würden dem ethischen Gesetz ihre Verehrung erweisen.

Die australische Selbstdefinition beruht wie die der USA auf der Erkenntnis, dass die meisten Australier von Einwanderern abstammen, auch wenn unlängst gerade diese Identität etwas überschattet wurde – wegen der Ungerechtigkeiten, die an den Ureinwohnern begangen wurden. Öffentlich wurde der Stolz auf deren andersartige Kultur und künstlerische Traditionen formuliert. Da viele australische Einwanderer Sträflinge waren und damit die „Nichtse“ Großbritanniens, war die Idee einer klassenlosen, anti-hierarchischen Gesellschaft zentral. (So gilt es oft als un-australisch, auf dem Rücksitz eines Taxis Platz zu nehmen, obwohl an Orten mit vielen Touristen ein solches Verhalten allmählich ausstirbt.) Ein weiterer und oft betonter Aspekt der Identität ist die anhaltende Beziehung zu dem schwierigen und herausfordernden Land; daran können alle teilhaben. (Voss, der Roman von Patrick White, Australiens erstem und bislang einzigem Träger des Literatur-Nobelpreises, beschreibt Einwanderer verschiedener Hintergründe und Klassen, die sich zu dem am Ende misslingenden Versuch zusammenschließen, die Wüstenregionen des inneren Landesteils zu erforschen, wobei die Ureinwohner angesichts der Größe der gemeinsamen Herausforderung an den Rand gedrängt werden.)

Alle drei genannten Nationen begreifen demnach Zugehörigkeit in Begriffen gemeinsamer Ziele und Ideale und damit auf eine Weise, die nicht notwendig Homogenität verlangt – in Kleidung, Nahrungsgewohnheiten, religiösen Überzeugungen oder auch äußerlicher religiöser Observanz. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Menschen das Fremde und Andere nicht fürchten oder religiöse Minderheiten nicht mit Gefahr assoziieren. Es bedeutet vielmehr, dass es ein machtvolles Gegengewicht dazu gibt. Um uns hier zunächst auf die USA zu konzentrieren, weil diese Ideen bis zu einem gewissen Maße in die Struktur der US-Religionsgesetze eingegangen sind: Es bedeutet auch, dass Institutionen als Reaktion auf furchtbestimmte Gefühle nur langsam in Fahrt kommen oder sich eine Abfuhr einfahren (wie im Falle Oklahomas), falls sie unmittelbar loslegen. Wie wir noch sehen werden, erfuhr selbst die furchteinflößende afro-kubanische Santería-Religion mit ihrem rituellen Tieropfer von Seiten des Obersten Gerichtshofes der USA eine machtvolle Verteidigung – nicht nur von dessen liberalem Flügel, sondern vom konservativen Chef höchstselbst, Richter Scalia, sowie vom gemäßigten Richter Kennedy – nachdem eine Gemeinde ein Gesetz verabschiedet hatte, das die rituelle Praxis dieser Religion betraf, während weitere, ähnliche Praktiken unerwähnt blieben. Gesetze, die stigmatisieren und verfolgen, werden sich also kaum lange in der US-Verfassung halten können.

Auch Vorstellungen von nationaler Identität sind der Veränderung unterworfen. Die USA haben Zeiten voller Ängste vor Einwanderern durchgemacht, wobei die Idee des „Nativismus“ (Einwanderer sind keine wahren Amerikaner) die nationale Identität zumindest eines großen Teils der US-Bevölkerung definierte. Das kann jederzeit wieder passieren, und wir sollten wachsam sein gegenüber der Bedrohung durch einen neuen Nativismus. Im Gegensatz dazu ist Europa sehr wohl in der Lage, zu einer mehr inklusiven und politischen Definition nationaler Zugehörigkeit überzugehen, bei der Land, Ethnizität und Religion weniger wichtig sind als gemeinsame politische Ideale. Die Europäer können also ihr Konzept der Nation benutzen, um ihre gegenwärtige Haltung und Politik zu erklären, nicht aber, um sie zu rechtfertigen. Gegenwärtig kann niemand sagen, ob es wahrscheinlicher ist, dass die USA sich Europa angleichen oder ob Europa immer mehr (was bislang der Fall war) die Ideale der Vereinigten Staaten annehmen wird. Das liegt in der Hand der Bewohner.

Trotz dieser historischen Differenzen sollten wir uns also weiterhin um das Aufkommen von mehr religiösen Ängsten in den Vereinigten Staaten wie in Europa Sorgen machen. Die Angst nimmt zu, und wir müssen sie verstehen lernen und darüber nachdenken, wie man ihr am besten begegnet. Angst ist ein Gefühl, über das wir mittlerweile eine ganze Menge wissen. Wenn wir über ihren positiven Einfluss und ihre potentiellen Fallstricke nachdenken, verstehen wir manche der jüngsten Vorfälle besser.

Die neue religiöse Intoleranz

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