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1 RELIGION:
ZEIT DER ANGST UND DER VERDÄCHTIGUNG

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Vor nicht allzu langer Zeit waren Amerikaner wie Europäer stolz auf ihre aufgeklärte Haltung der religiösen Toleranz und des gegenseitigen Verständnisses. Man wusste zwar, dass die Geschichte des Westens von religiöser Abneigung und Gewalt durchsetzt war – mit Kreuzzügen und Religionskriegen, religiöser Herrschaft der Europäer in vielen Teilen der Welt, mit Antisemitismus und Anti-Katholizismus in den europäischen Ländern. Dies kulminierte in den Schrecken des Nationalsozialismus, der nicht nur Deutschland, sondern auch andere Nationen betraf. Dennoch dachte Europa bis in die jüngste Zeit nur allzu gerne, dass diese dunklen Zeiten der Vergangenheit angehören. Religiöse Gewalt gab es woanders – in „primitiven“ Gesellschaften, die weniger durch das Erbe christlicher Werte definiert waren als die modernen Sozialdemokratien Europas.

Die Vereinigten Staaten hatten dagegen eine etwas bessere Bilanz als die ‚Alte Welt“, aus der die ersten Siedler geflohen waren. Viele von ihnen waren auf der Suche nach religiöser Freiheit und Gleichheit. Offene Gewalt im Namen der Religion war ein eher seltenes Phänomen – erduldet von den angeblich „primitiven“ Eingeborenen Amerikas und in jüngerer Zeit von Mormonen und den Zeugen Jehovas; anders denkende Gruppen, die von der Mehrheit, nicht aber von Mitgliedern etablierter religiöser Gruppierungen als seltsam und bedrohlich wahrgenommen werden. Und die Vereinigten Staaten waren stets etwas offener als Europa, was Abweichung in Kleidung und Lebensstil betrifft. Das kam religiösen Minderheiten entgegen, die ihrem eigenen Gewissen folgen wollten, ohne sich der Kultur der Mehrheit anzugleichen. Dennoch kann niemand leugnen, dass religiöse Vorurteile und Ängste in Form von Anti-Katholizismus und Nativismus, Antisemitismus und dergleichen gegen „merkwürdige“ Minderheiten immer schon ein Schandfleck unserer Gesellschaft waren. Denken wir etwa daran, dass „weiße“ Anwaltskanzleien erst seit den 1970er Jahren Juden in größerem Umfang einstellen; dass erst in allerjüngster Zeit der Oberste Gerichtshof ohne öffentlichen Aufschrei mit Katholiken besetzt werden konnte. So tun wir gut daran, angesichts unserer eigenen Bilanz als vermeintlich tolerante und respektvolle Kultur bescheiden zu werden. Dennoch war in den letzten Jahren das Selbstbild von US-Bürgern das einer offenen und vielfältigen Gesellschaft, die die Vorurteile der Vergangenheit überwunden hat.

Heute aber haben wir viele Gründe, diese selbstgefällige Einschätzung in Zweifel zu ziehen. Unsere Situation schreit geradezu nach kritischer Selbst-Reflexion, sofern wir die Wurzeln der schlimmen Ängste und Verdächtigungen freilegen wollen, die gegenwärtig alle westlichen Gesellschaften entstellen. Heutzutage ist eine ethische Herangehensweise im Geiste Sokrates’ dringend vonnöten, die drei Punkte bedenkt:

– Politische Grundsätze des gleichen Respekts vor allen Bürgern und ein Verständnis dessen, was diese Grundsätze für die heutige Konfrontation mit religiösen Unterschieden bedeuten. (Diese Grundsätze wohnen den politischen Traditionen Europas und vor allem der Vereinigten Staaten inne.)

– Rigorose Kritik, die Unvereinbarkeiten aufspürt und kritisiert, gerade auch jene, die Ausnahmen für einen selbst zulassen und den Stachel im Auge des Anderen bemerken, ohne den Balken im eigenen Auge zu erkennen.

– Eine systematische Ausbildung des „inneren Auges“, der Vorstellungskraft, die uns erkennen lässt, wie die Welt vom Standpunkt anderer Religionen oder Ethnien aussieht.

Diese ethischen Tugenden sind in einer komplizierten Welt sehr wertvoll. Warum aber werden sie gegenwärtig besonders gebraucht? Werfen wir dazu einen Blick auf einige Entwicklungen der jüngeren Vergangenheit und blicken dabei zunächst nach Europa, dann in die Vereinigten Staaten.

Die neue religiöse Intoleranz

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