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2 ANGST: EIN NARZISSTISCHES GEFÜHL

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Ohne Angst wären wir schon alle tot. Der griechische Philosoph Pyrrhon, der behauptete, sich dieses Gefühl ausgetrieben zu haben, führte der Legende nach ein merkwürdiges Leben. Ohne die stete Hilfe seiner Freunde, die ihn den ganzen Tag verfolgten, wäre er von Felsvorsprüngen herabgestiegen und in Brunnen gefallen.1 Für andere Menschen war er kaum von Nutzen. Als er einst sah, wie sein Freund Anaxarchos in einen Sumpf fiel, ging er weiter, ohne ihm zu helfen – offenbar unfähig, die missliche Lage seines Freundes zu begreifen.2 Doch ebenso eindeutig kann Angst auch die Ursache von unzuverlässigem und unstetem Verhalten sein. Durch einen Eindringling in Schrecken versetzt, der ihre heiligen Rituale störte, spürten die Frauen von Theben (in Euripides’ Drama Die Bakchen) diesen Fremden auf und rissen ihm die Glieder einzeln aus. Danach trug die Anführerin den Kopf des Fremden im Triumph durch die Stadt – doch im Aufruhr ihrer Gefühle merkte sie nicht, dass sie den Kopf ihres eigenen Sohnes vorführte.

Solche Mythen sagen uns, dass die Beseitigung der Angst eine gesellschaftliche Katastrophe bewirken würde: Uneinsichtigkeit bezüglich der wirklichen Gefahren für Leib und Leben wäre die Folge, dazu das Unvermögen, sich und anderen zu helfen. Leicht kann Angst von Politikern dazu benutzt werden, Aggressionen gegen unbeliebte Gruppen zu schüren. Angst ist fast immer im Spiel bei schlechtem Verhalten im Bereich des Religiösen. Die Geschichte kennt unzählige Fälle von angstgeleiteten, grausamen und destruktiven Handlungen gegenüber Minderheiten-Religionen – Juden, Katholiken, Mormonen, Zeugen Jehovas, um nur ein paar Gruppen zu nennen, die in jüngerer Zeit in den USA und Europa betroffen waren. In solchen Fällen können wir erkennen, dass, obwohl die Angst der Menschen tatsächliche Probleme betraf – nationale Sicherheit, Freiheit von Herrschaft, wirtschaftliche Sicherheit, politische Stabilität –, die Verbindung dieser Phänomene mit einer angeblichen Bedrohung durch eine religiöse Minderheit immer fiktiv war: ein Produkt von Ignoranz und Phantasie, angeheizt durch politische Rhetorik. Es war ja in der Tat unglaubwürdig, dass die Juden Europa durch eine Verschwörung der Banker kontrollieren wollten. Ebenso war es unglaubwürdig, dass die Anerkennung katholischer Einwanderer als gleichberechtigte Bürger zum Zusammenbruch der US-Demokratie führen würde. Es war unglaubwürdig, dass Zeugen Jehovas planten, die USA an die Nationalsozialisten zu verraten (die die Zeugen Jehovas in Deutschland längst in Konzentrationslager gesteckt hatten!). Und doch wurde all das in großem Umfang geglaubt und führte zu Diskriminierung und Gewalt, je mehr die Phantasie sich breitmachte und zu einer Realität wurde, die viele unschuldige Menschen zu einem miserablen Leben und nur allzu oft zum Tode verurteilte.

Ich werde darlegen, dass wir, um unsere Ängste in den Griff zu kriegen, dreierlei benötigen: solide Grundsätze einschließlich der Achtung der Gleichheit aller Menschen; Argumente, die nicht einem selbst dienen und auf einen angeblichen Fehler bei der Minderheit abzielen, der tatsächlich aber in der Mehrheitskultur allgegenwärtig ist; eine Phantasie, die zu Neugier und Sympathie befähigt. Doch zunächst müssen wir mehr über die Angst wissen und darüber, wie sie wirkt.

Fangen wir mit einem berühmten Beispiel an, zu dem wir, ausgestattet mit dem, was wir lernen, zurückkehren können: dem Mythos der jüdischen Weltverschwörung. Dieser wurde im 19. und frühen 20. Jahrhundert in Europa von vielen für wahr gehalten. Er war im Wesentlichen durch zwei Dokumente verbreitet worden: durch die Rede des Rabbiners (1872) und die Protokolle der Weisen von Zion (um 1902).3 Die Rede ist de facto ein Ausschnitt aus einem Roman von Hermann Goedsche mit dem Titel Biarritz. Der erste ungewöhnliche Sachverhalt besteht also darin, dass trotz der allgemeinen Verfügbarkeit dieses Romans große Massen von Menschen glaubten, diese Rede sei historische Realität; zudem galt sie als Authentizitätsbeweis der Protokolle. Biarritz schildert ein Geheimtreffen von Vertretern der 12 Stämme Israels auf dem jüdischen Friedhof in Prag. Ein Rabbi, der zu dieser Versammlung spricht, verkündet, dass die Juden bereit seien, die Weltherrschaft zu übernehmen. Indem sie die christliche Zivilisation als Schutzschild nahmen und im Geheimen operierten, haben die Juden durch ihre Herrschaft über Finanz-Institutionen und ihren persönlichen Reichtum eine gewaltige Macht angehäuft. Angesichts der steigenden Schulden europäischer Nationen werden sie bald zur jüdischen Übernahme bereit sein. Die Rede belehrt die Juden, dass sie noch mehr tun müssten, um Grundeigentum zu übernehmen, dazu in vielen Berufen hohes Ansehen erlangen und vor allem sich in juristischen Berufen sowie der Presse etablieren müssten – und am Ende könnten sie die Veränderungen bei Finanz-Transaktionen erreichen, die sich zu ihren Gunsten auswirken würden. Der Rabbi weist darauf hin, dass die Leichtgläubigkeit der Öffentlichkeit ihr, der Juden, größter Vorteil sei: Sie könnten weiterhin im Geheimen und unverdächtig operieren, während sie der christlichen Kultur und christlichen Werten nach dem Mund redeten.

Die Protokolle, zuerst in Russland veröffentlicht, sind eine ähnliche Verschwörungs-Fiktion: ein angeblicher Bericht eines Geheimtreffens während einer internationalen Konferenz der „Weisen von Zion“ (dieser Begriff erschien dadurch plausibel, dass der Erste Zionistische Kongress gerade um jene Zeit stattfand). Wieder mit der Grundidee, dass die Juden durch ihren Reichtum und die Kontrolle des Finanzsystems die Weltherrschaft erlangen würden, indem sie durch „Arglist und Heuchelei“ wirkten. In diesem Falle würden die Juden die Unzufriedenheit der Arbeiter ausnutzen, sie zu einer sozialistischen Revolution anstacheln und dadurch ein Chaos in Europa entfachen, das sie zu ihrem Vorteil nutzen könnten. Und wieder betont der Text die Notwendigkeit von Geheimhaltung und Heuchelei und sagt, mit welcher Leichtigkeit die Vorherrschaft wegen der Naivität und Arglosigkeit der Mehrheit erreicht werden könne.

Diese Texte hatten einen gewaltigen Einfluss und werden mancherorts noch heute geglaubt. Sie zeigen uns, wie Angst wirkt. Zunächst geht Angst typischerweise von einem tatsächlichen Problem aus: Die Menschen hatten tatsächliche Gründe für Angst: wirtschaftliche Unsicherheit, Spannungen zwischen den sozialen Schichten, die Möglichkeit einer Revolution, unvorhersehbare Umwälzungen durch politische und wirtschaftliche Veränderungen, die die europäischen Gesellschaften durchzogen.

Zweitens wird Angst leicht einer Sache zugeordnet, die vielleicht nur wenig mit dem zugrunde liegenden Problem zu tun hat, aber als bequemer Ersatz herhalten kann, weil diese neue Zielgruppe längst schon abgelehnt wird: Es war viel leichter, die Juden für politische und wirtschaftliche Probleme verantwortlich zu machen als nach den wahren Ursachen der Probleme zu forschen.

Drittens wird Angst von der Idee eines unerkannten Feindes genährt. Die meisten guten Horror-Geschichten weisen einen raffinierten Gegenspieler auf, der sich versteckt hält, um seine wahre Natur erst dann zu zeigen, wenn es für das unschuldige Opfer zu spät ist, sich zu retten. Der Wolf gibt vor, die Großmutter zu sein, und Rotkäppchen glaubt ihm – bis er zuschlägt. Die gestörte Heldin in Fatal Attraction – Eine verhängnisvolle Affäre ist die Doppelgängerin einer erfolgreichen, glamourösen Geschäftsfrau – und erst, als es zu spät ist, merkt Michael Douglas, dass er von einer gemeingefährlichen Psychotikerin umgarnt wurde. Und welche heißblütige Amerikanerin hätte nur einen Moment lang Angst vor dem sanftmütigen Norman Bates [in Hitchcocks Psycho]?

Eine der besten Horrorgeschichten aller Zeiten, die zudem den Protokollen sehr nahe kommt, ist der Filmklassiker Invasion of the Body Snatchers [dt.: Die Dämonischen, 1956; Die Körperfresser kommen, 1978; Invasion, 2007]. Dieser Film, der sich aus der Atmosphäre von der Verdächtigung und Anklage speist, die im Kalten Krieg herrschte, vor allem in der McCarthy-Ära, befördert die Angst, indem er eine vollständige Kolonie von Klonen vorführt, deren wahre Identität schon deshalb keine Neugierde erweckt, weil sie den normalen Einwohnern täuschend ähneln – bis der Schaden eingetreten ist und nur wenige mutige Menschen zur Besinnung kommen. Geschickt nutzt der Film die Tatsache aus, dass Angst auf der Vorstellung von etwas Verborgenem gedeiht, von Gefahr, die hinter der Fassade der Normalität lauert. Die Protokolle machen sich diese Neigung zunutze, die vermutlich tief in der Biologie der Angst verborgen liegt, und porträtieren die Juden als De-facto-Körperfresser, die vorgeben, gute Bürger und sogar Quasi-Christen zu sein (indem sie christlichen Werten das Wort reden, sich mit Christen vermählen und in manchen Fällen auch konvertieren) – bis die Zügel der Macht sicher in ihren Händen liegen.

Logische Folge der Vorstellung des versteckten Bösen ist die Idee der höheren Einsicht: Der Mensch, der erkennt, dass Juden gefährlich und schlecht sind, wird in dieser Fiktion als derjenige dargestellt, der die Verkleidung durchschaut, bevor andere dies tun; der Mutige, der am Ende die ganze Gemeinschaft rettet; der tapfere Pfadfinder, der die Schlange, die im Gras lauert, bemerkt und sich ihr entgegenstellt. Die Andeutung der höheren Einsicht schmeichelt den Lesern: Sie werden zu Wissenden gemacht, indem sie die böse Macht demaskieren, die ihr wahres Gesicht verhüllt hat.

Diese Vorstellung hat in den Debatten über den Islam in Europa große symbolische Bedeutung angenommen. Der obsessive Fokus auf die Entfernung des Schleiers entspricht einer langen Tradition (in Märchen, Filmen und im richtigen Leben), einer Tradition, sich die Existenz einer geheimen Verschwörung vorzustellen, die plötzlich aus dem Versteck auftaucht und uns töten wird, wenn die Zeit dafür reif ist. Die Neigung, das plötzliche Auftauchen eines überraschenden Angreifers zu fürchten, ist in unserer Biologie begründet. Sie hat der Menschheit immer genützt. Sie kann aber auch zum Quell irrationaler und falscher Reaktionen werden.

Europäische Nichtjuden, die den Protokollen glaubten, hatten reale Sorgen: wirtschaftliche Unruhen, politische Gewalt. Die Menschen begriffen zum damaligen Zeitpunkt diese Kräfte nicht, und auch aus der Rückschau kann man sie nur schwer begreifen. Wie einfach ist es also, in die Märchenfalle zu geraten und sich vorzustellen, das, was man fürchtet, könnte man leicht einer einzigen Gruppe zuschreiben, die ohnehin schon unbeliebt ist, deren Unterschiede in Religion und Kleidung sie längst als mögliche Verdächtige ausgemacht hatten; anzunehmen, dass eben das respektable und respektvolle Verhalten dieser Gruppe nur ein weiterer Beleg ist, der die Tätigkeit einer verborgenen Verschwörung bestätigt. Reißen wir aber den Schleier von dieser Gruppe, sind unsere Probleme verschwunden.

Die neue religiöse Intoleranz

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