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Die USA: Kopftücher, Moscheen, das Gesetz der Scharia

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Die Vereinigten Staaten haben in jüngerer Zeit wenig religiöse Gewalt erlebt (es sei denn, wir zählen die Bomben von Oklahoma City 1995 dazu, gezündet von christlichen Miliz-Mitgliedern unklarer Herkunft, deren Motive sich gegen die Regierung richteten, weniger gegen Einwanderer oder religiöse Minderheiten). Obwohl Heterogenität und religiöser Pluralismus in den USA immer wieder betont werden, fehlte es dort nie an Vorurteilen und gelegentlicher Gewalt gegen neue Religionsgruppen. Die frühen Siedler vertrieben diejenigen, deren religiöse Ansichten als ketzerisch galten (so wurde Roger Williams gezwungen, von Massachusetts nach Rhode Island zu fliehen).22 Juden, Quäker, Baptisten und Mennoniten waren in manchen Kolonien willkommen, aber nicht in allen.23 Im 19. Jahrhundert ließ eine Welle katholischer Einwanderer aus Irland und Südeuropa bösartige Vorurteile aufkommen, als der Nativismus zu einem populären politischen Thema wurde.24 In der einen oder anderen Gestalt ist bis in die allerjüngste Zeit der Anti-Katholizismus ein bestimmender Faktor im politischen Leben Amerikas geblieben: Während des Kalten Krieges warnte der Journalist Paul Blanshard in seinem Bestseller American Freedom and Catholic Power (1947) seine Landsleute, der Katholizismus sei eine ebenso große Gefahr für die amerikanische Demokratie wie der Weltkommunismus. Seither waren nicht nur kleinere Gruppen wie die Mormonen und Zeugen Jehovas Vorurteilen und direkter Gewalt ausgesetzt.25 Antisemitismus war in den 1970er Jahren außerordentlich verbreitet und ist bis heute nicht verschwunden.26 Wie also reagieren die Amerikaner auf das gegenwärtige Aufkommen neuer religiöser Ängste?

Die Antwort der USA ist vielfältiger als die europäische, weil in Amerika mehrere Religionen betroffen sind. Auch Juden sind hier nicht von Verdächtigungen ausgenommen – vor allem, wenn sie Fremde sind. Drei mexikanische Juden, die während eines Fluges der Alaska Airlines von Mexiko nach Los Angeles beten wollten, mussten den Flug abbrechen und wurden vom FBI verhört.27 Nach den Ereignissen von 9/11 wurde der Turban der Sikhs gern mit muslimischer Kleidung verwechselt, und Sikhs wurden an Flughäfen schikaniert, waren in manchen Fällen sogar Opfer gewalttätiger Übergriffe.28 Noch immer klagen Sikhs darüber, dass Luftfahrtgesellschaften ihre Turbane untersuchen, obgleich der TSA (Transportation Security Administration) Alternativen wie das Abtasten von Turbanen vorgeschlagen hat, ebenso eine Selbst-Abtastung, nach der die Hände der Betroffenen auf chemische Rückstände untersucht werden.29 Unlängst hat die US-Armee Sikh-Rekruten gestattet, ihre Turbane zu behalten.30 Die Sikhs haben eine lange Tradition im gehobenen Militärdienst und waren immer schon leidenschaftliche Fürsprecher für Veränderungen. George Wright, ein Armeesprecher, sagte: „Es ist Politik der Armee, religiösen Praktiken Raum zu geben, solange diese Praktiken sich nicht hinderlich auf militärische Erfordernisse auswirken.“ Auch der Hinduismus ist auf Schwierigkeiten gestoßen: Das erste Hindu-Gebet im US-Senat wurde durch organisierte Störer unterbrochen, die sich selbst als „Christen und Patrioten“ bezeichneten. Allerdings schaffte es der Protest nicht, das Hindu-Gebet zu beenden: Die Unruhestifter wurden wegen „Störung des Kongresses“ auf der Besuchergalerie festgenommen, und ihre Tat wurde auf den Fluren des Senats von Mehrheitsführer Harry Reid verurteilt.31

Doch die größte Anzahl einschlägiger Zwischenfälle in den USA wie in Europa steht mit dem Islam in Zusammenhang. Mir ist zwar kein Vorstoß bekannt, die Burka zu verbieten, doch auch das Kopftuch hat hier und da zu Zwischenfällen geführt. Eine 31-jährige Muslima mit Kopftuch wurde aufgefordert, einen Southwest-Airlines-Flug zu verlassen, nachdem eine Stewardess ein Gespräch auf dem Handy aufschnappte, worin die Muslima angeblich gesagt hatte: „Es läuft [It’s a go]“ – obgleich die Muslima meinte, sie hätte tatsächlich gesagt: „Ich muss jetzt los“ [I’ve got to go], als der Flug zum Start bereit gemacht wurde. Nachdem man ihr Kopftuch abgetastet und mit ihr gesprochen hatte, erkannte die TSA sehr schnell, dass hier ein Fehler gemacht worden war, weshalb weder ihr Handy noch ihre Brieftasche untersucht wurden. Dennoch wurde ihr nicht gestattet, an Bord zurückzukehren, weil dies der Crew peinlich war. Sie erhielt zwei mündliche Entschuldigungen seitens der Airline und einen Gutschein, den sie aber verschenken will, weil sie nicht mehr mit Southwest fliegen möchte. Am Ende erhielt sie eine offizielle, öffentliche Entschuldigung.32 Andererseits verklagt Imane Boudlal, eine Disneyland-Angestellte aus Marokko, Disney, weil sie bei ihrer Arbeit als Hostess in Disneylands Grand Californian Hotel ihr Kopftuch tragen will. Ihre Vorgesetzten teilten ihr mit, dies sei nicht der „Disney Look“. Wenn sie das Kopftuch weiterhin tragen wolle, müsse sie eine Stelle außerhalb des Sichtbereichs der Besucher annehmen. Man schlug ihr einen Kompromiss vor: einen großen, männlich wirkenden Hut, den sie über ihrem Hijab tragen konnte, was auf einem Foto allerdings ziemlich lächerlich aussieht. Imane Boudlal lehnte diesen Kompromiss ab.33 Noor Abdallah, eine junge Muslima aus Illinois, die als Volontärin für Disney in Kalifornien arbeitet, akzeptierte einen etwas plausibleren, dennoch merkwürdigen Kompromiss, indem sie eine blaue Baskenmütze über ihrem Hijab trug.34 Die Idee dahinter: Der Anblick dieser Frauen, die wie glaubenstreue Musliminnen aussehen, würde den Kunden missfallen. Abdallah ist mit dem Kompromiss zufrieden, doch Boudlal versucht, ihren Fall weiter durchzusetzen. Es wurden noch weitere Klagen von Angestellten berichtet, und die Anzahl solcher Klagen scheint derzeit anzusteigen.35 Doch die Öffentlichkeit muss sich der Auseinandersetzung noch stellen. Als einer Frau in Georgia das Betreten des städtischen Gerichts in Douglasville verwehrt wurde, nachdem sie sich geweigert hatte, ihr Kopftuch abzunehmen, empfahl der Staat Georgia, dass religiöse Kopfbedeckungen in allen staatlichen Gerichtsgebäuden zuzulassen seien.36

Das Kopftuch hat in einigen wenigen Fällen von privaten Unternehmern Probleme verursacht, doch in mindestens zwei Fällen haben auch Moscheen öffentlichen Widerstand hervorgerufen. In den USA gibt es zwar nichts, das dem Minarett-Verbot in der Schweiz entsprechen würde, doch die Planungsbehörde in DuPage County in der Nähe von Chicago hat einen Plan zurückgewiesen, wonach in Willowbrook eine Moschee erbaut werden sollte – nachdem dieselbe Behörde schon einen Plan abgewiesen hatte, der die Errichtung eines islamischen Schulzentrums und eines Bethauses bei Naperville vorsah. Zudem hat diese Planungsbehörde das Vorhaben eines islamischen Religionszentrums in West Chicago abgelehnt. In allen genannten Fällen ist der Bezirk besorgt wegen angeblicher Übersättigung mit religiösen Einrichtungen und dementsprechenden Verkehrs- und Abwasserproblemen. Fast jede andere Religion aber hatte sich dort ausbreiten können. Nahe dem vorgesehenen Bauplatz in Willowbrook befinden sich ein buddhistisches Meditationszentrum, eine [hinduistische] Chinmaya-Mission sowie eine mazedonisch-orthodoxe Kirche.37 In diesem Bezirk gibt es zudem viele christliche Kirchen und jüdische Synagogen. Daher ist es ziemlich schlecht, die Linie der „Übersättigung“ so zu ziehen, dass ausgerechnet die am schnellsten wachsende Gruppe des Bezirks ausgegrenzt wird. Damit zusammenhängende Hinweise auf fallende Grundstückspreise nähren den Verdacht der Voreingenommenheit. Im Oktober 2011 wurde ein weiterer Plan für ein islamisches Gemeindezentrum an der 248. Avenue in Naperville von der Stadtplanungskommission ebenfalls zurückgewiesen, wieder mit dem öffentlichen Argument der Übersättigung und möglicher Verkehrsprobleme. Auf dem vorgesehenen Grundstück warnten Schilder: „Sagt Nein zur Moschee an der 248.“

Bei einer ähnlichen Begebenheit führte der Plan zur Errichtung eines islamischen Gemeindezentrums in Murfreesboro, Tennessee (Erweiterung eines seit dreißig Jahren bestehenden Zentrums), zu lautstarken Protesten, als die Bezirkskommission tagte und Hunderte von Gegnern im Juni 2010 das Treffen stürmten. Zwei Monate darauf wurden mehrere Baumaschinen durch Brandstiftung am Bauplatz zerstört. Das FBI wurde zur Untersuchung des Falles herbeigerufen; weitere islamische Gebetsorte in dieser Gegend erhöhten ihre Sicherheitsvorkehrungen. Inzwischen hat das Justizministerium das Recht der islamischen Gruppe auf Errichtung eines Gebetsortes bekräftigt, dies als Antwort auf die Klage von örtlichen Grundstückseignern gegen den Bezirk.39 Und im Januar 2011 wurde ein versuchter Bombenanschlag auf das Islamic Center of America in Michigan durch die Polizei vereitelt. Roger Stockham, ein 63-jähriger Armeeveteran aus Kalifornien mit einer Vorstrafe wegen Islamfeindlichkeit, wurde festgenommen; er besaß eine große Anzahl an Sprengsätzen. Man befand ihn jedoch für unfähig, der Verhandlung folgen zu können.40

Obwohl in diesem Falle der Täter ein Einzelgänger war, scheinen sich die Proteste und Drohungen gegen Moscheen auszuweiten. Zwischen Mai und September 2010 zählte die American Liberties Union dreißig existierende oder geplante Moscheen, die Vandalismus, öffentlichem Protest oder starker Opposition aufgrund von Islamfeindlichkeit ausgesetzt waren.41

Ein weiterer Punkt, der in den USA zu Kontroversen Anlass gibt, ist die mögliche Anwendung der Scharia, des islamischen Gesetzes, auf US-Bürger. In Oklahoma sieht ein Zusatz zur staatlichen Verfassung vor, der mit 70 % der Stimmen angenommen wurde, dass sich Gerichte in Oklahoma auf das US-Bundesgesetz, das Gemeindegesetz und „wenn nötig auf Gesetzesvorschriften eines anderen Staates“ beziehen dürfen, aber nicht „auf Gesetzesvorschriften anderer Nationen und Kulturen“, auf „internationales Recht oder das der Scharia“.42 Der hauptsächliche Verfasser dieses Gesetzes, Rex Duncan, sagte: „Dies ist ein Krieg um das Überleben Amerikas. Es ist ein Kulturkrieg.“43

Dieser schlecht durchdachte und uneindeutige Zusatz (genannt der „Rettet-unseren-Staat-Zusatz“) wirft eine ganze Reihe von Problemen auf – etwa, dass das Gewohnheitsrecht englischen Ursprungs ist und die Anklage nach internationalem Recht auch im Sinne einer Anrufung anerkannter Gesetzesquellen wie des Seerechts und internationaler Verträge ausgelegt werden kann. Doch der hervorstechendste Punkt ist die Überflüssigkeit (der ganzen Sache): Schon die Gründungs-Klausel [establishment clause] des Ersten Zusatzes zur US-Verfassung schließt aus, dass vor amerikanischen Gerichten die gesetzlichen Vorschriften irgendeiner Religion bevorzugt werden. Das Gesetz wurde daher von islamischen Gruppen angefochten, weil es den Islam als einzige Religion stigmatisiert, und der Fall wurde von einer Bezirksrichterin auf Grundlage der genannten Einleitungs-Klausel angenommen. Die Richterin blockierte vorübergehend die Inkraftsetzung dieses Gesetzes bis nach einer weiteren Anhörung; später dehnte sie ihre einstweilige Verfügung zeitlich unbegrenzt aus. Sie befand, dass das Gesetz keinem säkularem Zweck diene, dass vielmehr dessen „Hauptabsicht die Religion behindere“ und die übermäßige Einmischung des Staates in religiöse Angelegenheiten befördere.44

Außerdem hielt die Richterin fest – und Wissenschaftler folgten ihr –, dass das Gesetz den Muslimen eine besondere Belastung auferlege, da es Gerichten gestattet ist, Verträge (wie etwa Testamente und Eheverträge) in Kraft zu setzen, die auch Sprache aus anderen religiösen Traditionen umfasst. Wie Azis Huq, Professor der Rechtswissenschaft an der Universität Chicago, in der New York Times schrieb:

„Die Verbote würden Muslime vom gleichen Zugang zum Gesetz ausschließen. Ein Fleischer könnte nicht mehr seine Verträge, die Halal-Fleisch betreffen, einhalten – Verträge, die, wie auch solche für koschere und andere, vom Glauben sanktionierte Nahrung, regelmäßig und landesweit durchgesetzt werden. Auch könnte ein muslimischer Banker keine Entschädigungen für die Zuwiderhandlungen eines Finanzinstruments anstreben, die als Scharia-Klage ausgewiesen sind, weil keine Zinsen anfallen.“45

Der Oklahoma-Streitfall hat eine Welle anti-muslimischer Stimmungen quer durch den Staat losgetreten. Und er hat weitere Bundesstaaten veranlasst, ähnliche Maßnahmen zu ergreifen, wobei mit einer Sprache gearbeitet wurde, die Verfassungs-Probleme wie bei dem Oklahoma-Gesetz vermeidet.46 Am bizarrsten mutet vielleicht ein Gesetzesentwurf in Tennessee an, der das Befolgen der Scharia als Verbrechen einstuft, das mit 15 Jahren Gefängnis bestraft wird.47 Da die Scharia, wie auch das traditionelle jüdische Gesetz, sich auf einen Großteil des persönlichen Verhaltens erstreckt wie etwa auf den Verzicht von Alkohol, auf Nahrungsvorschriften, auf Regeln für das Gebet und auf einen geschäftlichen Ehrenkodex, ist das Tennessee-Gesetz in fixierter Form einfach lächerlich. Doch allein schon die Tatsache, dass es ernsthaft vorgeschlagen werden konnte, beweist ein hohes Maß an öffentlicher Ignoranz und Argwohn. (Als derartige Einwände dem Urheber des Gesetzesentwurfs vorgehalten wurden, meinte er: „Das untersuche ich noch.“)

In der Tat gibt es handfeste Beweise dafür, dass in den USA die Vorurteile gegenüber den Muslimen ansteigen. Klagen wegen beruflicher Diskriminierung von Muslimen vor der Equal Employment Opportunity Commission, EEOC [Kommission für Gleichberechtigung bei der Arbeit] haben in letzter Zeit zugenommen. Sämtliche Meinungsumfragen bestätigen einen erneuten Aufschwung anti-muslimischer Haltungen.48

Die neue religiöse Intoleranz

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