Читать книгу Die neue religiöse Intoleranz - Martha Nussbaum - Страница 17

Rationale Angst: Hurrikan Irene, Flughafen-Sicherheitskontrollen

Оглавление

Gegen Ende August 2011 traf ein mächtiger Hurrikan namens Irene auf die Ostküste der Vereinigten Staaten. Die Meteorologen informierten Behörden und Öffentlichkeit über dessen wahrscheinlichen Weg und seine Stärke. Diese Informationen lieferten sogar den Grund, einen großen Streik im Gebiet von New York vorzuziehen. Bürgermeister Michael Bloomberg wandte sich in dieser Zeit an die Öffentlichkeit und mahnte zur Vorsicht. Wiederholt sagte er den Menschen, sie sollten nicht still bleiben und den Sturm als ernsthafte Bedrohung sehen – kurz: Sie sollten um ihre Sicherheit fürchten. Am Ende ordnete er die Zwangsevakuierung einiger tiefer liegender Gebiete an und empfahl nachdrücklich, weitere Gebiete zu verlassen. Obwohl er die Übertreibungen der Zeitungen vermied („Gemeine Irene“, „Monsterhurrikan kreist New York City ein“, „Monster! Wütende Irene braust direkt auf die USA und die Stadt vor“), hat er dennoch Furcht erregt: Geht nicht schwimmen, es ist zu gefährlich. Meldet euch bei euren Verwandten an. Verbringt die Nacht woanders. Geht weg von hier. Unterschätzt die Gefahr nicht. Auch wenn der Sturm, als er endlich eintraf, sich als schwächer denn erwartet erwies und relativ wenig Schaden anrichtete, waren die Menschen überwiegend mit den Vorsichtsmaßnahem ihres Bürgermeisters zufrieden.

Dies ist also ein Fall, wo ein Politiker Angst verbreitet und auch die Neigung zur Schreckhaftigkeit ausnützt, indem er die Gefahr als groß darstellt, als unmittelbar und drohend – und irgendwie scheint das ja auch richtig zu sein. Was ist daran richtig? Als Erstes und Wichtigstes beruhte der Appell an die Angst auf den neuesten wissenschaftlichen Beweisen. Zweitens wurde die Gefahr genau und unverzerrt beschrieben – als großer Hurrikan, nicht als göttliche Strafe für gleichgeschlechtliche Ehen oder andere groteske Dinge, die damals geäußert wurden. Drittens beruhte die Warnung auf einem Begriff des Wohlergehens, den niemand in Abrede stellen konnte: Leben und Sicherheit, das eigene und das der Nächsten, sollten vor bloßer Gewohnheit und Bequemlichkeit rangieren. Viertens sprach Bloomberg ein tatsächliches Problem an: Menschen sind Gewohnheitswesen und lassen nur schwer von gewohnter Routine ab, vor allem, wenn die Sonne scheint. Auch die Verfügbarkeitsheuristik spielt hier ihre verzerrende Rolle: Die meisten New Yorker hatten noch keinen Hurrikan erlebt, weshalb sie leicht glauben konnten, das kommende Ereignis würde nicht schlimmer werden als ein durchschnittlicher Sturm und alle Berichte sich als falscher Alarm herausstellen – bis der Sturm da und es zu spät ist, um zu fliehen. So hat Bloomberg im Effekt die Entstellungen der Verfügbarkeitsheuristik ausgeschaltet, indem er die Gefahr verfügbar und greifbar machte. Und schließlich war diese Angst ja auch nicht darauf abgerichtet, eine bestimmte Gruppe von Menschen zu dämonisieren oder zu stigmatisieren und sie benutzte auch keinerlei Vergiftungs-Phantasien. Bloomberg hat versucht, eine Informationskaskade in Bezug auf gesundes und verantwortliches Verhalten loszutreten – und hatte Erfolg damit, wenn auch nicht ohne die Zwangsevakuierung. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Menschen ohne die dringenden Appelle ihres Bürgermeisters an die Angst sich in Wohlbehagen gehüllt hätten, weshalb diese Appelle dem guten Resultat am Ende förderlich waren.

Bleiben wir noch ein wenig in den USA: Die 9/11-Terroranschläge und andere terroristische Ereignisse, die man mit islamischen Extremistengruppen verbindet, haben eine bestimmte Art der Fahndung bewirkt, durch die Menschen auf Flughäfen mit Hilfe von Ganzkörper-Durchsuchungen ausgeforscht werden. Sie haben zu Flugverbotslisten geführt, die vermutliche Terroristen ausschließen. Im Großen und Ganzen sind solche Maßnahmen, sofern sie überlegt eingesetzt werden, auch vernünftig. Sie reagieren auf ein tatsächliches Problem, und selbst wenn die Anzahl der terroristischen Vorfälle gering ist, macht deren katastrophische Natur die Vorsicht zu einer Maßnahme der Vernunft, wenn als einziger Nachteil längere Warteschlangen und einige Unbequemlichkeiten entstehen. Mit anderen Worten ist die Idee des Wohlergehens in diesem Falle eine, die niemand infrage stellen konnte. Die neuen Körperscanner reduzieren die Notwendigkeit des Abtastens einigermaßen, haben zudem mehr Gleichheit bei der Behandlung der Passagiere bewirkt. Doch immer noch ist eine gewisse Durchsuchung wohl vernünftig und als solche auch nicht offensiv, sofern sie respektvoll durchgeführt und von klarer Information und tatsächlichen Beweisen gestützt wird.

Menschen aufgrund ihrer Religion oder ethnischen Zugehörigkeit auszusondern ist immer problematisch, weil hier das Risiko besteht, eine Gruppe zu stigmatisieren und Spannungen zu verschärfen. Daher sollten Geheimdienste besser detailgenau statt grob arbeiten. Beispielsweise sollten Sicherheitsmitarbeiter nicht jeden mit Namen Ali aufhalten, nur weil der Name Ali auf der Flugverbots-Liste steht, und nicht alle Muslime sollten als Muslime kontrolliert werden. Diese Politik ist so ineffizient wie stigmatisierend. Irrtümer und Verletzungen allerlei Art sind mittlerweile Legion. Dieses Vorgehen ist ineffizient, weil es auf ungenauer Information beruht und zudem Mitglieder der Gemeinschaft aussondert, die für Geheimdienste von höchstem Wert sein könnten. Auch ist es zutiefst verletzend, ausschließlich Muslime als potentielle Terroristen anzusehen und dabei die Existenz anderer terroristischer Gruppen zu ignorieren (Neonazis, Öko-Terroristen und dergleichen). Ein System, das so vorgeht, sucht weniger das menschliche Wohlergehen und handelt vielmehr nach groben Klischees.

Am Ende ist es vermutlich am besten, alle zu durchsuchen, wie dies heute mit den Körperscannern geschieht. Flughäfen in Indien bewerkstelligen sogar das vollständige Abtasten jedes einzelnen Passagiers; respektvoll und hinter einem Vorhang, ohne dass das Reisen ungebührlich aufgehalten wird. Für Sicherheitsbeamte ist es aber immer sinnvoll, sich aussagekräftige Informationen zu beschaffen und dann auf Grundlage einer gewissen Verallgemeinerung nach diesen Informationen zu handeln. Auf diese Weise wird die Öffentlichkeit gar nicht erst daran gewöhnt, alle Muslime als terrorverdächtig anzusehen, und nicht von der Tatsache der 9/11-Anschläge zu dem falschen Schluss verleitet, dass ein großer Teil der Muslime aus Kriminellen besteht. Doch angesichts der Existenz gewalttätiger islamischer Extremistengruppen, die in der Tat viele Nationen bedrohen, ist es klug, wenn die Strafverfolgungsbehörden diese verfolgt und darauf reagiert – am besten auf wenig offensive und stigmatisierende Weise.

Die neue religiöse Intoleranz

Подняться наверх