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Gesundheit ist nicht alles

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»Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts«, lautet eine fundamentale Einsicht. Wir alle streben nach einem möglichst gesunden, zufriedenen und langen Leben. Wie diese ewige Gesundheit zu erreichen ist, scheinen offenbar viele zu wissen, denn die Informationen hierzu in Form von Büchern, Filmen, Podcasts, YouTube-Videos und den dazugehörigen »Beratern« ist kaum überschaubar. Begleitet von einem stetig steigenden Angebot an unzähligen Nahrungsergänzungsmitteln und sonstigen »lebensverlängernden« Substanzen, wird auf diesem Sektor jährlich ein Millionenumsatz erzielt. Die einen schwören auf dies, andere auf jenes, doch eine Panacea, ein sprichwörtliches Allheilmittel, hat offenbar noch niemand gefunden. Denn obwohl viel Geld für fragwürdige Diäten, Gesundheitsgurus, Coaches und Berater (egal, ob das Leben oder die Ernährung betreffend) ausgegeben wird, sprechen die Gesundheitsstatistiken eine ziemlich deutliche Sprache: Während unsere Zivilisation mit all ihren Errungenschaften und Annehmlichkeiten voranschreitet, scheint es mit unserer Gesundheit nicht gerade zum Besten bestellt zu sein. Auch wenn manche auf unsere in den letzten Jahrzehnten deutlich gestiegene Lebenserwartung verweisen, so ist das nicht gleichbedeutend mit einer stetig steigenden Gesundheit in der Bevölkerung.

Medizinischer und ökonomischer Fortschritt – und damit ein besseres Leben – lassen sich an der allgemeinen Zunahme der Lebenserwartung ablesen, lautet die gängige, durchaus nachvollziehbare Ansicht. Aber ähnlich wie bei der vereinfachten Gleichung, ein steigendes mittleres Prokopfeinkommen eines Landes sei gleichbedeutend mit individuellem Wohlstand und Wohlergehen, liegt auch dieser Annahme eine unzulässige Vereinfachung zugrunde. »Mehr« ist in beiden Fällen nicht zwangsläufig mit »besser« gleichzusetzen. Denn eine steigende Lebenserwartung gibt keinesfalls automatisch Auskunft darüber, ob die im Zuge des Fortschrittes gewonnenen Lebensjahre auch in Gesundheit verbracht werden.

Um diese Realität besser abzubilden, hat die Wissenschaft Kenngrößen wie Disability adjusted Life Years (DALYs) oder Healthy Life Years (HLY) definiert. Diese Indikatoren beschreiben die Anzahl jener Lebensjahre, die eine Person tatsächlich in Gesundheit bzw. frei von Behinderung und Krankheit verbringt oder statistisch verbringen wird. Derartige Kategorien sind daher als eine ganz wesentliche Ergänzung des Indikators Lebenserwartung zu sehen, da nicht alle Lebensjahre einer Person in guter Gesundheit verbracht werden. Das sagt uns schon die Lebenserfahrung. Lebensqualität und Lebenserwartung sind nicht dasselbe. Jeglicher Verlust an Gesundheit zieht erhebliche individuelle und gesellschaftliche Nebeneffekte nach sich und hat schließlich auch weitreichende Folgen für Verbrauch und Produktivität innerhalb einer Volkswirtschaft.

So liegen Österreich und Deutschland zwar im EU-Spitzenfeld, was den Anteil der Gesundheitsausgaben gemessen am Bruttoinlandsprodukt betrifft. Doch bedeutet dies, dass wir in diesen Ländern auch die gesündesten Menschen antreffen? Nein, sagt die Statistik. Während wir in beiden Ländern derzeit zwar eine durchaus ähnlich hohe durchschnittliche Lebenserwartung vorfinden (ca. 84 Jahre bei Frauen und ca. 79 Jahre bei Männern), fällt die Anzahl gesunder Lebensjahre (ohne Krankheit oder Behinderung) vor allem in Österreich im EU-Vergleich äußerst bescheiden aus. Laut Datenerhebung von Eurostat aus dem Jahr 2016 haben Herr und Frau Österreicher bei der Geburt im statistischen Schnitt mit etwa 57 gesunden Lebensjahren zu rechnen. Im EU-Schnitt sind es hingegen rund 64 gesunde Lebensjahre und in Schweden gar 73.

Den relativ hohen staatlichen Gesundheitsausgaben steht also ein eher ernüchternder Gesundheitszustand der Bevölkerung gegenüber. Dass Österreich nur 1,7 Prozent seines Gesundheitsbudgets für Prävention und Gesundheitsförderung ausgibt, mag einer der Gründe hierfür sein.1

Im Schnitt der OECD-Länder liegt dieser Wert gut doppelt so hoch bei 3,4 Prozent. Wir wissen aber mittlerweile, dass für jeden in Krankheitsprävention und Umweltbewusstsein investierten Euro geschätzt etwa zwei bis vier Euro an gesamtökonomischem Benefit zu erwarten sind. Prävention zahlt sich also auf jeder Ebene aus, sowohl auf der persönlichen als auch auf der ökonomischen Ebene eines Landes.

Ein großer Teil dieser verloren gegangenen gesunden Lebensjahre geht auf das Konto der ernährungsassoziierten Erkrankungen, also auf Krankheiten, die durch Ernährungsgewohnheiten (mit)verursacht werden bzw. durch Ernährungsgewohnheiten oder entsprechende Maßnahmen verhindert bzw. behandelt werden könnten.

In meinem letzten Buch, »Das leise Sterben. Warum wir eine landwirtschaftliche Revolution brauchen, um eine gesunde Zukunft zu haben«, habe ich bereits einige Punkte unsere Gesundheit betreffend angesprochen, konnte aber nicht bei allen Themen ins Detail gehen. Dass dies offenbar für manche zu wenig bzw. etwas unbefriedigend war, haben mir die zahlreichen Zuschriften und die Publikumsfragen während der Diskussionen nach meinen Vorträgen gezeigt.

»Was soll ich konkret tun, um meine Gesundheit wiederzuerlangen, den richtigen Lebensstil zu finden, nachhaltig zu leben, die richtigen Lebensmittel für meine Familie einzukaufen …? Welche ›Superfoods‹ und Nahrungsergänzungsmittel empfehlen Sie? Welche Lebensmittelzusatzstoffe sind schädlich?« usw. So oder ähnlich lauteten die meisten der gestellten Fragen. Alles durchaus berechtigte Fragen jedes und jeder Einzelnen. Vermutlich fiel meine Antwort in vielen Fällen aber enttäuschend aus, denn einfache und kurze Antworten oder gar schnelle »Lösungen«, die für jede und jeden gleichermaßen zutreffen, gibt es, wie wir im Folgenden sehen werden, für all diese Fragen schlicht nicht. Ich bin allerdings der Auffassung, dass es äußerst hilfreich sein kann, die »richtige« Betrachtungsweise bezüglich der tieferen, all diesen Fragen zugrunde liegenden Zusammenhänge zu kennen, um stets selbstständig für die eigene Lebenssituation die richtigen Entscheidungen treffen zu können – zumindest soweit dies auf Basis der momentanen wissenschaftlichen Erkenntnisse möglich ist. Ich versuche, mit meinen Ausführungen einem Ausspruch Albert Einsteins zu folgen, wonach man die Dinge so einfach wie möglich machen sollte, aber nicht einfacher. Auch wenn es dadurch an manchen Stellen vielleicht etwas komplizierter wird, werde ich versuchen, die Zusammenhänge so einfach wie möglich zu schildern und nichts unerklärt zu lassen.

Die zwei neuen Schlagworte in diesem Zusammenhang lauten Health Literacy und Eco Literacy, also Gesundheits- und Ökokompetenz. Unter Gesundheitskompetenz ist die Fähigkeit zu verstehen, im täglichen Leben Entscheidungen zu treffen, die sich positiv auf die persönliche Gesundheit auswirken. Analog dazu ist ökologische Kompetenz die Fähigkeit, natürliche Systeme, die das Leben auf der Erde ermöglichen, zu verstehen und diese Prinzipien für die Schaffung nachhaltiger menschlicher Lebensgemeinschaften sowie das eigene Leben anzuwenden. Leider haben Untersuchungen gezeigt, dass vor allem die Gesundheitskompetenz sowohl der Österreicher als auch der Deutschen deutlich unter dem europäischen Durchschnitt liegt.2

So sieht sich mehr als die Hälfte der österreichischen und deutschen Bevölkerung im Umgang mit gesundheitsrelevanten Informationen vor erhebliche Schwierigkeiten gestellt.

Zudem herrscht sowohl in der Medizin selbst als auch unter der weitaus größeren Gruppe der medizinischen Laien eine etwas unvollständige Sicht auf unseren Körper und seine möglichen »Gebrechen« bzw. deren tiefer liegende Ursachen. Im Vordergrund stehen vor allem Fehlannahmen hinsichtlich dessen, was idealerweise sein sollte (»Gesundheit«), und dem, was die ursächlichen Zusammenhänge im Rahmen von Fehlfunktionen betrifft (»Krankheit«). Das, was ich als »tiefer liegende Ursachen« bezeichne, bezieht sich nicht auf den unmittelbaren Auslöser einer Krankheit, sondern vielmehr auf die alles entscheidende Frage, warum wir überhaupt für die eine oder andere Krankheit anfällig sind bzw. geworden sind. Einige aufschlussreiche Antworten finden wir, wie so oft, wenn wir einen umfassenden Blick in unsere Vergangenheit werfen und die dabei gewonnenen Erkenntnisse mit der aktuellsten Wissenschaft und unserer gegenwärtigen Lebensweise abgleichen.

Eine relativ neue Wissenschaftsdisziplin, die sich mit dieser langen (evolutionären) Vergangenheit in Verbindung mit den ungelösten medizinischen Fragen der Gegenwart beschäftigt, ist die sogenannte Evolutionäre Medizin (engl. Evolutionary Medicine).3

Ich werde später auf einige der durch diese evolutionäre Betrachtungsweise gewonnenen Einsichten genauer eingehen. Wenngleich diese Erkenntnisse in vielen Fällen nicht automatisch zu einer simplen Lösung im Sinne einer raschen und effektiven Behandlung von Krankheiten führen, so beinhalten sie doch viele Lösungsansätze, was die Verhinderung von Krankheiten und das bessere Verständnis ihrer Entstehung betrifft. So viel sei jetzt schon verraten: Die Ernährung und unsere Umwelt (bzw. wie wir diese gestalten) spielen hierbei eine ganz entscheidende Rolle.

Apropos Umwelt. Betrachten wir die evolutionäre Vergangenheit von Organismen, egal ob Mensch, Pflanze oder Mikrobe, so ist klar, dass wir dabei auch immer die komplexen Wechselwirkungen zwischen diesen Lebensformen selbst und deren Interaktion mit der Umwelt im weitesten Sinne mitberücksichtigen müssen.

Die wissenschaftliche Teildisziplin der Biologie, die sich mit den Beziehungen von Lebewesen (Organismen) untereinander und zu ihrer Umwelt beschäftigt und diese erforscht, nennt sich Ökologie. Integriert man die Erkenntnisse der modernen Evolutionsbiologie in ökologische Erklärungsmodelle, so erhält man das Fachgebiet der Evolutionsökologie. Tatsächlich werden heute in der Biologie zahlreiche ökologische Fragestellungen zu einem beträchtlichen Teil unter dem Aspekt der zugrunde liegenden Evolutionsprozesse untersucht.

Betrachten wir die Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt, befinden wir uns wiederum im biologischen Teilgebiet der Humanökologie. Hier wird es besonders spannend und aufschlussreich, denn, wie mittlerweile weithin bekannt ist, haben wir Menschen während der letzten 200 Jahre und ganz besonders während der letzten Jahrzehnte unsere Umwelt (und unsere Beziehung zu ihr) gravierenden Änderungen unterworfen. Diese umfassen tiefgreifende Änderungen und Zerstörungen von Ökosystemen im Zuge einer immer intensiveren Ressourcennutzung – sei es im Rahmen der Landwirtschaft, der Gewinnung und Verarbeitung von Rohstoffen und Bodenschätzen oder des Ausbaus unserer Infrastruktur. Eine mittlerweile weithin bekannte Folge ist der voranschreitende Klimawandel. Andere Konsequenzen, vor allem jene für unsere Gesundheit, sind hingegen nicht so ohne Weiteres auf den ersten Blick zu erkennen.

Wenn Sie mir bis hierher aufmerksam gefolgt sind, dann haben Sie zwangsläufig erkannt, dass wir wirklich sinnvolle, hilfreiche und fundamentale, weil lebensverändernde Einsichten nur dann gewinnen können, wenn wir alle oben genannten Teildisziplinen einer integrativen Sichtweise unterziehen. Wir müssen beginnen, systemisch zu denken, um uns dem Verständnis des unsichtbaren Netzes des Lebens zumindest annähern zu können.

Das unsichtbare Netz des Lebens

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