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Ein Wunder für sich

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Eine Schwangerschaft ist ein extrem komplexes und durchaus risikobehaftetes Ereignis, ohne dessen erfolgreichen Verlauf wir uns (weder Sie noch ich) innerhalb dieser Buchseiten nicht gefunden hätten. Grund genug, uns dieses Wunder kurz einmal näher anzusehen.

Die Entstehung eines neuen Menschen ist ein faszinierender Prozess, von dem wir noch lange nicht alle Details verstanden haben. Immerhin sollen sich innerhalb von neun Monaten aus einer einzigen befruchteten Eizelle später einmal die mehr als 300 verschiedenen Zelltypen eines Menschen an der anatomisch richtigen Stelle entwickeln.

Vorher muss sich der am siebten Tage bereits als kleiner Zellhaufen vorliegende Embryo aber erst einmal seine Versorgung sichern und in der Gebärmutterwand einnisten. Dabei entwickeln sich einige der Zellen zum Embryo, aus den anderen beginnt sich in den folgenden Wochen die Plazenta zu bilden. Letztere ist ein unterschätztes temporäres Organ, denn es dient dem ungeborenen Kind für die Zeit im Mutterleib gleichzeitig quasi als »Lunge«, als einzige Nahrungsquelle und als Abfallbeseitigungssystem. Das alles muss eine Plazenta leisten, während sie zusätzlich noch unerwünschte immunologische Vorgänge wie eine Abstoßungsreaktion zwischen zwei genetisch unterschiedlichen Organismen (Mutter und Kind) verhindern soll. Eine ausreichende Versorgung des Kindes mit Sauerstoff und Nährstoffen kann aber nur funktionieren, wenn sich die Plazenta beinahe wie ein invasiv wachsender Tumor tief in das mütterliche Gewebe der Gebärmutter eingräbt. Ein biologischer Balanceakt sondergleichen, der vermutlich erst durch die »Infektion« mit einem Retrovirus möglich wurde.

Plazentatiere wie Primaten, Nagetiere, Hunde und Katzen und deren Plazenten evolvierten vermutlich erst vor 150 bis 200 Millionen Jahren. Davor waren heranwachsende Embryos nur durch Eierschalen geschützt und erhielten ihre Verpflegung in Form eines Dotters.

Die »Infektion« mit dem angesprochenen Retrovirus (ähnlich HIV) ermöglichte die Entwicklung der alles entscheidenden zellulären Barriere zwischen Mutter und Kind: des sogenannten Syncytiotrophoblastens, einer einzigartigen Verschmelzung vieler Zellen, ermöglicht durch ein virales Protein namens Syncytin, dessen genetische Information vor langer Zeit Teil unseres Erbgutes geworden ist.14

Doch auch mit dieser Barriere stehen Mutter und Fötus im Interessenkonflikt. Denn im Laufe der Evolution hat der Fötus Eigenschaften entwickelt, um die Physiologie der Mutter zu manipulieren und die Übertragung von Ressourcen wie Nährstoffe und Energie für die eigene Entwicklung zu erhöhen. Allerdings kann der Energiebedarf des Wachstums eines zweiten, energiehungrigen Gehirns im Mutterleib eine Frau gegen Ende der Schwangerschaft metabolisch an ihr energetisches Limit bringen. Der Körper der Mutter hat daher Gegenmaßnahmen entwickelt, um einen übermäßigen Ressourcenfluss zu verhindern. Überschreitet schließlich der fetale Bedarf an Nährstoffen die Möglichkeiten der Mutter, endet die Schwangerschaft und die Geburt beginnt. Bis dahin aber handelt es sich aus biologischer und physiologischer Sicht bei einem Fötus um so etwas wie einen Parasiten, einen gutartigen Tumor, oder ein nicht abgestoßenes, genetisch fremdes Transplantat.

Und noch etwas Erstaunliches findet zwischen Fötus und Mutter statt, wofür die Wissenschaft derzeit nur unzureichende Erklärungen hat. Im Laufe der Schwangerschaft passieren offenbar einzelne fetale Zellen die Plazenta und gelangen so in den Blutkreislauf der Mutter. Wie Stammzellen sind auch fetale Zellen pluripotent, was bedeutet, dass sie sich in viele Gewebearten »verwandeln« bzw. differenzieren können. Im Blut der Mutter angekommen, zirkulieren diese Zellen im Körper und lagern sich in verschiedene Gewebe ein, wo sie sich über chemische Hinweise von benachbarten Zellen ganz unauffällig in das umgebende Gewebe integrieren können. Dieses Phänomen wurde vor mehreren Jahrzehnten entdeckt, als im Blut einer Frau mehr oder weniger zufällig männliche DNA nachgewiesen wurde. Der wissenschaftliche Ausdruck hierfür ist Mikrochimärismus, benannt nach Chimära, einem Mischwesen der griechischen Mythologie.

Mikrochimärismus kann besonders komplex werden, wenn eine Mutter neuerlich schwanger wird. Das Vorhandensein von fetalen Zellen im Körper der Mutter könnte sogar regulieren, wie schnell sie wieder schwanger werden kann. Die Entdeckung dieses Phänomens und seine mögliche Grundlage für zahlreiche noch unverstandene medizinische Folgen hat ein gänzlich neues Forschungsfeld eröffnet.15

Doch zurück zur frühen Phase einer Schwangerschaft. Ab dieser Zeit befindet sich ein Embryo in einer absolut kritischen Entwicklungsphase. Schädigende Faktoren wie Alkohol, Nikotin, Mangelernährung, Infektionen und zahlreiche andere Umwelteinflüsse können schwerwiegende und weitreichende Folgen für die weitere Entwicklung haben. Das Problem dabei ist, dass eine werdende Mutter zu diesem Zeitpunkt in der Regel noch gar nicht weiß, dass sie schwanger ist. Einer der ersten Hinweise während dieser Zeit ist die Übelkeit. Aus evolutionärer Sicht eine sinnvolle Einrichtung, denn sie reduziert die Wahrscheinlichkeit der Aufnahme von potenziell den Embryo schädigenden Substanzen.

Um die fünfte Woche, der Embryo ist jetzt etwa drei Millimeter groß, kann der Schwangerschaftstest bereits ein positives Ergebnis zeigen. Das Herz beginnt erstaunlicherweise schon jetzt zu schlagen, obwohl es noch lange nicht fertig entwickelt ist.

Um die 12. Woche können Gynäkologen im Ultraschall unter Umständen bereits das Geschlecht des werdenden, ca. vier Zentimeter großen Kindes erkennen, das davor, im Frühstadium der Entwicklung, noch indifferent angelegt ist. Nur aufgrund der Informationen auf einem ganz kleinen Genabschnitt des männlichen Y-Chromosoms verläuft die Embryonalentwicklung weiter in Richtung männlich.16

Ohne dieser Information würden sich die embryonalen Geschlechtsanlagen gewissermaßen standardmäßig in Richtung weiblich differenzieren. Von wegen, Eva wurde aus einer Rippe Adams geformt …

Ein entscheidendes Element des Lebensnetzes, ohne das weder menschliche Evolution noch Nachwuchs möglich wären, sind die bereits zu diesem frühen Zeitpunkt angelegten mehreren Millionen von Eizellen in den winzigen Eierstöcken weiblicher Föten. Sie werden ab diesem Zeitpunkt nur noch weniger. Neue Eizellen werden, im Gegensatz zu den zeitlebens neu gebildeten männlichen Samenzellen, nicht produziert. Bereits zum Zeitpunkt der Geburt sind es schon erheblich weniger und bei Erreichen der Pubertät nur mehr ein paar Hunderttausend. Im Laufe des Lebens einer Frau werden im Zuge des Eisprungs überhaupt nur wenige Hundert ausgereifte Eizellen freigesetzt.

Spätestens nach den ersten drei Monaten der Schwangerschaft ist es bei den meisten Frauen dann offiziell: Sie und ihr Umfeld wissen nun, dass ein Baby erwartet wird. Die kritische Phase der Entwicklung mit der Anlage aller Organe ist nun ebenfalls vorüber. Auch die Übelkeit ist in Übereinstimmung damit verschwunden.

In den folgenden Wochen und Monaten wächst und reift der Fötus weiter. Die werdende Mutter muss jetzt »für zwei essen« und die Umstellungen in ihrem Körper (inklusive der Bakterien in ihrem Darm) führen dazu, dass sie aus der aufgenommenen Nahrung deutlich mehr Energieausbeute erzielt.17

Um die 17. Woche sind auch die Ohren schon so weit entwickelt, dass das Baby Geräusche wahrnehmen kann. Auch andere Sinne, wie etwa der Geschmackssinn, beginnen sich in der Folge zu entwickeln, was dem Baby ermöglicht, über das Fruchtwasser zu schmecken, was die Mutter mit der Nahrung zu sich nimmt. Möglicherweise der Beginn der kindlichen Geschmacksprägung.18

Fast schwerelos, wie ein kleiner Astronaut, schwebt das Kind, über die Nabelschnur mit dem Mutterschiff verbunden, während der nächsten Wochen und Monate in der Fruchtblase dem Geburtszeitpunkt entgegen. Während dieser Zeit reifen die Lunge, das Gehirn und andere Organe weiter heran, das Baby beginnt hell und dunkel zu »sehen« und Töne immer deutlicher wahrzunehmen.

Ungefähr ab der 35. Schwangerschaftswoche ist die fetale Entwicklung abgeschlossen und das ab jetzt nur mehr wachsende und an Gewicht zunehmende Kind bereitet sich auf den großen Schritt in die Welt vor. Jede einzelne Zelle des herangewachsenen Kindes besteht ausschließlich aus den von der Mutter während der Schwangerschaft über die Nahrung aufgenommenen Molekülen bzw. deren chemischen Elementen.

Allein über den erstaunlichen wie physiologisch komplexen Anpassungsvorgang im Zuge der Geburt könnte man sowohl aus Sicht der Mutter als auch aus Sicht des Kindes mehrere Bücher füllen. Tatsächlich aber müssen Mutter und Kind zum Zeitpunkt der Geburt, nach neunmonatigem Interessenkonflikt um energetische Ressourcen, mehr denn je kooperieren. Es geht um viel und der Geburtsschmerz scheint ein wichtiges Korrektiv zu sein. Bis zur Abnabelung bleibt die menschliche Geburt aber ein durchaus riskantes Unterfangen, das medizinische Entscheidungen so schwierig macht.

Ein erfolgreicher Geburtsvorgang ist aber mit der Abnabelung des Kindes und Ausstoßung der jetzt nutzlos gewordenen Plazenta keinesfalls zu Ende. Man könnte durchaus noch das erste Stillen als einen wichtigen Teil der Geburt bezeichnen, denn durch das dabei im mütterlichen Organismus ausgeschüttete Hormon Oxytocin wird die Gebärmutter zusammengezogen. Diese Nachwehen sind ein wichtiger Vorgang für die Mutter, der das Risiko für eine gefürchtete atonische Nachblutung reduziert.

Hier endet die Bedeutung des unscheinbaren, aus lediglich neun Aminosäuren bestehenden Hormons Oxytocin aber nicht. Es wird beim regelmäßigen Stillen ausgeschüttet und gilt als das menschliche Bindungshormon schlechthin (daher auch als Kuschelhormon bezeichnet). Auch fernab von Geburt und Stillen spielt Oxytocin eine zentrale Rolle bei der Ausbildung zwischenmenschlicher Beziehungen (Vertrauen und Empathie) und bei der Bewältigung von Stress. Selbst unser Essverhalten und unser Stoffwechsel scheinen seinem Einfluss zu unterliegen, wobei ein Mangel davon bei der Entstehung von Übergewicht beteiligt sein dürfte.19

Dieser kurze Ausflug an den Beginn des Lebens zeigt uns deutlich, dass fundamentale, komplexe Prozesse wie Schwangerschaft und Geburt durchaus störungsanfällig sein können und keineswegs immer problemlos verlaufen. Dennoch haben Jahrmillionen der Evolution lebenserhaltende Mechanismen entstehen lassen, die, wenn nicht durch abstrakte Vorstellungen und falsche Vorgaben behindert, einen positiven Ausgang in der weit überwiegenden Mehrzahl der Fälle ermöglichen.

Wie aufgeheizt die Diskussion um die Frage ist, ob eine Hausgeburt oder eine Krankenhausgeburt die sicherste Option sei, zeigte sich 2010, als eine aufgrund der mangelhaften Methodik heftig kritisierte Publikation erschien.20 Diese Auswertung mehrerer Studien der vergangenen Jahrzehnte aus mehreren Ländern schlussfolgerte mit einem einzigen vernichtenden Satz: »Weniger medizinische Eingriffe während einer geplanten Hausgeburt sind mit einer Verdreifachung der neonatalen Sterblichkeitsrate verbunden.« Dreimal dürfen Sie raten, wie in der Folge die skandalisierenden Überschriften in den internationalen Medien lauteten. Die unkritische Übernahme von einfachen und griffigen Aussagen, ohne sich über das Zustandekommen derartiger »Ergebnisse« ein differenziertes Bild zu machen, ist typisch und eines der größten Probleme in der Kommunikation und öffentlichen Wahrnehmung von wissenschaftlichen Forschungsergebnissen. Tatsächlich war die methodische Vorgangsweise der Studien mehr als fraglich, was sich auch in entrüsteten Kritiken und Gegendarstellungen in derselben Fachzeitschrift niederschlug.21

So wurden beispielsweise einerseits Daten aus Geburtsregistern der 1980er- und 1990er-Jahre aus einem einzigen US-Bundesstaat inkludiert und andererseits die Ergebnisse unterschiedlicher Länder in einen Topf geworfen. Dass das US-Gesundheitssystem nicht gerade zu den besten zählt, ist bekannt, auch die Tatsache, dass wir nicht mehr in den 1980er-Jahren leben. Gerade was die gesundheitspolitischen Maßnahmen in Bezug auf Schwangerschaft und Geburt betrifft, gehen die meisten Länder eigene Wege. Die Daten fallen daher auch extrem unterschiedlich aus.

Die Ergebnisse einer Auswertung geplanter Hausgeburten (ohne Risikoschwangerschaften) aus Spanien wurde erst im April 2021 publiziert.22

Sie zeigten, dass Frauen ohne Risikoschwangerschaft im Zuge von geplanten Hausgeburten mit einer qualifizierten Hebamme eine höhere Wahrscheinlichkeit einer spontanen vaginalen Entbindung aufwiesen und diese mit guter Gesundheit der Mütter einhergingen. Darüber hinaus war das Risiko einer Krankenhausverlegung gering (10,7 Prozent) und die Rate des Stillens länger als ein Jahr mit 99 Prozent extrem hoch. Ähnlich positive Daten liegen u. a. aus British Columbia (Kanada)23, Norwegen24, Ontario (Kanada)25 und interessanterweise auch Nordamerika26 vor.

Eine groß angelegte Metaanalyse aus dem Jahr 2018 fand keine signifikanten Unterschiede in der Neugeborenensterblichkeit zwischen Krankenhaus- und von ausgebildeten Hebammen begleiteten Hausgeburten.27

Und schließlich belegte eine Auswertung von etwa 500 000 als Hausgeburt geplanten Entbindungen, dass es im Vergleich zu Krankenhausgeburten zu signifikant weniger Kaiserschnitten, Dammschnitten, schweren Dammrissen, Anwendungen von Wehenmitteln und mütterlichen Infektionen kam.28

Ein differenzierter Zugang, ohne ideologische Grabenkämpfe, zwischen der ärztlichen Geburtshilfe und Hebammen wäre also angebracht und im Sinne von Müttern und deren Kindern. Die negative Einstellung der Medizin gegenüber Hausgeburten hat in zahlreichen Ländern dazu geführt, dass die dafür notwendigen Systeme entweder stark zurückgefahren wurden oder gänzlich verschwunden sind. Das ist schon deshalb problematisch, weil mittlerweile zahlreiche Länder und Einrichtungen wie die WHO29 und UNICEF30 eine Erhöhung der natürlichen (vaginalen) Geburtenrate sowie längeres Stillen fordern.

Ich habe die Geburt nicht nur aufgrund der Tatsache, dass wir sie weitläufig mit dem Beginn neuen Lebens gleichsetzen, an den Beginn dieses Buches gesetzt, sondern auch weil sie ein Musterbeispiel für zahlreiche, auf unzulässigen Vereinfachungen basierenden Fehlannahmen darstellt und unser modernes Dilemma bestens charakterisiert.

Das unsichtbare Netz des Lebens

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