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Die Vergangenheit in unseren Genen: Nobody is perfect

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Die natürliche Selektion im Rahmen der Evolution wirkt vermutlich im Wesentlichen auf der Ebene des Individuums. Es ist gewissermaßen die »Zielscheibe der Evolution«. Genvarianten (sogenannte Allele) vermehren sich in einer Population durch Weitergabe an die Nachkommen nur dann, wenn sie über die damit verbundenen Eigenschaften des Individuums (im Bezug zur Umwelt) zu einer ausreichend hohen oder höheren Reproduktionsrate (= Weitergabe) führen. Dadurch ergibt sich aber auch, dass die evolutionäre Kraft der natürlichen Selektion Eigenschaften wie Gesundheit und Langlebigkeit (bzw. die damit verbundenen genetischen Eigenschaften) nur so weit fördert, als damit auch ein gewisser Reproduktionserfolg verbunden ist.

Genetische und daher vererbliche Eigenschaften, die sich negativ auf den Reproduktionserfolg auswirken, verschwinden über kurz oder lang. Warum gibt es dann aber noch immer schwere Erbkrankheiten und menschliche Gene, die mit gesundheitlichen Nachteilen verbunden sind? Müsste das nicht alles im Rahmen der Evolution früher oder später verschwunden sein? Die Antwort hierauf fällt vielfältig aus.

Zum einen gibt es genetisch verursachte Krankheiten, die sich erst nach der Reproduktionsphase manifestieren und daher keinen Zusammenhang mit dem Reproduktionserfolg aufweisen. Ein klassisches Lehrbuchbeispiel hierfür ist Chorea Huntington, eine schwere, unheilbare, erbliche Erkrankung, die mit einer fortschreitenden Zerstörung des Gehirns einhergeht und sich meist um das 40. Lebensjahr durch erste Krankheitssymptome bemerkbar macht. Zu spät, um einen nennenswerten Einfluss auf die Reproduktion zu haben.

Zum anderen können manche krankheitsassoziierten genetischen Eigenschaften zu einem anderen Zeitpunkt und/oder in einem anderen Umfeld mit einem gewissen Überlebensvorteil und damit einer höheren Reproduktionsrate verbunden gewesen sein. Dies klingt zunächst zwar etwas unlogisch, dürfte aber die Ursache dafür sein, dass es (immer noch) zahlreiche Krankheiten gibt, die auf gar nicht so seltenen genetischen Varianten beruhen. Während in unserer Gegenwart diese genetische Ausstattung ausschließlich mit einem mehr oder weniger schweren Krankheitsbild verknüpft ist, könnte ebendiese Genetik in einem anderen Szenario einen gewissen Überlebensvorteil mit sich gebracht haben. Auch wenn dieser Vorteil gegenüber anderen Genvarianten noch so gering ausfällt, kommt es aufgrund entsprechend höherer Reproduktionsraten zu einer gewissen Verbreitung dieser Allele innerhalb der Population – sprich Bevölkerung. Zwei klassische Beispiele hierfür wären die Sichelzellkrankheit und die Mukoviszidose (cystische Fibrose).

Die Sichelzellkrankheit (auch Sichelzellanämie genannt) ist in manchen Regionen der Erde eine der häufigsten Erbkrankheiten und geht mit einem veränderten Hämoglobinmolekül (HbS) einher. Personen, die sowohl im mütterlichen als auch im väterlichen Allel das HbS-Gen tragen, leiden an einer schweren Blutarmut mit wiederkehrenden Gefäßverschlüssen, starken Schmerzen und Schäden in multiplen Organsystemen. In manchen sogenannten Entwicklungsländern ist die Sichelzellkrankheit daher nach wie vor mit einer hohen Sterblichkeitsrate verbunden. Obwohl die Auswirkungen diese Krankheit derart katastrophal sind, gibt es beispielsweise in Afrika Gegenden, in denen fast ein Drittel der Bevölkerung heterozygoter Träger für dieses Merkmal ist, also nur ein krankheitsverursachendes Allel besitzt. Wie lässt sich das mit der Tatsache vereinbaren, dass genetische Eigenschaften, die mit einem geringeren Reproduktionserfolg verknüpft sind, über kurz oder lang eigentlich verschwinden sollten?

Die Antwort darauf finden wir, wenn wir uns die geografische Verbreitung dieser Erkrankung näher ansehen. Zwar ist heute die Sichelzellerkrankung aufgrund von Migration global verbreitet, ursprünglich trat diese Krankheit aber vor allem bei Personen aus Subsahara-Afrika und deren Nachfahren auf. Bei noch genauerer Betrachtung stellte man fest, dass die auffällig hohe Frequenz des HbS-Gens mit dem Vorkommen der durch Stechmücken übertragenen Malaria in diesen Gebieten vergesellschaftet war. Die Wissenschaft ist sich heute einig, dass Träger von nur einem HbS-Allel einen geringen, aber dennoch entscheidenden Vorteil gegenüber dem Erreger von Malaria aufweisen. Aufgrund unterschiedlicher diskutierter Mechanismen haben die während eines Teiles ihres Entwicklungszyklus auf unsere roten Blutkörperchen angewiesenen Malariaerreger (Plasmodien) offenbar einen Nachteil, wenn sie auf einen HbS-tragenden Wirt stoßen. Oder umgekehrt betrachtet: Träger von nur einem HbS-Allel haben einen geringen Selektionsvorteil in Malariagebieten, weil sie deutlich seltener an Malaria erkranken. Wobei das Wort »Malariagebiete« hier von entscheidender Bedeutung ist, denn nur in dieser Umgebung besteht dieser »Vorteil« sowohl auf individueller als auch auf Populationsebene. Genetische Eigenschaften sind daher nur in Verbindung mit dem früheren evolutionären Umfeld sinnvoll zu interpretieren. Eine zentrale Erkenntnis, die uns noch mehrfach begegnen wird. In der Genetik wird ein derartiger Vorteil bei Besitz von nur einem Krankheits-Allel als »Heterozygotenvorteil« bezeichnet.

Ähnlich dürfte es sich mit der Mukoviszidose verhalten. Auch hier muss man sich die Frage stellen, warum ein Allel, das bereits in jüngeren Jahren zu einer schwerwiegenden Erkrankung führt, so weit verbreitet ist und nicht im Laufe der Evolution quasi ausselektiert wurde. Auch bei dieser Erkrankung, die auf einer Reduktion funktionsfähiger Chlorid-Kanäle in den Zellmembranen fußt, wird im Falle des Vorliegens von nur einem Allel (Heterozygotie) eine höhere Resistenz gegen bestimmte Krankheitserreger angenommen. Diese Resistenz und der damit verbundene Selektionsvorteil haben vermutlich während der letzten Jahrhunderte zur ausgesprochen häufigen Verbreitung dieses Gendefekts geführt. Im Falle der Mukoviszidose wird ein Selektionsvorteil durch Heterozygotie in Gegenwart von Vibrio cholerae (Erreger der Cholera), Salmonella typhimurium (häufigster Erreger einer schweren bakteriellen Gastroenteritis) und insbesondere von Mycobacterium tuberculosis diskutiert. Gerade bei der Tuberkulose, die vom 16. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts für über 20 Prozent der Todesfälle verantwortlich war, dürfte der Selektionsdruck in der Vergangenheit ausreichend hoch gewesen sein.

Die Liste an genetisch bedingten Erkrankungen, die aufgrund früherer (!) Gegebenheiten zu einem gewissen Selektionsvorteil geführt haben könnten, ließe sich noch länger fortsetzen, wobei die »Gegebenheiten« nicht immer so weit erforscht sind wie in den beiden genannten Beispielen.

Ich habe mich der obigen Ausführung deshalb länger gewidmet, weil das Beispiel dieser und ähnlicher Erkrankungen verdeutlicht, wie wichtig die Berücksichtigung von (prä)historisch-geografischen Kriterien für das Verständnis von, auf den ersten Blick unlogisch erscheinenden, genetischen Eigenschaften der Spezies Mensch ist. Unsere kürzere, vor allem aber längere Vergangenheit in Verbindung mit den damaligen Umwelt- und Lebensbedingungen sind einer der wichtigsten Schlüssel zum Verständnis von Gesundheit und Krankheit. Auch wenn es sich bei den meisten »modernen« Krankheiten nicht um monogenetische Erbkrankheiten wie Sichelzellerkrankung und Mukoviszidose handelt. Unsere Vergangenheit steckt jedenfalls tief verwurzelt in unseren Genen, ob uns das gefällt oder nicht.

Aber nicht alle mit negativen Gesundheitsfolgen im Laufe des Lebens verknüpfte genetischen Eigenschaften sind die Folge einer Resistenz gegenüber gewissen Krankheitserregern in unserer Vergangenheit. Manche nachteiligen Gene haben ihre heutige Häufigkeit einer unmittelbaren Auswirkung auf eine größere Nachkommenschaft zu verdanken.

Das unsichtbare Netz des Lebens

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