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Die neue Aufklärung: die Welt nach »Fakten«

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»Eines der wichtigsten Bücher, die ich je gelesen habe«, lautet das Urteil von Bill Gates über den Bestseller des 2017 verstorbenen schwedischen Mediziners Hans Rosling mit dem Titel: »Factfulness: Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist«.15

Rosling zeichnet in seinem Buch ein durch und durch optimistisches Bild der heutigen Welt und stützt sich dabei im Wesentlichen auf frei verfügbare Statistiken. Und tatsächlich ist der Anteil von Menschen in extremer Armut weltweit genauso zurückgegangen wie die Säuglingssterblichkeit, während sich Bildung und Lebensstandard vieler Menschen deutlich verbesserten. Bezogen auf die von Rosling ausgewählten Punkte, geht es den Menschen heute sicherlich bedeutend besser als noch vor wenigen Jahrzehnten. Diesen Umstand den Lesern näherzubringen, ist die gute Seite des Buches. Etwas verwunderlich ist allerdings die Argumentation Roslings: »Ich verwende gewöhnliche Statistiken, die von der Weltbank und den Vereinigten Nationen erstellt werden. Diese sind unumstritten. Diese Tatsachen stehen nicht zur Diskussion. Ich habe recht, und Sie haben unrecht.« Ein seltsamer Anspruch, zumal Rosling seine Thesen ausschließlich über Medien wie TED-Talks und unterhaltsame Fernsehauftritte verkündete und nicht über wissenschaftliche Publikationen. Seine Aussagen wurden daher auch nie von sachkundigen Kollegen auf Herz und Nieren geprüft.

Dass dieses Buch zu einem gefeierten Bestseller wurde, kann einen aber vor allem angesichts der hoch selektiven und voreingenommenen Datenquellen nur verwundern. Über die katastrophalen ökologischen Folgen der im Buch gefeierten Erfolge des technischen Fortschrittes und des steigenden Wohlstandes und des damit verbundenen Konsums erfährt man rein gar nichts. Ist das die Welt, wie sie wirklich ist?

Geht es nach Rosling, haben viel zu viele Menschen ein völlig verzerrtes, meist allzu düsteres Bild von der Welt. »Das mangelhafte Wissen über die Welt, das so häufig anzutreffen ist«, so Rosling, sei »das beunruhigendste Problem von allen

Freilich sind die Menschen durch die tägliche negative Flut von Informationen sensationsgieriger Medien (mittlerweile zum Teil auch inklusive öffentlich rechtlicher Fernsehanstalten) mit Sicherheit einem problematischen Zerrbild der Realität ausgesetzt, allerdings halte ich eine derart selektive Sicht, wie sie Rosling in seinem Buch verkündet, für das erheblich beunruhigendere Problem. Denn eine Politik, die auf einer vereinfachten Weltanschauung wie in Factfulness basiert, könnte schwerwiegende Konsequenzen haben.

Die Weltentwicklung wird ausschließlich anhand positiver Trends und Grafiken dargestellt. So finden wir zwar eine Darstellung zur Verringerung der Ölverschmutzung der Meere, aber weder eine Grafik noch eine kurze Erwähnung zur Problematik der starken Zunahme von Plastikabfällen und Mikroplastik in den Ozeanen und ihrer verheerenden Auswirkungen auf die Tierwelt. Die weltweite Zunahme geschützter Naturgebiete und Arten wird überschwänglich gefeiert, eine Erwähnung des drastischen Rückganges der globalen Artenvielfalt, die von der Wissenschaft aus gutem Grund als das sechste Massensterben bezeichnet wird16, sucht man hingegen vergeblich.

Es finden sich zwar Statistiken über den Rückgang von Todesfällen im Zusammenhang mit Kriegen und Naturkatastrophen, jedoch keinerlei Erwähnung, dass nach Angaben der Vereinten Nationen die Zahl der Flüchtlinge höher ist als je zuvor. Zu diesem und unzähligen anderen besorgniserregenden Trends finden wir weder Zahlen noch Grafiken. Gleiches gilt für fast alle Indikatoren, die der Wissenschaft derzeit Sorgen und Kopfzerbrechen bereiten: Kohlendioxid, Stickoxide und Methanemissionen, Ansäuerung der Weltmeere, Verlust tropischer Wälder und rapide Abnahme der biologischen Vielfalt, insbesondere in der Landwirtschaft. Jeder dieser Indikatoren scheint sich in eine negative Richtung zu beschleunigen. Doch darüber wird ein Mantel des Schweigens gebreitet.

Nimmt unsere Nutzung von Rohstoffen analog der letzten fünfzig Jahre weiter zu, führt dies noch in diesem Jahrhundert zu einem vielfachen Anstieg des Ressourcenverbrauchs und der damit einhergehenden Emissionen. Wie lange kann das gut gehen und was sind die wahrscheinlichsten Nebenwirkungen? Für Rosling und Factfulness sind das offenbar keine entscheidenden Fragen. Vielmehr bestehe, so der Autor, die zentrale Herausforderung für westliche Unternehmen darin, die neu entstehenden Märkte Asiens und Afrikas zu nutzen. Diese und viele andere Aussagen lassen das Buch zu einem unkritischen Lobgesang der erstaunlichen Geschichte des großteils technologiebasierten menschlichen Fortschrittes werden. Geht es nach Rosling, ist es unsere Unwissenheit, die uns davon abhält, diese Erfolgsgeschichte zu sehen. In dieser Hinsicht liest sich das Werk allerdings eher wie ein Selbsthilfebuch für manche Führungskräfte aus dem Silicon Valley, denen bei jeder erdenklichen Gelegenheit vermittelt werden soll, dass sie ihre Arbeit gut machen. So wundert es einen auch nicht wirklich, dass Bill Gates, ein wahrlicher Nutznießer des neoliberalen Systems, kurz nach Erscheinen des Buches bekannt gab, er wolle das Buch gratis an alle Universitätsabsolventen verteilen.

Der größte Fehler Roslings besteht jedoch zweifelsohne darin, die vorhandenen wissenschaftlichen Belege für die gegenwärtige Umweltkrise, also die Zerstörung lebenswichtiger Ökosysteme und die Abnahme der biologischen Vielfalt, zu ignorieren. Dies stellt das Wohlergehen heutiger und zukünftiger Generationen infrage. Dass er steigende Lebenserwartung mit besserer Gesundheit gleichsetzt, standhaft das reduktionistische Denken verteidigt und das Problem der an steigenden Weltbevölkerung negiert, möge man ihm angesichts dieser eingeengten Weltsicht nachsehen. Nicht nachsehen kann man ihm als Arzt hingegen die Scheuklappen hinsichtlich epidemiologischer Kenngrößen von Krankheiten. Obwohl Rosling körperliche Krankheiten erwähnt, spricht er nur über jene, die im Rückgang begriffen sind, wie z. B. Masern und Durchfallerkrankungen, jene, die unaufhaltsam auf dem Vormarsch sind und großteils mit unserem viel gepriesenen Fortschritt in Verbindung stehen, klammert er aus. Mit anderen Worten: Roslings Definition von »globaler Gesundheit« ist alles andere als vollständig.

Das unsichtbare Netz des Lebens

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