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Von den Ursprüngen zur Aufklärung

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Wenngleich Details der menschlichen Evolution unter Anthropologen immer noch durchaus kontrovers diskutiert und mit Sicherheit noch länger nicht restlos geklärt sein werden, so ist man sich doch weitgehend einig, dass die Gattung Homo seit mindestens zwei Millionen Jahren und die Art Homo sapiens, also der anatomisch moderne Mensch, vermutlich seit etwa 300 000 Jahren existiert. Während 99 Prozent ihrer Existenz mussten Menschen und ihre Vorfahren ihre eigene Nahrung finden. Sie verbrachten daher einen wesentlichen Teil des Tages damit, die Natur zu beobachten, um Pflanzen zu sammeln und Tiere zu jagen.

Vor etwa 40 000 Jahren setzte eine explosive Entwicklung unserer kulturellen Fähigkeiten ein. Dann, innerhalb der letzten 12 000 Jahre, hat unsere Spezies den Übergang vom Jäger-und-Sammler-Dasein hin zur ackerbaulichen Produktion von Lebensmitteln und zur kontinuierlichen Veränderung unserer Umwelt vollzogen. Menschen fanden heraus, dass sie das Wachstum und die Zucht bestimmter Pflanzen und Tiere kontrollieren konnten. Diese Entdeckung führte schließlich zur weltweiten Verbreitung von Ackerbau und (etwas später) Viehzucht. Aktivitäten, die die natürlichen Landschaften der Erde veränderten – zuerst lokal, dann zunehmend global.

Als die Menschen mehr Zeit in Anbau und Herstellung von Nahrungsmitteln investierten, wurden sie sesshaft. Aus kleinen Siedlungen wurden Dörfer und aus Dörfern wurden Städte. Mit der kontinuierlichen Verfügbarkeit von kalorisch ausreichender Nahrung begann die Bevölkerung dramatisch zu wachsen. Unsere Spezies war so erfolgreich, dass sie so ganz nebenbei und unbemerkt einen Wendepunkt in der Geschichte des Lebens auf der Erde eingeläutet hat. Wir bezeichnen heute das neue geochronologische Zeitalter, in dem der Mensch zu einem der wichtigsten Einflussfaktoren auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde geworden ist, als das Anthropozän.13

Interessant ist der Umstand, dass bis zu dem Zeitpunkt unserer Sesshaftwerdung kaum wissenschaftliche Nachweise von weitverbreiteter Aggression, patriarchalischen Hierarchien und übermäßiger interpersoneller Gewalt existieren. Hingegen haben wir ausreichende Anhaltspunkte dafür, dass die Menschen viel Zeit für künstlerische Naturdarstellungen, Rituale und ein intensives Gesellschaftsleben aufwandten. Aus den archäologischen Funden von Artefakten und Höhlenbildern erschließt sich eine offenbar sehr tiefe Verbindung der Menschen mit der Natur, hing doch ihr Wohlergehen und Überleben in hohem Maße von ihr ab. Allerdings ist hier kein Platz für eine verklärende Sicht unserer Vergangenheit. Denn ein sprichwörtliches Honiglecken war das Leben damals mit Sicherheit nicht und die eiszeitlichen Jäger trugen mit ihrem Jagdverhalten vermutlich bereits damals schon zum Verschwinden von großen Pflanzenfressern, der sogenannten Megafauna, bei. Die Beziehung zur Natur war mit Sicherheit gespalten, denn die Menschen mussten sich permanent vor der Natur und ihren Naturgewalten schützen.

Dennoch wurden der Himmel, die Sonne und der Erdboden in vielen Kulturen über lange Zeiträume hinweg verehrt. Es waren die bestimmenden Größen ihres Überlebens. Manche Wissenschaftler vertreten die keinesfalls von der Hand zu weisende These, dass diese seit unglaublich langen Zeiträumen unserer Vergangenheit bestehende Verbindung zur Natur auch heute immer noch in uns schlummert.14

Die im Zuge der Sesshaftwerdung entstandenen Städte führten auch zu einer Veränderung der Gesellschaft, mit zunehmend patriarchalischen Strukturen, der Entstehung von sozialen Schichten, der Etablierung von Armeen, einer zunehmenden Verbesserung von Waffentechnik und landwirtschaftlichen Werkzeugen, um andere Menschen oder die Natur zu beherrschen. Man könnte dies als die früheste Periode bezeichnen, während der sich der Mensch zunehmend von der Natur zu lösen begann. Mit Ausnahmen, denn durch die Anlage von sogenannten Kalenderbauten wie Kreisgrabenanlagen, Sonnentempeln und Megalithanlagen war es den nun weitgehend standorttreuen Menschen auch möglich geworden, die periodischen Bewegungen der Himmelskörper zu studieren.

Die Höhepunkte der folgenden grundlegenden Veränderungen waren das hellenistische Griechenland, das Römische Reich, das mittelalterliche Europa und die Renaissance. Während dieser tiefgreifenden kulturellen Veränderungen blieben immer noch ein gewisser Respekt und eine Verbindung zur Natur bestehen. Detaillierte Naturbeobachtungen und die daraus abgeleiteten Weisheiten waren bis vor wenigen Jahrhunderten zutiefst mit dem täglichen Leben der Menschen verbunden.

Während des Mittelalters und dem alles beherrschenden Diktat des aufstrebenden Christentums in Mitteleuropa entfernte sich der Mensch allerdings zusehends rascher von der Natur. Infolge der sogenannten kleinen Eiszeit (ab Anfang des 15. Jahrhunderts) mit extremen, aber regional unterschiedlichen Klimaschwankungen, langen Wintern und kühleren Sommern fielen die Ernten immer wieder gering aus. Es kam zu Missernten, Lebensmittelknappheit und Hungersnöten. Epidemien breiteten sich aus. Die damals tonangebende Kirche stellte derartige Naturkräfte als das Werk des Teufels dar. Menschen, insbesondere Frauen, die sich mit der Heilkraft der Natur (z. B. Heilpflanzen und Kräutermedizin) beschäftigten und Wissen über natürliche, zyklisch wiederkehrende Phänomene besaßen, wurden als Hexen im Bund mit dem Teufel gesehen. Die offizielle Hexenjagd wurde bereits 1485 von Papst Innozenz VIII. eröffnet und dauerte zumindest 200 Jahre. Der sogenannte »Hexenhammer« gilt als eines der verheerendsten Bücher der Weltliteratur und brachte Zigtausenden Menschen den Tod. Er erschien 1487 und war ein mächtiges Instrument der Inquisition, um die Hexenverfolgungen durch den Papst zu legitimieren. Das Buch diente quasi als Anleitung zur Überführung und Verurteilung von vermeintlichen Hexen. Mit dem Ziel, die Gesellschaft von den Mächten des Bösen zu befreien, entstand daraus, in Verbindung mit der Reformation und dem Dreißigjährigen Krieg, eine Massenhysterie in Europa, die die Menschen lange Zeit lähmte, nur um schließlich ihr Heil in neuen Weltanschauungen zu finden. Protestantismus, Rationalismus und Empirismus begründeten schließlich den Beginn der wissenschaftlichen Revolution – den Ursprung unseres Wissenschaftsverständnisses.

Große Namen wie Galileo Galilei, Francis Bacon, Johannes Kepler, John Locke, Thomas Hobbes, Isaac Newton und René Descartes bestimmten das wissenschaftliche und philosophische Denken dieser Zeit (und sie tun es heute noch). Die erdrutschartigen Entwicklungen in Mathematik, Physik, Astronomie, menschlicher Anatomie, Biologie und Chemie veränderten grundlegend die Ansichten der Gesellschaft über die Natur und legten den Grundstein zur modernen Wissenschaftsmethodik. Diese wissenschaftliche Revolution fand gegen Ende der Renaissance in Europa statt, dauerte bis zum späten 18. Jahrhundert an und beeinflusste die intellektuelle und soziale Bewegung, die gemeinhin als Aufklärung bekannt ist. Es entstand eine neue Sicht der Natur und die Wissenschaft wurde zu einer autonomen Disziplin. Rationaler analytischer Reduktionismus wurde zu ihrem Kennzeichen. »Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt« zählen zu den zentralen und durchaus heute noch zeitgemäßen und keinesfalls pauschal abzulehnenden Werten. Als zentrales Motto dieser Zeit diente Kants Ausspruch »Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!« Dem möchte ich ausnahmslos folgen.

Die Jahrhunderte, die der wissenschaftlichen Revolution folgten, sahen das Leben und seine Bausteine allerdings zunehmend als maschinenartig, mechanistisch und vorhersagbar an. Descartes stellte sich das Universum als eine gigantische Maschine vor, die durch mathematische Modelle erklärbar sei. Grundsätzlich ein sehr bestechender Gedanke, der auch die moderne Medizin in weiten Teilen in ihrer Ansicht über das Funktionieren unseres Körpers beherrscht.

Wir werden sehen, dass zwar die Grundsätze der Thermodynamik absolut und unumschränkt ihre Gültigkeit haben, ihre vereinfachte Anwendung auf unseren Körper – bei der beliebten Rechnung von aufgenommenen und verbrauchten Kalorien – hingegen dennoch andere Ergebnisse liefert. Ein klassisches Beispiel für die fehlerhafte Anwendung reduktionistischer Tatsachen auf die Komplexität des Lebens.

Und obwohl längst nicht mehr zeitgemäß und den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen widersprechend, sind immer noch viele der Auffassung, dass ein wesentliches Merkmal der Natur ein »Kampf um das Überleben« bzw. das »Überleben des Stärkeren« sei. Dass der Begriff »Survival of the Fittest« zunächst gar nicht von Charles Darwin selbst geprägt wurde, sondern von Herbert Spencer in seiner Hypothese des Sozialdarwinismus, wissen nur die wenigsten. In unserem Unterbewusstsein verankert sind auch die Bilder von unzähligen TV-Naturdokumentationen, die vor allem, die Einschaltquoten im Auge, den brutalen Wettbewerbsaspekt der Natur in den Vordergrund kehren. Während der Wettbewerb in der Natur zwar sicher ein bedeutendes Element darstellt, gibt es noch erheblich bedeutendere Dynamiken, insbesondere über Netzwerke, Partnerschaften und Symbiosen. Tatsächlich ist ein brutaler Wettbewerb im »Kampf um das Überleben« vermutlich sogar eher die Ausnahme als die Regel. Der Begriff der »Fitness« wurde von Darwin im Zuge seiner Theorie der natürlichen Selektion für jene genetischen oder phänotypischen Eigenschaften von Organismen benutzt, die sie mit ihrer Umwelt am besten zurechtkommen ließen. Zahlreiche dieser Eigenschaften beruhen auf Symbiosen, also dem Zusammenleben von artverschiedenen Organismen mit gegenseitigen Vorteilen.

Der zentrale Punkt in der reduktionistischen wissenschaftlichen Revolution ist der Fokus auf die Einzelteile anstatt auf das Ganze. Diese Vorgangsweise hat, wie bereits erwähnt, durchaus ihre Berechtigung, so gelingt es uns, Komplexität zu reduzieren und die Dinge zu vereinfachen, um einzelne Aspekte betreffend den Zustand der Welt und des Menschen leichter zu erfassen. Allerdings sehen wir uns heute zunehmend mit dem Problem konfrontiert, die Erkenntnisse aus all diesen wissenschaftlichen Disziplinen wieder zu einem sinnvollen großen Ganzen zusammenzuführen. Die Probleme liegen nicht primär in den limitierten Möglichkeiten reduktionistischer Betrachtungsweise (diese lassen sich nicht so leicht beseitigen), sondern in der Tatsache, dass unheimlich viele hoch spezialisierte Wissenschaftler ihre Ergebnisse nur innerhalb ihres sehr reduzierten, weil hoch spezialisierten Expertenkreises diskutieren. Ein Zusammenführen der mittlerweile vorliegenden naturwissenschaftlichen Erkenntnisse aus den unterschiedlichsten Disziplinen auf der höheren Ebene einer systemischen Gesamtbetrachtung ist, bis auf wenige Ausnahmen, immer noch weitgehend Mangelware.

Aber ich möchte noch einmal betonen: Diesen Umstand zur Kenntnis zu nehmen, ist in keiner Weise mit Wissenschaftsfeindlichkeit gleichzusetzen, sondern zeigt lediglich die eindeutigen Grenzen unseres modernen pragmatischen wie reduktionistischen wissenschaftlichen Zuganges. Die Untersuchung komplexer, lebender und offener Systeme mit ihren kaum zu überblickenden Interaktionen, insbesondere auf molekularer Ebene, ist mit den uns derzeit zur Verfügung stehenden Möglichkeiten vollumfänglich schlicht nicht möglich. Ob sie es jemals sein wird, wage ich angesichts der zunehmend zutage tretenden Komplexität ernsthaft zu bezweifeln. Wie der gesamte Organismus ist auch jede einzelne Zelle ein komplexes mehrdimensionales Netzwerk, das sich nur abstrakt und in Einzelteile zerlegt, annähernd verständlich darstellen lässt (Abbildung 1). Wenn wir aber mit differenzierter Sachkenntnis die vielen vorhandenen Puzzleteile zusammensetzen, ergibt sich ein sehr deutliches Bild, aus dem sich dringend konkreter Handlungsbedarf ableiten lässt.

Abbildung 1: Der Autor vor einem Poster mit einer Auswahl der derzeit bekannten klassischen biochemischen Reaktionspfade einer Zelle. Allerdings handelt es sich auch hierbei um eine stark reduktionistische, zweidimensionale Darstellung. Im Unterschied zu diesem statischen und vereinfachten Schema sind die realen metabolischen Netzwerke einer Zelle komplexe dynamische, vierdimensionale Prozesse. Die Realität der Lebensprozesse einer einzigen Zelle lässt sich mit heutigem Kenntnisstand grafi sch nicht darstellen.

Die wissenschaftliche Revolution und ihre Folgen führten zu großen Fortschritten in unserer Gesellschaft. Diese Segnungen des Fortschrittes kamen aber in vielen Fällen zu einem hohen Preis: der Abnabelung und zunehmenden Entfremdung von der Natur, unserem ursprünglichen natürlichen Habitat. Dieser Abschied hinterließ bei den Menschen zunehmend ein inneres Gefühl der Leere, einen unbestimmten Zustand der Unvollständigkeit, der zunehmend in bedingungslosem Konsum, Egoismus, aber auch in Angst und Depression mündete. Es ist heute in jeder westlichen Konsumgesellschaft zu sehen: Wenn wir uns innerlich nicht vollständig fühlen, beginnen wir uns nach Dingen umzusehen, um diese tiefe Leere zu füllen. Das Missachten von tiefergehenden ursprünglichen Zusammenhängen ist, wie ich versuchen möchte darzulegen, eine wesentliche Ursache für die Entstehung vieler Krankheiten und Gesundheitsstörungen.

Das unsichtbare Netz des Lebens

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