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Das Alzheimer-Risikogen ApoE4: ein unausweichliches Schicksal?
ОглавлениеEin besonders interessantes Gen in diesem Zusammenhang ist das sogenannte ApoE-Gen. Es existiert in verschiedenen Formen (Polymorphismus) und kodiert für das Apolipoprotein E (ApoE), welches u. a. ein Hauptlieferant von Cholesterinvorläufern für die Produktion von Östrogen und Progesteron in den Eierstöcken ist. Das ApoE4-Allel ist die älteste Form dieses Gens. »Neuere« Versionen sind das ApoE3-Allel (es erschien innerhalb der letzten 220 000 Jahre) und das ApoE2-Allel, welches am rezentesten sein dürfte.
Auffällig ist, dass das Allel ApoE4 das Risiko einer schlechten Gesundheit zwar signifikant erhöht, aber dennoch in vielen Populationen relativ häufig vorkommt. So weisen Menschen, die das ApoE4-Allel besitzen ein höheres Risiko für Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und die Alzheimer-Demenz auf.
Warum wurde dieses Allel dann nicht durch natürliche Selektion mit der Zeit durch das gesundheitsfördernde ApoE3-Allel ersetzt? Wir wissen bereits, dass sobald ein Gen trotz bekannt negativer Eigenschaften dennoch häufig ist, vermutlich auch irgendein bedeutender Vorteil damit verbunden ist.
Und tatsächlich konnte bei Frauen, die zumindest eines von zwei möglichen ApoE4-Allelen besaßen, ein signifikant höherer Wert des Sexualhormons Progesteron in der zweiten Zyklushälfte (Lutealphase) festgestellt werden. Ein Umstand, der mit einer erhöhten Fruchtbarkeit verbunden ist und vermutlich mit dazu beigetragen hat, dass das ApoE4-Allel in unserer Bevölkerung immer noch weitverbreitet ist. Darüber hinaus dürfte ApoE4 auch mit einer besseren Entwicklung der kognitiven Funktion, einem gewissen Schutz vor Infektionskrankheiten, einem späteren Einsetzen der Menopause (= Verlängerung der Reproduktionsphase) und einer geringeren Häufigkeit von Spontanaborten in Verbindung stehen.1 Kinder, welche die ApoE-4-Variante tragen, überstehen eher Durchfallerkrankungen oder Phasen der Unterernährung.2 Und schließlich weisen männliche Erwachsene im Alter zwischen 40 und 50 Jahren mit ApoE4-Allel ein besseres Kurzzeitgedächtnis auf.3
Genug Gründe also dafür, warum die Genvariante ApoE4 in unserer Vergangenheit mit einem Überlebensvorteil verknüpft war, daher häufig vererbt wurde und bis heute weitverbreitet ist. Denn laut Schätzungen sind etwa 15 Prozent der Menschheit Träger von ApoE4 auf Chromosom 19. Allerdings, und hier liegt einer der erwähnten gravierenden Nachteile, haben Träger des ApoE4-Gens im Vergleich zu einem Nicht-Träger auch ein um den Faktor 1,7 bis 2,4 erhöhtes Risiko, an der Alzheimer-Demenz zu erkranken. Das heißt, dass das Risiko, zu erkranken, um bis zu 140 Prozent ansteigt.
Derartige evolutionäre Trade-offs, welche in Abhängigkeit vom Alter des Individuums einen Vor- oder Nachteil darstellen, gibt es viele. Die Bedeutung im evolutionären Kontext liegt dabei vor allem darin, für eine möglichst gute Basis zu sorgen, um in jungen Jahren auch unter suboptimalen Bedingungen möglichst viele Nachkommen zu zeugen bzw. deren Überlebenschancen zu erhöhen. Die Rechnung dafür kommt erst in späteren Lebensjahren. Man könnte die Situation also durchaus mit einem Bankkredit vergleichen, bei dem der unmittelbare Vorteil der sofortigen Liquidität dem späteren Nachteil einer erhöhten Rückzahlungssumme gegenübersteht.
Ähnliche genetische Kompromisslösungen wurden übrigens auch für viele andere Arten beschrieben, einschließlich Bakterien, Hefen, Nematoden, Fliegen, Vögeln und Mäusen. All diese Beispiele zeigen ganz deutlich, dass uns die Mechanismen der Evolution zu alles anderem als einem einzigartigen und perfekten Körper verholfen haben. Durch die deutliche Zunahme der durchschnittlichen Lebenserwartung – vor allem während des letzten Jahrhunderts – kommt dieses evolutionäre Erbe für viele Menschen nun in Form eines erhöhten Risikos für Herzkreislauferkrankungen, Alzheimer-Demenz und zahlreiche andere Erkrankungen zu einem zum Teil hohen Preis. Heißt das, dass wir uns daher mit unserem genetisch vorherbestimmten Schicksal abfinden müssen? Keinesfalls!
Im Falle des ApoE4-Allels schätzen Wissenschaftler, dass sein Anteil am Erkrankungsrisiko für die weitverbreitete und im Zunehmen begriffene Alzheimer-Erkrankung »nur« bei zirka 20 Prozent liegt. Umgekehrt sind etwa 60 Prozent der Patienten mit eindeutig klinisch diagnostizierter Alzheimer-Krankheit Träger des ApoE4-Allels. Welche Faktoren machen aber dann den überwiegenden restlichen Teil des Risikos aus? Die Antwort fällt hier genauso trivial aus wie bei allen anderen Erkrankungen mit oder ohne einem gewissen genetischen Risiko: unsere Lebensweise, unsere lebenslange Ernährung und die mittlerweile kaum zu überblickende Anzahl an toxischen Umwelteinflüssen.
Kritiker würden behaupten, dass für diese Aussage der konkrete wissenschaftliche Nachweis fehlt bzw. noch ausständig ist. Wenn wir aber die wissenschaftlichen Erkenntnisse der letzten Jahre genauer betrachten, sehen wir, dass es sich bei der Alzheimer-Erkrankung, wie bei den anderen chronischen Erkrankungen industrialisierter Nationen, um eine äußerst komplexe Pathogenese handelt, bei der unter anderem einer chronischen niederschwelligen systemischen Entzündung eine wesentliche Bedeutung zukommt4 (siehe auch Kapitel »Mikrobiom«).
Die Mechanismen sind derart vielfältig und ineinandergreifend, dass wissenschaftliche Studien immer nur eine gewisse Indizienlage herstellen können, keinesfalls aber eine lineare Kausalität. Dieser Umstand scheint bei Skeptikern aus dem nicht-naturwissenschaftlichen Lager auf taube Ohren zu stoßen. Den Herstellern von bedenklichen, weil toxischen, synthetischen Verbindungen gibt dieser Umstand bedauerlicherweise einen Freibrief, alle Einwände zu zerstreuen, weil ein direkter wissenschaftlicher Nachweis für die gesundheitsschädlichen Eigenschaften der jeweiligen Substanz nur in den seltensten Fällen mit letzter Sicherheit zu erbringen ist. So ist etwa eine »sichere« Grenze von Pestizidrückständen in Lebensmitteln (die sogenannten Rückstandshöchstgehalte auf Basis einer EU-Verordnung) genauso kritisch zu sehen wie die Tierexperimente und Expertenmeinungen, auf denen sie beruhen. Diese für eine Zulassung notwendigen Experimente berücksichtigen weder die individuellen genetischen Risikofaktoren in der Bevölkerung noch die potenzierende Schadwirkung durch das Zusammenwirken unterschiedlicher Substanzen (sogenannter Cocktaileffekt). Auf die Problematik von Grenzwerten hinsichtlich Pestizidrückständen in der Nahrung bin ich in meinem letzten Buch bereits ausführlich eingegangen. Die Komplexität von krankheitsauslösenden Prozessen, die tragende Rolle der niederschwelligen chronischen Entzündung und die in diesem Zusammenhang große präventive Bedeutung unserer Ernährung werde ich noch an zahlreichen anderen Stellen dieses Buches erörtern. Doch noch einmal kurz zurück zur Alzheimer-Erkrankung.
Das Apolipoprotein E beliefert unter normalen Umstanden auch die Nervenzellen des Gehirns mit wichtigen Nährstoffen wie mehrfach ungesättigten Fettsäuren, die wichtige Bestandteile von Zellmembranen sind und zudem antientzündlich wirken. Im Falle von ApoE4 wird dabei allerdings mit fortschreitendem Alter ein Rezeptor zunehmend verklumpt, was offenbar zur Entstehung von Alzheimer beiträgt. Derzeit wird eifrig daran geforscht, die negativen molekularen Wechselwirkungen von ApoeE4 im Gehirn mit einem Medikament blockieren zu können. Einer der Forscher äußerte sich dazu kürzlich in einem Interview dahingehend, dass er, bis es so weit sei, lieber nicht wissen möchte, welche ApoE-Variante er in sich trage.5
Das halte ich aus zweierlei Gründen für durchaus leichtsinnig, denn einerseits ist angesichts der vielfältigen essenziellen Funktionen von ApoE in unserem Körper anzunehmen, dass ein derartiges Medikament, wenn es denn tatsächlich auf den Markt kommt, mit hoher Wahrscheinlichkeit zahlreiche unerwünschte Wirkungen aufweisen wird, andererseits könnten Personen, die ihr genetisches Risiko kennen, frühzeitig durch eine geeignete Ernährung dem Risiko einer tatsächlichen Erkrankung substanziell entgegensteuern. Dennoch muss an dieser Stelle mit Nachdruck festgehalten werden, dass das routinemäßige Testen auf ein genetisches Risiko bei den meisten chronischen Erkrankungen nicht sinnvoll erscheint. Ich werde das gleich noch etwas genauer erläutern.
Eine effektive medikamentöse Behandlung, die in der Lage ist, das Fortschreiten der Alzheimer-Erkrankung zu verhindern, existiert bis heute nicht, da sich die Medikamentenentwicklung immer nur auf einen (bekannten) Aspekt der Erkrankung konzentriert. Hingegen mehren sich die wissenschaftlichen Publikationen zu einer effektiven Vorbeugung und Behandlung insbesondere der Frühstadien der Erkrankung durch eine Ernährung, die reich an pleiotropen (!), also vielfältig wirkenden pflanzlichen Polyphenolen ist.6