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Abwehr- und Schutzmechanismen

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Viele Symptome, aufgrund derer Patienten ärztliche Hilfe aufsuchen, sind gar nicht primär das Produkt einer spezifischen Krankheit, sondern vielmehr die Folge der Aktivierung von körperlichen, über lange evolutionäre Zeiträume entstandenen Abwehr- und Schutzmechanismen, die unser Überleben sicherstellen. Symptome wie Entzündung, Fieber, eine laufende Nase, Husten, Niesen, Erbrechen oder Durchfall sind die Manifestationen dieser Abwehrmechanismen im Falle einer Infektion oder der Exposition gegenüber einem Allergen. Diese extrem hilfreichen Abwehrmechanismen zu unterdrücken, um das damit verbundene Leiden zu lindern (was sehr häufig durch Medikamente geschieht), kann unter Umständen erhebliche Nachteile mit sich bringen.

Auf der anderen Seite können diese Abwehrmechanismen auch überschießend verlaufen und dann mit erhöhten gesundheitlichen (auch lebensbedrohlichen) »Kosten« für den Betroffenen verbunden sein. Ob überschießende Entzündungsreaktionen, zu hohes Fieber, Schlaf raubender Dauerhusten, übermäßiges Erbrechen oder schwerer andauernder Durchfall – im Fall einer überschießenden, dauerhaften Aktivierung können die Kosten der Abwehr- und Schutzmechanismen ihren Nutzen auch überwiegen und selbst zu Gesundheitsschäden führen. In derartigen Fällen sind unsere heutigen pharmakologischen Möglichkeiten zur Unterdrückung von Abwehr- und Schutzmechanismen ein wahrer Segen.

Auch hier gilt wieder, dass es kein »Gut« oder »Schlecht« gibt. Es ist die Balance all dieser Systeme, die uns den größten Gesundheitsvorteil verschafft. Ein Problem ergibt sich in der Praxis häufig daraus, dass sowohl den Ärzten als auch den Patienten ein individuelles Abwiegen zwischen Nutzen und Risiko im Sinne der Folgen einer medikamentösen Unterdrückung dieser Schutzmechanismen zukommt.

Da aber viele Schutzmechanismen relativ »günstig« und hilfreich sind, die Kosten bei einer Nichtauslösung aber durchaus hoch sein können, liegt die Auslöseschwelle für viele Schutzmechanismen durchaus niedrig und das ist meistens gut so. So stehen bei Verzehr einer giftigen Pflanze die geringen Kosten eines einmaligen Erbrechens den unter Umständen hohen Kosten einer potenziell tödlichen Vergiftung gegenüber. In diesem Zusammenhang hat sich auch der Begriff des »Rauchmelder-Prinzips« etabliert. Sind die »Kosten« für den einen oder anderen Fehlalarm geringer als die Kosten bei einem größeren eintretenden Schaden, lohnt es sich auch, bei geringer Wahrscheinlichkeit einer tatsächlichen Gefährdung zu reagieren.

Selbst bei psychischen Erkrankungen wie Angststörungen oder Phobien können wir aus evolutionärer Sicht teilweise auf das Rauchmelder-Prinzip als Erklärungsmodell zurückgreifen. Eine niederschwellige Auslösung einer Angst- und Fluchtreaktion (samt heftiger Adrenalinausschüttung) bei den geringsten Anzeichen einer Gefahr (ein Knacken im Unterholz oder der Anblick einer vermeintlichen Giftschlange) hat unseren Vorfahren mit Sicherheit mehr als einmal das Leben gerettet, auch wenn es sich häufig um Fehlalarme samt kurzer »Panikattacke« handelte. Der Nutzen überwog die Kosten bei Weitem. Fehlalarme sind bei Schutzmechanismen (wie bei echten Rauchmeldern) die Norm und werden aufgrund der geringen Kosten quasi akzeptiert.

Im Falle der überaus häufigen Angststörungen mit einem offenbar zu sensibel oder fehlerhaft eingestellten »Rauchmelder« überwiegen hingegen die Kosten den Nutzen und führen für die Betroffenen zu großem Leidensdruck und ernsthaften Problemen im Alltag. Eine mögliche Ursache für zu häufige Fehlalarme dürfte in einer Fehlfunktion von verschiedenen Neurotransmittern (Botenstoffe im Gehirn) liegen und möglicherweise auch mit einer Entzündung einhergehen. Beides Faktoren, die, wie ich später ausführen werde, mit unserem Darmtrakt in Verbindung stehen könnten.

Bei Betrachtung unseres Körpers aus evolutionsmedizinischer Sicht finden wir noch unzählige weitere Eigenschaften, die eine Kompromisslösung darstellen und uns auf diese Weise für viele Gebrechen und Krankheiten anfällig machen. Vermutlich sind, je nach Betrachtungswinkel, die meisten unserer körperlichen Eigenschaften bis zu einem gewissen Grad eine Kompromisslösung. Wir können diese unzähligen Trade-offs als Folge unserer Evolution aber nicht beseitigen, sie sind Teil unserer komplexen Körper geworden.

Auf der anderen Seite sind die erwähnten, durchaus anfälligen Systeme wunderbare, hochsensible sowie hochkomplexe Einrichtungen, die uns seit Jahrmillionen das tägliche Überleben garantieren. Sie sind vor allem dann für Fehlfunktionen anfällig, wenn es zu einer zunehmenden Diskrepanz zwischen unserem Lebensumfeld und der ursprünglichen Funktion dieser Systeme kommt. Derartige Diskrepanzen werden in der evolutionären Medizin als »Mismatch-Phänomene« bezeichnet.

Das unsichtbare Netz des Lebens

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