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Mismatch: die Ursache vieler Krankheitsbilder

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Eine Möglichkeit, ein besseres Verständnis für moderne Krankheitsbilder zu erhalten, besteht darin, zu verstehen, wie unsere Vorfahren gelebt haben könnten, durch evolutionäre Kräfte eine entsprechende genetische Ausstattung erworben haben und wie im Gegensatz dazu unsere moderne Lebenskultur mit unserem früheren Lebensstil zum Teil in erheblichen Konflikt geraten ist.

Angesichts der Tatsache, dass wir Menschen und unsere homininen Vorfahren mehr als 99 Prozent unserer Existenz als nomadisierende Jäger und Sammler gelebt und überlebt haben, können wir auf Basis gegenwärtiger wissenschaftlicher Erkenntnisse darauf schließen, dass die Selektion über derart viele Generationen dazu geführt hat, dass unsere Biologie und unser Stoffwechsel recht gut auf die körperliche Aktivität, Lebens- und Ernährungsweise der umherziehenden Jäger und Sammler abgestimmt sind.

Gerade wir Menschen haben aber in ziemlich kurzer Zeit (zumindest aus evolutionsbiologischer Sicht) unsere Lebensbedingungen und unsere Umgebung grundlegend verändert, auch wenn dies auf den ersten Blick nicht ohne Weiteres für jeden sofort erkennbar ist. Diese durchaus als fundamental zu bezeichnenden Veränderungen der nicht allzu fernen Vergangenheit umfassten vor allem die Folgen der landwirtschaftlichen Revolution (beginnend vor etwa 12 000 Jahren), der industriellen Revolution (vor ca. 200 Jahren) mit dem seither ungebremsten technischen Fortschritt (samt zahlreichen Nachteilen für die Umwelt) und zuletzt der digitalen Revolution (seit Ende des 20. Jahrhunderts), die uns zu einem vorwiegend sitzenden Lebensstil vor stets hell leuchtenden Bildschirmen in Form von Fernsehern und Computern »gezwungen« hat.

Jede einzelne dieser tiefgreifenden Veränderungen hat zu einer mehr oder minder zunehmend ausgeprägten Diskrepanz zwischen unserer ursprünglichen evolutionären Ausstattung und den neu geschaffenen Gegebenheiten geführt. Tatsächlich kann es aus biologischer Sicht für ein einigermaßen spezialisiertes Lebewesen extrem schwierig sein, sich unter mehr oder weniger abrupt ändernden Umweltbedingungen zurechtzufinden bzw. ein »artgerechtes« Leben zu führen.

Nun ist es zwar nicht so, dass sich unsere heutige Umwelt über Nacht schlagartig etabliert hat, sie unterscheidet sich aber doch beträchtlich von der vor 10 000 Jahren und den vielen Hunderttausenden Jahren davor. Probleme, die sich durch diese fehlende Übereinstimmung zwischen ursprünglicher Ausstattung und neuer Umwelt im weitesten Sinne ergeben, bezeichnet die evolutionäre Medizin als »Mismatch«, also als »Nichtübereinstimmung« bzw. »Inkongruenz«. Mismatch ist von dermaßen großer Bedeutung für das Verständnis von Gesundheit und Krankheit, dass meine Kollegen Peter Gluckman und Mark Manson ein ganzes Buch unter diesem Titel zu den damit verbundenen medizinischen Einsichten verfassten.10

Sind die konkreten Ursachen für eine Nichtübereinstimmung zwischen Lebensweise und der resultierenden Gesundheitsstörung einmal identifiziert, können entsprechende Gegenmaßnahmen und, noch viel wichtiger, entsprechende Präventionsmaßnahmen getroffen werden.

Wesentliche Veränderungen, die zu zahlreichen Mismatch-Phänomenen geführt haben, betreffen vor allem unsere Ernährungsgewohnheiten, unseren weitgehend inaktiven Lebensstil, die Verfügbarkeit von zahlreichen Medikamenten, moderne medizinische Eingriffe und Therapiemöglichkeiten, einen fehlenden Kontakt zu einer natürlichen, weil intakten Umwelt bzw. ein zunehmendes Verschwinden von naturbelassenen Habitaten, übertriebene Hygienemaßnahmen, Veränderungen in unserer Gesellschafts- und Familienstruktur, die Exposition gegenüber permanenter Information durch digitale Medien und vieles mehr. Während zwar der tatsächliche Beitrag dieser Veränderungen zu der einen oder anderen Krankheit nicht in absoluten Zahlen gemessen werden kann, so dürfte er, nach allem, was wir bisher wissen, beträchtlich sein und vor allem im Zusammenwirken all dieser Einflussgrößen liegen. Im Folgenden sei nur eine kleine Auswahl der auf Mismatch basierenden oder dadurch mitverursachten Krankheiten und Gesundheitsstörungen dargestellt.

Die Raten von kardiovaskulären Erkrankungen sind in unserer Gesellschaft vermutlich um eine Größenordnung höher als bei unseren paläolithischen Vorfahren, wie eine Untersuchung an dem weitgehend ursprünglich lebenden Volk der Tsimane aus dem bolivianischen Regenwald nahelegt.11

Gleiches gilt für die Rate an Brustkrebs. Übergewicht, Fettleibigkeit und Typ-2-Diabetes haben mittlerweile epidemische Ausmaße angenommen.12

Allergien aller Art, insbesondere bei Kindern, weisen einen exponentiellen Anstieg während der letzten Jahrzehnte auf.13

Über den Zeitraum der vergangenen 60 Jahre stieg die Allergiehäufigkeit in den westlichen Industriegesellschaften von zwei Prozent auf heute über 30 Prozent Betroffene in der Bevölkerung.

Ein Medikamentenmissbrauch (v. a. von psychoaktiven Substanzen) in gegenwärtigem Ausmaß war vor der noch nicht lange zurückliegenden Erfindung potenter pharmazeutischer Verbindungen kein gesellschaftliches Problem.14

Unterschiedliche Formen von Essstörungen sind ebenfalls ein neuzeitliches Phänomen und haben während der letzten Jahrzehnte zugenommen.15

Die gesundheitlichen Probleme, die aus der praktisch permanenten Nutzung digitaler Geräte wie Smartphones, Tablets oder Computern resultieren, sind ebenso vielfältig wie häufig. Die zunehmenden Gesundheitsprobleme sind hauptsächlich mit orthopädischen, visuellen (v. a. Kurzsichtigkeit) und psychosozialen Störungen verbunden.16

Zudem führt die vermehrte Nutzung zu chronischem Stress und körperlicher Inaktivität. Eine relativ rezente Umweltveränderung im Zuge der digitalen Revolution ist auch die über die natürliche Länge eines Tages hinausgehende Exposition gegenüber Licht mit einem beträchtlichen Blauanteil des Spektrums. Ein Umstand, der viele Menschen um einen erholsamen, gesundheitsfördernden Schlaf bringt und später noch ausführlich Betrachtung finden soll.17

Metabolische Störungen wie die nichtalkoholische Fettlebererkrankung, neurodegenerative Erkrankungen wie Demenzen und die Parkinson-Erkrankung sowie das große Feld der Autoimmunerkrankungen sind alle in hohem Maße auf eine Nichtübereinstimmung unseres Lebensstils (in einer zum Teil lebensfeindlichen Umwelt) mit unserer evolutionären Vergangenheit zurückzuführen.

Auch eine ganze Reihe moderner medizinischer Errungenschaften haben zu mehr oder weniger stark ausgeprägten Diskrepanzen in Wechselwirkung mit unserer Biologie geführt. So ist zum Beispiel die Exposition von Säuglingen gegenüber Milchersatznahrung als Austausch für Muttermilch ein klassischer evolutionärer Mismatch und wahrscheinlich mit einer erhöhten Rate an Fettleibigkeit und Typ-2-Diabetes im späteren Leben verbunden.18

Umgekehrt korreliert ausreichendes Stillen mit einem besseren Schutz vor Infektionen, weniger Gebissfehlstellungen und einer erhöhten Intelligenz der Kinder. Für stillende Frauen bietet das Stillen zudem einen erhöhten Schutz vor Brustkrebs und reduziert vermutlich auch das Risiko, an Eierstockkrebs und Typ-2-Diabetes zu erkranken.19 Nicht zu stillen, stellt also sowohl für das Kind als auch für die Mutter eine evolutionäre Diskrepanz im Sinne eines Mismatch dar.

Aus evolutionärer Sicht ist es auch nicht als »normal« anzusehen, dass wir in unseren Breiten 30 Prozent, in manchen Ländern sogar 55 Prozent der Kinder durch eine Kaiserschnittentbindung zur Welt bringen. Der Preis dafür: Eine nicht medizinisch notwendige Kaiserschnittentbindung könnte das Risiko für krankhaftes Übergewicht bei Kindern erhöhen.20 »Könnte« deshalb, weil hierzu derzeit eine zum Teil widersprüchliche Studienlage besteht.21

Was unsere körperliche Inaktivität betrifft, so ist die Mismatch-Situation schon auf den ersten Blick recht eindeutig. Nicht, dass unsere Vorfahren den ganzen Tag hindurch athletische Spitzenleistungen vollbracht haben. Eine gewisse »Muße-Präferenz« ist bei allen Menschen (und Tieren) festzustellen, denn mit den körperlichen Energiereserven maßvoll umzugehen, ist aus evolutionärer und physiologischer Sicht durchaus sinnvoll und vorteilhaft. Dennoch ist die menschliche Physiologie nicht gut an längere Inaktivitätsperioden (wie Sitzen während des ganzen Bürotages) angepasst, da die Sitzzeit das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und die damit verbundene Sterblichkeit deutlich erhöht.22

Auch hier treffen wir gewissermaßen eine Kompromisslösung an. Einerseits sind Gesundheitsrisiken z. B. für Herz-Kreislauf-Erkrankungen durch Sitzen im Allgemeinen mit einer Verringerung der Muskelkontraktionen und einer damit verbundenen Verringerung des Muskelstoffwechsels verbunden. Andererseits erscheinen diese mit Inaktivität verbundenen Gesundheitsrisiken auf den ersten Blick etwas paradox, da, wie bereits erwähnt, der evolutionäre Druck eigentlich dazu führen sollte, Strategien zur Minimierung der Energieausgaben zu bevorzugen.

Untersuchungen an dem Jäger- und Sammler-Volk der Hadza in Afrika haben vor Kurzem gezeigt, dass deren tägliches Inaktivitätsniveau durchaus mit dem von Menschen aus modernen Industrienationen vergleichbar ist. Allerdings, und hier liegt der gravierende Unterschied, verbringen sie erstens die restliche Zeit mit erheblich anstrengenderen körperlichen Tätigkeiten und zweitens besitzen sie keine Bürostühle oder andere Sessel. Denn selbst wenn sie sich in Ruhe befanden, verbrachten sie die »sitzende« Zeit sehr häufig in Körperhaltungen wie Hocken, die zu einer höheren Muskelaktivität in Ruhe führen als das Sitzen auf einem Stuhl. Vereinfacht kann man daraus ableiten, dass uns die Evolution nicht zu Büromenschen gemacht hat und dass auch Bürostühle und bequeme Fernsehsessel einen Mismatch darstellen, der auf lange Sicht seinen Gesundheitstribut fordert.23

Der Stamm der Hadza wird uns noch in zahlreichen Belangen dieses Buches öfters begegnen, wenn es darum geht, Einsichten zu unseren vermuteten früheren Lebensgewohnheiten als Jäger und Sammler zu erlangen.

Das unsichtbare Netz des Lebens

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